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© Promo

Mode aus Peru: ''Wir machen kein Geld, nur tolle Sachen''

Mit Misericordia hat der Franzose Aurelyen die einzige bekannte Modemarke aus Peru aufgebaut

„Meine Firma, meine Mitarbeiter, meine Maschinen.“ Aurelyen ist ein stolzer Firmenbesitzer. Gerade stickt sein computergesteuerter Automat bunte Motorradhelme auf einen glänzenden Jackenstoff. Unter jedem Helm stehen Namen wie Aurelyen, Carlos und Edwin. Carlos Montverde ist der Produktionsmanager und Edwin einer der Näher. Eine Maschine weiter näht er gerade ein T-Shirt mit eben diesem Motorradhelmmuster zusammen. Der ganze Kosmos der Modefirma Misericordia ist in einem unscheinbaren Haus in Lima untergebracht. Hier fertigen 32 Mitarbeiter mehr als 20 000 Kleidungsstücke im Jahr.

Misericordia liegt nicht in einem der feinen Innenstadtviertel der peruanischen Hauptstadt. Vorsichtshalber empfiehlt der Taxifahrer auf der Fahrt nach Lince, die Türen von innen zu verschließen. In der Calle Mariscal las Herras öffnet sich die Tür nur einen Spalt breit, um dann sofort wieder zuzufallen. Während der Überprüfung des Namens steht der Besucher auf der Straße und muss warten, ehe er in das Reich von Misericordia eingelassen wird. Im kleinen Vorhof hängen unter den Stoffpressen und dampfenden Bügelautomaten Blumentöpfe mit wuchernden Grünpflanzen. Drinnen stapeln sich Stoffballen bis unter die Decke. Aurelyen betrachtet sie und seufzt wie ein Vater, der seinen Kindern das verbotene Eis kauft: „Ich bestelle immer zu viel. Aber ich will eben, dass genug für alle da ist.“

In Peru ist der 34-jährige Franzose zu Aurelyen geworden, seinen Nachnamen hat er abgelegt wie ein lateinamerikanischer Fußballer. Ganz zufällig hat sich das mit Misericordia wohl nicht ergeben. Er war auf der Suche nach einem Projekt, in das er seine ganze Energie stecken konnte. Er hat viel ausprobiert, Mathematik und Kunst studiert, als Lehrer und als Assistent eines Künstlers gearbeitet, Architektur entworfen, Comics gezeichnet und die Welt bereist. 2002, auf einer Reise mit einem Freund durch Peru, fand er seine Lebensaufgabe ausgerechnet in einer von Nonnen geführten Schneiderschule in Zapallal. Aus der Schuluniform der „Nuestra Señora de la Misericordia“ machte er ein Modelabel. Hier, am Rande von Lima, wo sich Leute vom Land einfache Behausungen bauen, wo es kein Wasser, keinen Strom und keine richtigen Straßen gibt, ließ er die ersten Trainingsjacken und T-Shirts mit dem eingestickten Namen der Schule fertigen und nahm sie dann mit nach Paris.

Sie waren eine echte Alternative für all jene, die genug hatten von Sportbekleidung, deren Hersteller den Verdacht von Kinderarbeit nicht vollständig abschütteln konnten. Weil nicht nur die Idee, sondern auch das Produkt gut war, flog Aurelyen bald mit einem Stapel Aufträgen im Gepäck zurück nach Lateinamerika. Mithilfe seines roten Wörterbuchs hat er genügend Spanisch gelernt, um die staatlichen Gebühren in Peru auch unter der Hand bezahlen zu können. Außerdem weiß er jetzt, was es heißt, für etwas verantwortlich zu sein. „Alle denken: Toll, er ist der Boss. Aber es ist wirklich nicht einfach.“ Er schaut prüfend über den Rand seiner Nickelbrille, als wolle er sich vergewissern, ob der Besuch das auch richtig verstanden hat. „Was ich hier mache, ist totaler Irrsinn.“ Deshalb freut er sich auch so, wenn jemand aus Europa vorbeikommt, um sich anzuschauen, dass es Misericordia wirklich gibt.

Aurelyens Firma ist die einzige weltweit bekannte Modemarke aus Peru – nur daheim im Herstellungsland hat noch nie jemand davon gehört. Daran will der Gringo, wie er sich selbst nennt, auch gar nichts ändern. „Wir sind zu teuer für Peru. Hier ist zwar nicht Kolumbien, aber berühmt zu werden ist trotzdem gefährlich.“ Er will sich frei bewegen können und keine Angst haben, auf der Straße entführt zu werden. Dabei ist bei ihm nichts zu holen: „Wir machen kein Geld, nur tolle Sachen.“

Wenn Aurelyen könnte, würde er auch noch Baumwolle anpflanzen und seine Materialien selbst herstellen: „Das Einzige, was wir nicht machen, ist der Stoff.“ Er bedauert das – aber immerhin kommen 95 Prozent seiner Stoffe aus Peru.

Das Misericordia-Team arbeitet an seiner Unabhängigkeit – gerade haben sie sich zwei mechanische Strickmaschinen gekauft. Zwei Männer stricken Bündchen für die Trainingsjacken und zum ersten Mal auch ganze Pullover und Strickjacken – für die Sommerkollektion. Die Prototypen holt Aurelyen aus einer Kiste und schaut sich Lob heischend um. Er weiß: Die Kleider von Misericordia sind gut. Aber es schadet nichts, wenn seine Besucher das ab und zu auch sagen.

Misericordia wird gern als Paradebeispiel einer Firma von Gutmenschen genannt. Da tut jemand etwas gegen die Armut und für gute Arbeitsbedingungen in einem armen Land. Mehr als die Hälfte der 28 Millionen Peruaner muss von weniger als zwei Dollar am Tag leben. Aurelyen will, dass seine Mitarbeiter lange bei ihm bleiben wie eine große Familie. Er weiß aber auch, dass sie nach ein paar Jahren so gut qualifiziert sind, dass sie gute Chancen hätten, woanders zu arbeiten – allerdings in Europa. In Peru gibt es in der Branche keine vergleichbaren Arbeitsplätze. Misericordia ist eine Enklave der Glückseligkeit unter europäischen Bedingungen.

Noch gibt es von Misericordia vor allem Oberteile zu den T-Shirts und Trainingsjacken. Dazu sind gestrickte Pullover und aufwendig drapierte und in Falten gelegte Jerseyhemden und -kleider gekommen. Verarbeitung und Stoffe sind solide, liebevoll gemacht und alltagstauglich. Aussagekräftig werden die T-Shirts durch die Aufdrucke. Da ist zum Beispiel Südamerika von Mexiko bis hinunter zu den Falklandinseln als ein großer Staat abgebildet, auf dem steht: „Nacido en los Estados Unidos de America Latina“, übersetzt: „Geboren in den Vereinigten Staaten von Lateinamerika.“ Oder das zerbeulte Gesicht eines Boxers mit der Aufschrift „La Vida“. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Aber der Franzose hat den Boxring gefunden, in dem er seinen Kampf gewinnen will: „Ich habe die Mode gewählt – also das Schlimmste.“ Sagt es und strahlt dabei, als wisse er nicht, was er tut. Grit Thönnissen

Aurelyen freut sich immer über einen Besuch in der 658 Calle Mariscal las Herras in Lima. Wem das zu weit weg ist, der kann sich die Kleidung im Internet anschauen: www.misionmisericordia.com

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