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Protest in Berlin

© Nassim Rad/Tagesspiegel

„Wir müssen ihre Stimme sein”: Der bange Blick aus Berlin nach Iran

Niloufar O. lebt in Berlin-Reinickendorf und hat iranische Wurzeln. Hier spricht sie über die seit zwei Monaten anhaltenden Proteste im Land.

Niloufar O. ist Expertin für Medien und Kommunikation, lebt seit über 20 Jahren in Berlin und ist seit einigen Jahren Nord-Reinickendorferin. Den Bezirk habe die 43 Jahre alte Mutter von zwei Kindern hingegen gemeinsam mit ihrer Familie entdeckt, als sie in Kreuzberg die Sehnsucht nach Ruhe und Natur befiel. Darüber berichtet jetzt der aktuelle Tagesspiegel-Newsletter für Reinickendorf, den es in voller Länge und kostenlos hier gibt: tagesspiegel.de/bezirke.

Früher arbeitete Niloufar als Musikjournalistin, betrieb einen Blog. Dann verschlug es sie in die Medienpädagogik. „Dafür habe ich mich bewusst entschieden, weil ich einerseits lokal und andererseits in der Jugendarbeit tätig werden wollte.”

Niloufars Wurzeln liegen im Iran. Seit dem 16. September gehen in dem vorderasiatischen Land täglich Menschen auf die Straße, um gegen das autoritäre Regime zu demonstrieren - und riskieren dabei ihr Leben.

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Menschen sind im Iran bisher getötet worden

Auslöser für die Protestwelle war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini. Die junge Frau starb in Polizeigewahrsam, nachdem die sogenannte Sittenpolizei sie in der iranischen Hauptstadt Teheran für das „nicht ordnungsgemäße” Tragen ihres Hijab-Kopftuchs verhaftete. Laut der Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHR) sind bislang 416 Menschen - davon 51 Kinder - bei den aktuellen Protesten in dem islamischen Staat getötet worden. Mehr als 15.000 Iraner:innen sollen verhaftet worden sein, die Dunkelziffer ist höher.

Die 43-jährige Niloufar O. ist Expertin für Medien und Kommunikation und Reinickendorferin mit iranischen Wurzeln.
Die 43-jährige Niloufar O. ist Expertin für Medien und Kommunikation und Reinickendorferin mit iranischen Wurzeln.

© Lisa Erzsa Weil

Niloufar selbst ist im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Zu ihrer eigenen Sicherheit möchte sie nicht konkreter werden – wie viele Menschen, die Teil der iranischen Diaspora sind, fürchtet auch sie direkte oder indirekte Repressionen durch das iranische Regime. „Daran sieht man, wie weit der Arm der Regierung reicht. Es ist perfide”, sagt Niloufar.

Seit Ausbruch der aktuellen Protestwelle, die viele Iraner:innen als Revolution bezeichnen, verfolgt auch sie das Geschehen täglich, in erster Linie über die sozialen Medien. „Als es losging, war mir noch nicht bewusst, wie groß das Ganze werden würde”, erinnert sich die Reinickendorferin.

Viele Menschen vor Ort nutzen verschlüsselte Kommunikationswege, um Fotos, Videos und Berichte von der Situation im Iran ins Ausland zu übermitteln. „Die Generation, die jetzt dort auf der Straße ist, ist mit dem Internet aufgewachsen”, weiß Niloufar.

Obwohl das Regime im Iran seit über 40 Jahren autokratisch regiert und die sozialen Medien und die Presse kontrolliert, wüssten die Menschen vor Ort, wie man diese Hindernisse umgehen könnte. „Sie sind jung, schlau und gebildet”, beschreibt die Medienexpertin die gerade protestierenden Iraner:innen. „Bei der Bewegung denke ich, das könnten meine Kinder sein.”

Die Menschen haben keine Rechte. Und echte Reformen kann es mit dieser Regierung nicht geben.

Niloufar O.

Gegen viele der jungen Menschen, darunter Schülerinnen und Schüler, die für ihre Freiheitsrechte auf die Straße gehen, wird unerbittlich Gewalt angewendet. Zuletzt erregte mitunter der Fall des 10-jährigen Kian Pirfalak Aufmerksamkeit, der im Südwesten des Irans von Sicherheitskräften getötet worden sein soll. „Eine ganze Generation wird versucht, aus dem Weg zu räumen, sie wegzusperren”, sagt Niloufar. „Die Menschen haben keine Rechte. Und echte Reformen kann es mit dieser Regierung nicht geben.”

Allen voran sind es Frauen und Mädchen, die protestieren – sie leiden unter der vorherrschenden Geschlechter-Apartheid, die es beispielsweise schon verbietet, dass männliche und weibliche Studierende gemeinsam in der Mensa zu Mittag essen.

„Natürlich kämpfen auch wir hier in Deutschland für Gleichberechtigung, aber das, was im Iran geschieht, hat nochmal ganz andere Dimensionen”, findet Niloufar. Noch härter träfe es queere und transidente Menschen. Viele von ihnen sind deshalb bereits in den vergangenen Jahren aus dem Iran geflüchtet – auch nach Berlin. 

Wenn wir wegschauen, ist das ein Schandfleck in der Menschheitsgeschichte.

Niloufar O.

Bei uns in der Hauptstadt gab es nach Ausbruch der Protestwelle Großdemonstrationen, um den Menschen im Iran Solidarität zu bekunden. Auch Niloufar war vor Ort. „Das war schon unglaublich. Ich habe erst später verstanden, wie viele Menschen gekommen sind, sogar aus anderen Ländern, denn wenn man in der Menge ist, sieht man ja nicht, wie viele vor und hinter einem laufen.”

In Berlin gäbe es eine große Community von Iraner:innen, viele von ihnen seien in Kunst und Kultur tätig. Das, was die Menschen im Iran auf die Straße führt, ist für sie nicht erst jetzt Realität, sagt Niloufar. „Es zieht sich durch.” Und so haben die Iraner:innen auch schon lange Wege gefunden, das restriktive System zu umgehen. Niloufar erzählt von einer Frau, die als Pole-Dancerin anderen Frauen Tanzkurse gibt – im Untergrund, versteht sich.

Diese Frau habe ihr auch erzählt, wie schwierig der Alltag mittlerweile geworden sei. Die Sittenpolizei trage teils ihre Uniformen nicht mehr und patrouilliere in Zivil. “Man weiß nicht mehr, ob der Nachbar einem gleich ein Messer in den Bauch rammt”, beschreibt die Reinickendorferin die Ungewissheit.

Über die sozialen Medien ist Niloufar mit weiteren Iraner:innen in Kontakt. Sie liest mir die Nachricht einer Iranerin vor, die sie vor unserem Interview fragte, wie die Situation vor Ort sei. „Wo soll ich anfangen. Gestern beispielsweise waren wir auf der Straße, dann sind sie uns gefolgt. Sie haben unsere Tür eingeschlagen, den Garten verwüstet, alles demoliert, einfach so”, übersetzt Niloufar die Nachricht und pausiert.

Angesichts all der Gewalt, all der Morde frage sie sich, was sie von hier aus tun könne. Dieses Interview sei für sie ein Lichtblick, denn: „Was die Menschen dort jetzt brauchen, ist, dass wir unsere Privilegien hier nutzen. Wir müssen ihre Stimme sein.”

Niloufars Wunsch ist, dass all die Menschen, die gestorben sind, die Kinder, die nicht die Chance hatten, ihr Leben zu leben, die Mädchen, die vergewaltigt wurden, dass sie nicht vergessen werden. „Wenn wir wegschauen, ist das ein Schandfleck in der Menschheitsgeschichte. Egal, ob wir Deutsche oder Iraner sind.”



Hier die Themen aus dem aktuellen Tagesspiegel-Newsletter für Reinickendorf

Immer mittwochs erscheint der Tagesspiegel-Newsletter für Reinickendorf. Den gibt es in voller Länge, einmal pro Woche mit vielen konkreten Bezirksnews, Tipps, Terminen unter tagesspiegel.de/bezirke. Und diesmal berichtet Lisa Erzsa Weil unter anderem über diese Themen:

  • Bezirksbürgermeister Uwe Brockhausen (SPD) zur Wiederholungswahl: Wie bereitet sich der Bezirk auf die Wahlwiederholung vor? Welche Themen werden im Wahlkampf wichtig? Könnte es neue politische Konstellationen geben?
  • Entsiegelungsvorhaben und Stadtverschönerung: Diese Projekte stehen in Reinickendorf an.
  • Feuer in Flüchtlingsunterkunft im Märkischen Viertel: Polizei geht von fahrlässiger Brandstiftung aus.
  • Rollbergesiedlung in Waidmannslust: 2023 kommt das neue Stadtteilzentrum.
  • Im Ernst-Reuter-Saal wird’s spannend: Die Reinickendorfer Kriminacht naht.
  • Grün, grün, grün sind alle meine Kleider: Kleidertausch im Kinder- und Jugendclub Quäx.
  • „Rock den Fuchs”: Newcomer-Festival geht in die zweite Runde.
  • Szenische Lesung in der Humboldt-Bibliothek: „Caroline und Wilhelm von Humboldt - ihre Beziehung und ihre Briefe“
  • Mein Tipp: Käsefondue und Adventsbasar im Ars Vini
  • Sport: Füchse gewinnen gegen HC Eurofarm Pelister

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