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Die Stadt zu Füßen. Blick vom Denkmal auf dem Kreuzberg in Richtung Norden.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo die Gipfel Ohren haben

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 46: Kreuzberg.

An einem kalten Wintermorgen stieg ich auf den Kreuzberg. Silvester-Konfetti und zerbrochenes Glas bedeckten immer noch die Stufen des Schinkel-Denkmals auf dem Gipfel. Ich blieb dort oben, bis die Sonne am Südwestrand des Viktoriaparks versank, und belauschte, was die Menschen so reden, wenn sie vom Kreuzberg hinab auf Kreuzberg blicken.

„Sag mal, ich hab Stefanie so lange nicht gesehen“, hörte ich eine junge Frau sagen. „Die ist nach Marzahn gezogen“, antwortete eine zweite. „Marzahn?“, fragte ungläubig die erste. Stumm blickten die beiden über die Kreuzberger Dächer hinweg nach Nordosten, ungefähr in Richtung Marzahn. „Sag mal“, fragte nach einer Weile die erste, „meinst du, irgendwann wohnen wir alle in Marzahn?“

„Heeeeey, lange nicht gesehen“, rief ein Mann um die 40 einem gleichaltrigen Paar zu. „Stimmt“, lautete die Antwort, „wir sind selten hier, seit wir nach Wedding gezogen sind.“ Der Mann nickte nachdenklich. „Habt nicht viel verpasst“, sagte er. „Hier machen gerade die ganzen alten Läden zu.“ Er murmelte ein paar Bar-Namen, die ich nicht verstand: „Das *Gemurmel* ist weg, das *Gemurmel* auch, als nächstes soll das *Gemurmel* dichtmachen. Nur das *Gemurmel* ist noch offen, aber da sind inzwischen ganz komische Leute.“ Seine Freunde lauschten stumm. „Armes Kreuzberg, ey“, sagten sie dann. „Voll“, erwiderte der Mann. „Mal sehen, wie lange ich noch hier bleibe.“

"Hier ein Kreuz, da ein Berg – Kreuzberg. Voll einfallslos"

„Jetzt versteh ich das endlich mal mit Kreuzberg“, hörte ich eine junge Frau mit Harry-Potter-Brille sagen. „Hier ein Kreuz, da ein Berg, alles klar, Kreuzberg. Voll einfallslos. Da fragt man sich, wie die Leute früher auf so Namen wie Wedding gekommen sind.“

„Schmuddelwetter“, schimpfte eine ältere Dame. „Passt doch“, erwiderte ihr Mann: „Schmuddelwetter in der Schmuddelhauptstadt.“ Die Dame rollte mit den Augen. „DU wolltest doch nach Berlin!“

Von einem Gespräch zweier Herren um die 50 verstand ich nur einen Satz: „Wenn man so lange hier lebt wie wir, sieht man irgendwann die Romantik nicht mehr.“

„Sag mal, ist das 'ne Moschee dahinten?“ – „Nein, ’ne Sternwarte.“ – „Quatsch, das ist der Tower vom Flughafen Tempelhof.“

"Der Stefan hat jetzt eine von diesen Dachterrassen"

„Guck mal, bis Leipzig sind’s 1813 Kilometer.“ – „Nee, das ist ’ne Jahreszahl, da war der Krieg gegen Napoleon.“ – „Der war in Leipzig? Wieso steht das Denkmal dann hier?“

„Der Stefan hat jetzt eine von diesen Dachterrassen dahinten.“ – „Ausgerechnet der, ey! So ’n Typ, der das überhaupt nicht zu würdigen weiß!“ – „Ich glaube, der schätzt das schon.“ – „Schätzen vielleicht, aber würdigen nicht!“

„So you're going to work in Brussels?“ – „I’m thinking about it. I mean, the good thing is, it’s not that far away from Berlin.“

Trump, Airbnb, der Wedding, die AfD

Themen, die in den mitgehörten Kreuzberg-Konversationen mehr als einmal auftauchten, sortiert nach Häufigkeit: Immobilien-Mietpreise; die Gemeinheit der Männer; Immobilien-Kaufpreise; die Launen der Frauen; Bio-Lebensmittel; Trump; Airbnb; der Wedding; die AfD; die Vor- und Nachteile von Kinderimpfungen.

„Sag mal“, hörte ich einen bulligen Zwei-Meter-Mann fragen, kurz bevor ich den Kreuzberg fluchtartig verließ, „kann es sein, dass der Typ da uns belauscht?“

Fläche: 10,4 km² (Platz 32 von 96)
Einwohner: 153 887 (Platz 3 von 96)
Durchschnittsalter: 38,2 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Rio Reiser (Musiker), Herr Lehmann (Romanfigur)
Gefühlte Mitte: Prinzenbad
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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