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Yehuda Teichtals Vision für Berlin 2030: „Jedes Lächeln, jede gute Tat, jede ausgestreckte Hand zählt“
Berliner Jüdinnen und Juden sind mit zunehmend aggressivem Antisemitismus konfrontiert. Deswegen appelliert der Rabbiner an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen und fordert einen Tag der Bildung.
Wir erleben im Berlin des Jahres 2025 viele Herausforderungen. Wie könnte Berlin 2030 aussehen? Diese Frage wird in der jüdischen Gemeinschaft viel diskutiert.
Dabei beziehen wir uns auf unsere Tora, die eine Literatur der Hoffnung ist. Darauf hat der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hingewiesen. Zugleich machte er den Unterschied zwischen Optimismus und Hoffnung deutlich. Optimismus ist der Glaube, dass sich die Welt zum Besseren verändert; Hoffnung ist der Glaube, dass wir gemeinsam die Welt verbessern können.
Wie erleben wir also Berlin 2025 und welche Hoffnung können wir mit Blick auf Berlin 2030 haben? Da denke ich an eine weitere jüdische Weisheit: „Ein kleines Licht vertreibt viel Dunkelheit.“ Diese Worte tragen eine tiefe Wahrheit in sich. Dunkelheit kann bedrückend sein. Sie kann übermächtig erscheinen und alles zu verschlingen drohen. Doch das kleinste Licht hat die Kraft, sie zu vertreiben.
Licht, Hoffnung, Menschlichkeit
Meine Großmutter, eine Überlebende des Holocausts, fand sich nach dem Krieg in einer Wohnung wieder, die einst jenen gehörte, die ihr Volk vernichten wollten. Als Kind stellte ich mir ihre Verfolger als kalte, gesichtslose Gestalten vor – reine Dunkelheit. Doch sie lehrte mich etwas anderes: Dunkelheit ist nicht von sich aus mächtig – sie ist nur die Abwesenheit von Licht. Und wo Licht ist, hat die Dunkelheit keinen Bestand.
Sie erzählte uns eine Geschichte, die dies verdeutlichte: Eine Familie hatte über 35 Jahre hinweg ein Unternehmen aufgebaut und stand nun vor der Entscheidung, welches ihrer drei Kinder es weiterführen sollte. Sie stellten eine Aufgabe: „Wir haben eine große, leere Lagerhalle – tausend Quadratmeter. Füllt diesen Raum aus und zeigt uns, wer am besten geeignet ist, unser Werk fortzusetzen.“
Das erste Kind sagte: „Ich brauche eine Woche.“ Eine Woche später war die Halle randvoll – aber nur mit leeren Flaschen. Sie war gefüllt, doch ohne Wert. Das zweite Kind übernahm die Herausforderung: „Ich schaffe es in drei Tagen.“ Drei Tage später war die Halle wieder voll – diesmal mit zusammengeknülltem Abfall. Es war schneller, effizienter, aber immer noch wertlos. Dann kam das dritte Kind. „Gebt mir einen Tag.“ Die Eltern waren skeptisch, doch nach 24 Stunden kehrten sie zurück – und was sie sahen, war kein Raum voller Gegenstände, sondern ein Raum voller Licht. Hunderte von kleinen Lampen leuchteten und verwandelten die leere Halle in einen warmen, strahlenden Ort. Die Botschaft war klar: Es geht nicht darum, eine Leere mit irgendetwas zu füllen. Es geht darum, etwas von Bedeutung hineinzubringen. Licht, Hoffnung, Menschlichkeit.
Doch die Dunkelheit ist nicht nur eine Metapher. Sie steckt in den Fundamenten der Gesellschaft, in kaputten Strukturen, in den Herausforderungen, mit denen wir täglich konfrontiert sind. Sie zeigt sich in einem Land, das mit Unsicherheit kämpft, in Systemen, die nicht mehr funktionieren, in einer Welt, die manchmal kalt und unbarmherzig wirkt.
Wir sehen sie in der Spaltung unserer Gesellschaft, in den Ängsten der Menschen, in den Schwierigkeiten, denen Familien, Unternehmen und ganze Gemeinden gegenüberstehen. Die Infrastruktur unserer Städte bröckelt, politische Unsicherheiten lasten auf uns und viele haben das Vertrauen in eine bessere Zukunft verloren.
Aber wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen uns nicht von der Dunkelheit definieren lassen.
Wir müssen das Licht sein
Heute stehen wir an einem Wendepunkt. Es reicht nicht, zu überleben – wir müssen triumphieren. Wir müssen zu einem Leuchtturm werden, zu einer Strahlkraft, die Hoffnung gibt. Ja, die Herausforderungen sind real. Ja, wir haben erst die Hälfte des Weges hinter uns. Und ja, das Böse ist intelligent und raffiniert.
Aber das darf uns nicht bestimmen. Unsere Aufgabe ist es, der Welt zu zeigen, was wir sein können. Wir sind Botschafter – nicht nur für uns selbst, sondern für die Menschheit. Botschafter, die eine neue Botschaft hinaustragen: Hoffnung, Zusammenhalt, Verantwortung füreinander. Wir können die Welt nur verändern, wenn wir anfangen, Brücken zu bauen – zwischen Nationen, zwischen Kulturen, zwischen Generationen. Die Welt braucht heute mehr denn je Menschen, die mutig genug sind, Gutes zu tun, auch wenn es schwerfällt.
Wir dürfen nicht nur kaputte Systeme reparieren – wir müssen auch uns selbst erneuern. Wir müssen die Schönheit der Welt erkennen, die Größe des Universums, die Bedeutung von Mitgefühl. Und wir müssen hinausgehen und diese Liebe teilen – in konkreten Taten, mit aufrichtiger Freundlichkeit. Denn ist das nicht die Gesellschaft, die wir aufbauen wollen?
Heute sind wir dazu berufen, genau das zu tun. Es gibt Herausforderungen, ja. Es gibt Schwierigkeiten, ja.
Geht hinaus! Berührt die Welt! Bewegt die Menschen!
Heute im Jahr 2025 sind wir Jüdinnen und Juden in Berlin mit zunehmend aggressiverem Antisemitismus konfrontiert. Der Senat und die Bezirke, die Polizei und die Justiz tun vieles, um Judenhass zu bekämpfen. Wir hoffen und sind zuversichtlich, dass mit G-ttes Hilfe auch im Jahr 2030 diese Unterstützung der Behörden und der Öffentlichkeit weiterhin das wachsende jüdische Leben in dieser Stadt möglich macht.
Aber wir lassen uns nicht von denen definieren, die uns klein halten wollen. Wir bestimmen selbst, wer wir sind. Wir werden ein Licht für die Welt sein. Jeder Einzelne von uns kann die Welt verändern. Geht hinaus! Berührt die Welt! Bewegt die Menschen! Ja, wir können die Welt erschüttern – nicht mit Gewalt, sondern mit Güte. Schritt für Schritt. Das ist mein Wunsch.
Von den Veteranen bis zu den Fachkräften, von den jungen Menschen bis zu den Entscheidungsträgern – wir alle tragen Verantwortung. Wir dürfen nicht nur darauf warten, dass sich etwas ändert. Wir müssen Brücken bauen. Wir müssen durch unser Handeln zeigen, was Menschlichkeit bedeutet. Wir müssen erkennen, dass unsere Taten nicht nur für uns selbst zählen, sondern für die kommenden Generationen. Jedes Lächeln, jede gute Tat, jede ausgestreckte Hand zählt.
Doch dieser Wandel beginnt nicht erst morgen – er beginnt heute. Und er beginnt mit Bildung – nicht Bildung im engen Sinne von Wissen und Fakten, sondern eine Bildung der Werte. Eine Bildung, die lehrt, wie wichtig Mitgefühl, Zusammenhalt und Verantwortung sind.
Deshalb rufe ich heute dazu auf, einen Tag der Bildung zu schaffen.
Einen Tag, an dem wir uns bewusst darauf konzentrieren, wer wir sind und wer wir sein können. Einen Tag, an dem wir uns neu ausrichten und erkennen, dass wir für das Gute verantwortlich sind.
Lasst uns die Welt verändern. Lasst uns sie zu einer besseren machen. Lasst uns füreinander da sein. Jeder kann Botschafter für eine bessere Welt sein. Jeder kann einen Unterschied machen. Das ist meine Hoffnung und meine Vision für Berlin 2030.
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