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Klassenarbeit statt Prüfung, lautet das Programm der Zehntklässler in Berlin.

© Armin Weigel/dpa

Update

Schulabschluss „light“ in Berlin: Zentrale Prüfungen der Zehntklässler entfallen abermals

Aufgaben sollen als Klassenarbeiten bewertet werden. Schulleitungsverband spricht von der "unsinnigsten" Lösung. Die IHK hingegen würdigt "guten Kompromiss".

Stand:

Die Prüfungen der Zehntklässler werden zum dritten Mal ausgesetzt. Wie die Bildungsverwaltung mitteilte, reichen zum Erwerb der Berufsbildungsreife sowie des Mittleren Schulabschlusses (MSA) abermals die Jahrgangsnoten der zehnten Klasse sowie die Präsentationsprüfung.

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Die Prüfungsaufgaben sollen den Angaben zufolge allerdings im Rahmen einer normalen Klassenarbeit absolviert und als solche auch gewertet werden. Die Industrie- und Handelskammer nannte das Vorhaben am Donnerstag einen "guten Kompromiss".

Hingegen hatten Schulleitungsverbände im Vorfeld davor gewarnt, die Hürde für den Übergang ins Berufsleben oder in die gymnasiale Oberstufe abermals abzusenken. Auch die Bildungsverwaltung selbst hatte vor, die Prüfungen anzusetzen – wenn auch unter erleichterten Bedingungen mit weniger Themen und mehr Zeit sowie unter Wegfall der Sprechfertigkeitsprüfung.

Sie konnten sich aber nicht durchsetzen, weil die gewählten Vertretungen der Eltern- und Schülerschaft sowie die Bildungspolitiker der Koalition im Abgeordnetenhaus andere Voten dagegen setzten.

Umgehende Kritik von Schulleitungen

Als am Dienstagabend die Neuregelung bekannt geworden war, folgte die vernichtende Kritik auf dem Fuß: „Die jetzt getroffene Lösung bedeutet für die Schulen maximalen Aufwand mit geringstmöglichem Effekt.

Eine Standardsicherung sei mit der Verrechnung von Prüfungsaufgaben als Klassenarbeiten „nur als illusorisch zu bezeichnen“, lautete die Einschätzung von Sven Zimmerschied, der die Vereinigung der Sekundarschulleitungen (BISSS) vertritt.

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Die BISSS hatte das Festhalten an den Prüfungen gefordert – allerdings unter Berücksichtigung der Pandemie. Der Kompromissvorschlag lautete, die Noten aus der zehnten Klasse mit denen der Prüfungen zusammenzuziehen. In diesem Fall hätten die Prüfungen etwa 40 Prozent der Note ausgemacht – so wie in Brandenburg, rechnet Zimmerschied vor.

Stattdessen flössen sie beim neuen Modell der Bildungsverwaltung nur zu zehn Prozent ein. Er nannte die Neuregelung am Abend „die unsinnigste und ineffektivste, die getroffen werden konnte“.

Abgeordnete versus Schulleitungen

Es sei aus Sicht der BISSS „unbegreiflich, dass die Ansichten einiger weniger Mitglieder des Abgeordnetenhauses, die im Gegensatz zu den Ansichten des Großteils aller Experten:innen stehen, in der momentanen politischen Landschaft Vorrang hat“, formulierte Zimmerschied, nachdem alle Schulen die neuen Informationen am Dienstagabend zugeschickt bekommen hatten.

Die übrige Öffentlichkeit sollte erst am Mittwochmorgen benachrichtigt werden. Zimmerschied sorgte für rasche Verbreitung der neuen Informationen an der Charlottenburger Friedensburg-Schule, indem er die Neuigkeiten für seine Schule sofort auf die Webside stellte.

Wie aber lautet die Neuregelung konkret? „Anstelle der drei schriftlichen Prüfungen werden in den drei Fächern Deutsch, Mathematik und erster Fremdsprache schriftliche Lernerfolgskontrollen mit zentralen Aufgaben (LEKzA) geschrieben“, heißt es in der Information der Bildungsverwaltung an die Schulen. Die Ergebnisse gehen dann wie Klassenarbeiten als Leistungen in die Jahrgangsnoten ein. Im Unterschied zu normalen Klassenarbeiten sei die Teilnahme allerdings nicht verzichtbar, sondern Voraussetzung für die Jahrgangsnote.

Ähnlich ist die Regelung für die einfache Berufsbildungsreife (früher: Hauptschulabschluss): Anstelle der vergleichenden Arbeiten in Deutsch und Mathematik werden in diesem Jahr ebenfalls Lernerfolgskontrollen mit zentralen Aufgaben in der Jahrgangsstufe 9 geschrieben und gehen wie eine Klassenarbeit in die schriftlichen Leistungen ein, heißt es im Schreiben an die Schulen.

In Brandenburg werden die Prüfungen stärker bewertet

Genau das sollte nicht geschehen, wenn es nach der Vereinigung der Berufsschulleitungen (BBB) und der BISSS gegangen wäre. Die BISSS hatte daher in der Vorwoche eine Umfrage veröffentlicht, wonach sich von ihren Mitgliedern in einer Schnellabfrage 85 Prozent für die schriftlichen Prüfungen in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache ausgesprochen hatten. Als Kompromiss schlugen sie aber vor, die Prüfungsergebnisse wie in Brandenburg mit den Jahrgangsnoten zu verrechnen. Sie sollten aber, wie oben beschrieben, zu 40 Prozent in die Endnote einfließen.

Die Länder sind frei bei der Gestaltung des Mittleren Schulabschlusses.

© Peter Kneffel/dpa

Den Berufsschulen ging dieser Kompromiss zu weit. Sie wollten eine separate Bewertung der Prüfungen, um eine echte Hürde einzubauen: „Ohne schriftliche Prüfungen verliert der MSA seine wichtige Funktion als Steuerungsinstrument und Instrument der Qualitätssicherung“, hatte der BBB-Vorsitzende Ronald Rahmig gewarnt und auf die MSA-Ergebnisse 2020 und 2021 verwiesen, als sich die Durchfallquote halbiert hatte.

In beiden Jahren war der MSA einzig und allein über die Präsentationsprüfung vergeben worden. Für diese Absenkung der Mindestanforderungen hätten viele Schülerinnen und Schüler einen hohen Preis bezahlt, meint Rahmig. Der „MSA light“ habe viele Schülerinnen und Schüler „fälschlicherweise“ ermutigt, sich für Ausbildungsberufe und Bildungsgänge zu entscheiden, für die sie nicht die notwendige Eignung mitbrachten.

Rahmig nennt die Folgen „verheerend“: In der dualen Ausbildung seien in der Probezeit deutlich mehr Ausbildungsverträge aufgelöst als in früheren Jahren. Viele Betriebe hätte feststellen müssen, dass ihre Azubis zwar formal den MSA hatten, aber nicht die Kompetenzen aufwiesen, die der MSA bescheinigt.

"Der Kompass geht verloren," lautet die Mahnung

Auch in den vollschulischen Bildungsgängen seien die Abbruchquoten 2020 und 2021 massiv angestiegen. Viele Schülerinnen und Schüler mit Zugangsberechtigung zum beruflichen Gymnasium (MSA plus) hätten in der Einführungsphase „bereits nach wenigen Monaten das Handtuch geworfen und sich abgemeldet, als ihnen die riesige Kluft zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung bewusst geworden ist“, zitiert Rahmig entsprechende Beobachtungen. Das gelte in gleichem Maße für andere vollschulische Bildungsgänge wie Berufsfachschule und Fachoberschule.

Damit der MSA wieder als „Kompass“ für die Berufs- und Studienorientierung fungieren könne, müsse der Prüfungsteil gesondert ausgewiesen werden. Ein Verrechnen mit den Jahrgangsnoten „unterminiere“ diese Funktion und „vernebele“ den Leistungs- und Kompetenzstand der Schülerinnen und Schüler, so der BBB-Vorsitzende, der das Oberstufenzentrum für das KFZ-Wesen leitet.

Dem halten Elter und Schüler - wie schon 2020 - entgegen, dass die belastende Coronalage keine Prüfungssituation vertrage.

Die IHK betont, dass sich die Bildung der Ausbildungsreife nicht an einer Prüfung am Ende Schulzeit entscheide, sondern "an der langfristig gelingenden Wissensvermittlung und -aufnahme". Aktuell seien aber Prüfungen für viele Schüler ein wichtiger Anreiz Lernstoff zu bewältigen. Deshalb seien die Lernerfolgskontrollen mit zentralen Aufgaben "ein guter Kompromiss zwischen Pandemiebewältigung, Bildungsgerechtigkeit und den Ansprüchen der Wirtschaft" und eine bessere Lösung als in den Pandemiejahren davor. als die Prüfungen ersatzlos entfielen. Allerdings nehme mit dieser Entscheidung "ein impliziertes Qualitätsversprechen der Schulabschlüsse weiter ab" und werde die Nachfrage nach dem Abitur bei Schülern, Eltern und den Ausbildungsbetrieben weiter verstärken.

Um den Schaden zu begrenzen, fordert die IHK:

*   den Berufsschulen Angebote zur Nachhilfe zu ermöglichen und

*   eine Auswertung der Ergebnisse zu veröffentlichen, um daraus das Leistungsvermögen des Jahrgangs besser einordnen zu können.

Ganz andere Sorgen haben die Gymnasien. Sie kämpfen seit Jahren zusammen mit dem Landeselternausschuss dagegen, die MSA-Prüfungen absolvieren zu müssen, deren Stoff sie in der Regel schon in der neunten Klasse durchnehmen. Die Qualitätskommission hatte ihnen Recht gegeben.

„Die Haltung der Gymnasien ist klar: Die schriftlichen Prüfungen kosten Zeit und beeinträchtigen eine sinnvolle Vorbereitung für die Qualifikationsphase“, mahnte Arnd Niedermöller immer wieder. Aber auch diese Mahnungen waren war vergebens: Die Gymnasien müssen die gleichen Aufgaben absolvieren wie die Sekundarschulen, obgleich sie nicht 13, sondern nur zwölf Jahre Zeit bis zum Abitur haben und daher zwangsläufig weiter im Stoff sind. Auch diese Information ging am Dienstagabend an die Schulen.

Niedermöller konnte der Neuregelung allerdings auch gute Seiten abgewinnen, weil sie "einen Schritt weg von den Prüfungen" bedeute. Er erhofft sich als nächsten Schritt, dass eine MSA-Reform darauf hinauslaufe, dass an den Gymnasien künftig generell statt der Prüfungen vergleichende Arbeiten geschrieben werden, die sich aber auf dem Niveau der Gymnasien bewegen. Bisher schreiben alle Schulformen die Prüfungen auf gleichem Niveau.

Zum Nachlesen hier der Infobrief an die Gymnasien und hier an die Sekundar-, Gemeinschafts- und Förderschulen.

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