
© Marie Staggat für den Tagesspiegel
Der Kandidat im Tagesspiegel-Talk: Können Sie zaubern, Herr Özdemir?
Er will einen historischen Wahlsieg wiederholen und zweiter grüner Ministerpräsident in Banden-Württemberg werden. Die nötige politische Statur bringt Cem Özdemir mit. Doch kann er die Menschen von seinem Weg der Mitte überzeugen? Eine Beobachtung beim Genussmarkt-Talk des Tagesspiegels.
Stand:
Es war ein politisches Wunder, dass der Grüne Winfried Kretschmann 2011 zum Ministerpräsident in Baden-Württemberg gewählt wurde. Noch nie zuvor war einem Öko dergleichen geglückt. Zwar waren Städte wie Tübingen und Freiburg zuvor an grüne Bürgermeister gefallen. Aber dass einer sich als Umweltfreund in einem Land durchsetzte, das vor allem von seiner Spitzentechnologie und Autoindustrie lebt, löste ein Beben aus. Vor allem bei den Grünen selbst, die seitdem sogar mal vom Kanzleramt träumten.
Nun soll Cem Özdemier das Wunder in Stuttgart wiederholen. Zwar hat er durch seine lange und nicht eben konfliktarme Karriere die nötige politische Statur gewonnen, aber Umfrageergebnisse und die wirtschaftliche Entwicklung rücken einen Wahlsieg der Grünen in weite Ferne.
Davon will ein Wahlkämpfer wie der mit allen Wassern gewaschene Özdemir naturgemäß nichts wissen. Im Schlagabtausch mit Editor-at-Large Stephan-Andreas Casdorff bekräftigt er beim Genussmarkt-Talk des Tagesspiegel am Sonntag seine Überzeugung, den Wählern ein gutes und am Ende überzeugendes Angebot zu machen: „die besten Ideen für Baden-Württemberg zum Vorschein kommen zu lassen“.
Der präsidiale Mittelweg soll’s richten, und er liegt dem gebürtigen Schwaben auch menschlich, wie sein mit jedem Wort schwäbischer werdender Auftritt verrät. Zunächst von Casdorff mit gewitzten Fragen nach seiner „Berliner Heimat“ aus der Reserve gelockt, nutzt er das Streitthema „Verbrenner-Aus“ ab 2035, um sich als Brückenbauer zu präsentieren. Es sei niemandem geholfen, zum Stichtag 2035 eine Regelung einzuführen, die nicht klappt und keine Nachahmer findet, als „mehr Beweglichkeit“ zu zeigen und eine Regelung zu verabschieden, die wirtschaftlich Sinn ergebe.

© Marie Staggat für den Tagesspiegel
Dafür müsse mehr in die Ladeinfrastruktur investiert, und bei Fahrzeugen, die in der Anschaffung so teuer wie E-Autos seien, müsse der Strom günstiger werden.
Mit anderen Worten: Fortschritt darf jene nichts kosten, die ihn befördern sollen. Sonst wird er bloß ausgebremst durch Unwilligkeit.
Es ist genau der Weg, den auch Vizekanzler Robert Habeck zu gehen versuchte. Seinen Abschied aus der Politik erklärte er im „Spiegel“ damit, gescheitert zu sein. Es gebe keine Mitte mehr. Woher nehme Özdemir den Mut, es als Grüner weiter zu bringen, will Casdorff von ihm wissen.
Auf moderaterem Weg
Es ist der Punkt des amüsanten Gesprächs, an dem Özedemir mehr als nur bei seiner Ehre gepackt wird. Mag die Bundestagsfraktion der Grünen und ihre neue Führungsriege sich auch als links-ökologische Kraft verstehen, die an vereinbarten Klimaschutzzielen festhält, so geht der Kandidat aus Stuttgart ausdrücklich einen moderateren Weg. Er will einen Politikstil verkörpern, bei dem nicht das Parteibuch zähle, sondern Kompetenz, Austausch. „Genau so habe ich regiert“, sagt er und erzählt von seiner Zeit als Bundesminister, in der er einen CDU-Mann zum Staatssekretär gemacht habe, weil er der Richtige gewesen sei.
Das sei eine grundsätzliche Entscheidung, und Özdemir wird leidenschaftlich, weil er die Demokratie durch zu viel Klientel-Interessen bedroht sieht. Er sei es gewesen, der, als er neu im Amt des Landwirtschaftsministers war, sich eine Liste der Projekte geben ließ, die seine christsozialen Vorgänger nie durchgesetzt hatten.
Die Reform des Tierwohl-Gesetzes war eines davon. Er habe es aufgegriffen, durch die Gremien gebracht und budgetiert. „Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass einer aus einer muslimischen Familie eine Milliarde Euro für die Schweinehaltung mobilisiert hat“, sagt er lachend.

© Marie Staggat für den Tagesspiegel
Doch statt das Gesetz als gesellschaftlichen Erfolg anzuerkennen, sei von den Amtsnachfolgern zuerst das Geld gestrichen worden, nur weil, wie Özdemir glaubt, er „etwas hinbekommen habe“, was etliche schwarze Landwirtschaftsminister nicht geschafft haben. Die dächten jetzt, das machen wir dem kaputt. Durch solche disfunktionalen Maßnahmen treibe Politik die Menschen in die Arme der Demagogen und Radikalen, warnt Özdemir.
Es ist sein Lied, dass das Land und die politische Klasse wieder zurückfinden müsse zu einem Umgang, bei dem nicht die Gesetzeslücke wichtiger ist als das Gesetz, der formale Fehler wichtiger als die Form, die eigene Meinung wichtiger als das Gespräch. Denn Voraussetzung für ein Gespräch sei, zitiert Özdemir den Philosophen Hans-Georg Gadamer, „der andere könnte recht haben“.
Wenn es stimmt, dass Politiker im Wahlkampf die Höhe ihres Könnens erreichen, weil sie sich – vielleicht auch selbst – die Basis ihres Denkens offenbaren, dann hat Özdemir ein lebhaftes Beispiel dafür geliefert. Er dürfte kein Magier sein. Aber sein Versuch, über Parteigrenzen hinweg zu denken, appelliert an das Menschliche in jedem.
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