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Noch ein öder Corona-Tag zuhause? Oh mein Gott! Aber Genervtheit ist nicht dasselbe wie Erschöpfung.

© imago/Westend61

Gesellschaft im Pandemiestress: Auch Jammern über Corona ist infektiös

Alle sind erschöpft von der monothematischen Coronazeit, und schlechte Laune breitet sich aus. Macht die Gesellschaft jetzt schon schlapp? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Esther Kogelboom

Dieser Leitartikel wird im Pyjama geschrieben. Alle sind erschöpft von der mentalen Herausforderung, dem „Mental Load“ der Pandemie, da ist es schon in Ordnung, sich gehen zu lassen, oder?

Der Kopf so leer wie ein ausgehöhlter Hokkaido-Kürbis, trotzdem wollen weitere 99 Informationen und Aufgaben verarbeitet werden - und die Liste wird täglich länger: Habe ich meine Maske dabei? Ist Sachsen-Anhalt Risikogebiet? Der Paketbote war da, muss ich jetzt querlüften? Sind die Alten in Sicherheit? Ist das noch Halskratzen oder schon Corona? Wie sind die Storno-Bedingungen für den Urlaub?

In dem einen Elternchat tobt die Diskussion, wer wann welchen Luftreiniger für die Klasse vorbestellt, wer ihn bezahlt und was Stiftung Warentest dazu sagt. In dem anderen Elternchat der Streit, unter welchen Bedingungen eine Halloween-Party stattfinden kann. Natürlich gar nicht! Die meisten stecken sich im häuslichen Umfeld an. Kinder seit Monaten vertrösten müssen kann auch sehr müde machen. Und bei Twitter trendet zeitgleich #zeitumstellung mit dem üblichen Gemecker: Die Uhr muss zurückgestellt werden.

Auch Jammern ist extrem infektiös, schlechte Stimmungen verbreiten sich wie Aerosole, manchmal sogar über Videokonferenzen. Richtig schlimm wird es, wenn sich die Dinge wiederholen, man das Gefühl hat, in einer Schleife gefangen zu sein, während die Kraftreserven zur Neige gehen. Dann kommt das Meta-Jammern: das Jammern übers Jammern. Augenroll-Emoji.

Maske? Habe ich die Maske eingesteckt? Die Pandemie mit ihren immerselben Fragen ist eine Herausforderung für die Menschen.
Maske? Habe ich die Maske eingesteckt? Die Pandemie mit ihren immerselben Fragen ist eine Herausforderung für die Menschen.

© Fotostand

Der Wunsch, diese monothematische Zeit mögen möglichst schnell ein Ende nehmen, damit wir endlich wieder das Olympiastadion ausverkaufen oder als Moorleichen verkleidet um Süßigkeiten betteln können, ist verständlich. Doch den Zeitreisenden Marty McFly gibt es nur in „Zurück in die Zukunft“. Alle anderen bleiben in der Gegenwart und müssen die zweite Welle aushalten. Es ist nicht so, als hätte uns niemand gewarnt.

Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han beschrieb in seinem Essay „Die Müdigkeitsgesellschaft“ schon 2010, wie die allgemeine Beschleunigung der Vermarktungslogik, das Keine-Zeit-haben, selbst resiliente Menschen auf Dauer krank macht.

Wenn also schon Corona vorerst keine Pause macht, verordnen wir uns wenigstens eine, unterbrechen den alltäglichen Wahnsinn der Pings und Tasks – und nutzen den Moment, die Lebensleistungen und Anstrengungen der Anderen zu sehen. Und mit ihnen gemeinsam Ideen für eine krisenfestere Gesellschaft zu entwickeln, die nicht nur für gutes Wetter konstruiert ist, die nichts so schnell umpustet und deren Zusammenhalt sich nicht von Irrationalität und geringer Frustrationstoleranz erschüttern lässt.

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Echte Müdigkeit und Genervtheit lassen sich nur allzu leicht miteinander verwechseln. Natürlich macht es unfassbar schlapp, inspirationslos in den eigenen vier Wänden zu bleiben, selbstverständlich fehlen vielen der Gedanken- und Gefühlsaustausch auf Bürofluren und die kurze Umarmung unter Freunden. Wie sehr, kommt oft erst jetzt, nach Monaten der Abstinenz und des Durchhaltens, ans schwindende Licht. Wie krisenfest Gesellschaften sind, zeigt sich leider nur in den Mühen der Ebene.

Pflegende, Alleinerziehende, chronisch Kranke können vom Nicht-mehr-Können erzählen

Doch was bedeutet es wirklich, nicht mehr zu können? Klarheit könnte bringen, Pflegenden zuzuhören, Alleinerziehenden, chronisch Kranken, psychisch Kranken oder Menschen mit existenziellen Nöten. Vielleicht hilft das, die Perspektive ein bisschen zu ändern.

Denn die meisten von uns haben genug Mittel für eine warme Jacke und können draußen mit Abstand vor dem Ramen-Restaurant eine heiße Suppe schlürfen und den Mantel von vorletzter Saison als Weihnachtsspende am Bahnhof Zoo abgeben. Warum eigentlich bis zum Advent warten und nicht jetzt schon besinnlich werden und damit den Kleinigkeiten die Bedeutung geben, die sie verdienen? Es soll ja theoretisch das ganze Jahr über möglich sein, an andere zu denken.

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