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Bundeskanzler lehnt Vier-Tage-Woche ab: Work-Life-Balance ist längst ein Standortfaktor

Friedrich Merz erwartet eine „gewaltige Kraftanstrengung“ von deutschen Beschäftigten. Doch sein Appell an die Arbeitsmoral verkennt, dass Wohlstand nicht durch mehr Überstunden erreicht wird.

Hannes Soltau
Ein Kommentar von Hannes Soltau

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Work-Life-Balance ist eine Krankheit und Überstunden sind die beste Medizin – so könnte man Friedrich Merz’ jüngste Forderung nach einer „gewaltigen Kraftanstrengung“ für eine wettbewerbsfähigere deutsche Wirtschaft zusammenfassen.

„Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten“, sagte der Bundeskanzler auf dem CDU-Wirtschaftstag am Dienstagabend. „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht erhalten können“. So aber betreibt Merz Symptombekämpfung mit Rezepten aus der Arbeitswelt von gestern.

Natürlich ist es einfacher, gegen faule Arbeitnehmer zu polemisieren als politische Versäumnisse bei Digitalisierung, Automatisierung oder zukunftsweisenden Technologien einzugestehen. Und leichter, über die verhätschelten jungen Generationen zu lästern als schlechte Führungsqualitäten, träge Hierarchien und eine innovationshemmende Unternehmenskultur anzuprangern.

Doch selbst wenn man der Logik von Merz folgt, nicht die Bedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern wirtschaftliche Kennzahlen, gehen seine Forderungen an der Realität vorbei: Kürzere Arbeitszeiten münden nicht zwangsläufig in geringerer Produktivität. Zahlreiche Studien haben nachgewiesen, dass eine Reduktion die Effizienz steigert, da Mitarbeitende ausgeruhter und motivierter sind.

Island macht es vor

Die Einführung einer Vier-Tage-Woche in Island war ein großer Erfolg und gilt heute als wegweisendes Beispiel für moderne Arbeitszeitmodelle. Die Zufriedenheit der Beschäftigten stieg deutlich, stressbedingte Krankheitsausfälle nahmen ab. Die Wirtschaft des Landes blieb trotzdem stark. 

Hierzulande dagegen erledigen 78 Prozent der Arbeitnehmer einer Gallup-Studie zufolge ihren Job nur noch als „Dienst nach Vorschrift“. Die Bereitschaft zum stillen Streik und inneren Kündigungen erzeugen dem Institut zufolge jährliche Kosten zwischen 113 Milliarden und 135 Milliarden Euro. Wie wäre es also als selbsternannte „Arbeitskoalition“, über die Qualität von Jobs nachzudenken?

Wenn Friedrich Merz glaubt, Wohlstand wächst proportional zur Zahl der durchgearbeiteten Wochenenden, ist das so zeitgemäß wie die deutsche Autoindustrie in der Ära der Elektromobilität.

Hannes Soltau, Tagesspiegel-Redakteur

Noch einmal in der Logik des Kanzlers gedacht: Die Vereinbarkeit von Job- und Privatleben ist kein Luxus, sondern Standortfaktor. Flexible Arbeitszeiten, Teilzeit-Modelle und Homeoffice-Lösungen sind essenziell, um heute qualifizierte Kräfte zu gewinnen.

Der Appell für mehr und härtere Anstrengung schadet dagegen langfristig nicht nur der Gesundheit der Arbeitnehmer, sondern auch der Wirtschaft, die schon jetzt unter steigenden Fehltagen leidet. Ausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen verursachen laut Deutscher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie jährlich Kosten bis zu 147 Milliarden Euro – Tendenz steigend.

Wenn Friedrich Merz glaubt, Wohlstand wachse proportional zur Zahl der durchgearbeiteten Wochenenden, ist das so zeitgemäß wie die deutsche Autoindustrie in der Ära der Elektromobilität. Nicht der Wunsch der Beschäftigten nach mehr Freizeit ist das Problem. Sondern die ideologische Weigerung, eine Zukunft zu denken, in der Lebensqualität zum Maßstab von Wohlstand wird.

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