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Die Nato übt für den Ernstfall in Litauen: einen Angriff Russlands.

© Montage: Tagesspiegel | Maria Kotsev (3)

Diese Nato-Soldaten proben für den Ernstfall: „Es ist keine Frage, ob Russland angreift – sondern wann“

Wenige Kilometer vor der Grenze zu Belarus üben Nato-Streitkräfte für einen Überfall Russlands – darunter auch die Bundeswehr. Doch worauf muss sich das Bündnis überhaupt einstellen?

Stand:

Der Schuss entfacht einen Feuerball und verpufft sogleich zu hellgrauem Rauch. Ein Knall peitscht über das von Waldstücken flankierte Feld. Zwei weitere Geschosse zerbersten wie ein farbloses Feuerwerk zu kleinen Funken. Qualm, rußschwarz. Die gegnerische Artillerie blendet die Truppen der Nato.

„Die norwegische Kompanie meldet dem Kommandeur sofort, dass sie in Kontakt mit dem Gegner gekommen ist“, verkündet eine elektronische Stimme durch einen Lautsprecher. Dann brettern zwei CV90-Panzer rückwärts über das Feld.

An diesem Mittwoch Mitte Oktober sind rund ein Dutzend Journalistinnen und Journalisten ins östliche Litauen gekommen, um die Nato-Übung „Iron Wolf“, zu Deutsch: der eiserne Wolf, der „Multinational Battlegroup“ zu beobachten. Auf einem Besucherhügel stehen sie in sicherer Entfernung von der Kriegsübung und tragen Ohrenschutz. Die Panzer schießen mit echter Gefechtsmunition. Das hier ist eine Übung, aber die Lage ist ernst.

Die Übung „Iron Wolf“ findet zweimal im Jahr für jeweils zwei Wochen nahe des Grenzdorfs Pabrade in Litauen statt.

© IMAGO/ZUMA Wire/u.s. Army

Der Truppenübungsplatz „Adrian Rohn“ liegt nahe des litauischen 5.000-Einwohner-Dorfs Pabrade, keine 15 Kilometer vor der Grenze zu Belarus, dem engsten Verbündeten Russlands. Dass „die Battlegroup“, wie die meisten Soldaten den Kampfverband nennen, dort trainiert, sendet ein Signal: Die Nato ist vorbereitet. Die Übung findet zweimal im Jahr für jeweils zwei Wochen statt und ist das größte internationale Manöver dieser Art in Litauen.

Nicht ob, sondern wie

„Russland könnte jederzeit angreifen, die Menschen in Litauen spüren das. Für sie ist es keine Frage, ob Russland angreift. Sondern wann“, sagt der niederländische Oberstleutnant Bas Schillemans, der Kommandeur der „Multinational Battlegroup“.

Russland könnte jederzeit angreifen, die Menschen in Litauen spüren das. Für sie ist es keine Frage, ob Russland angreift. Sondern wann.

Oberstleutnant Bas Schillemans,  Kommandeur der „Multinational Battlegroup“

Man sei aber „für jedes Szenario, wie Russland angreifen könnte, vorbereitet“. Doch die Übung soll nicht nur die Abläufe der Armeen optimieren. Sie hat noch ein wichtigeres Ziel: Sie soll Russland abschrecken.

Die elektronische Lautsprecherstimme erklärt, was hier trainiert wird: Der Gegner – also Russland – greift mit drei Kompanien an. „Ziel: Pabrade“, sagt die Stimme. „Um die Bedingungen zu schaffen für eine Attacke der Streitkräfte auf Vilnius.“ Die Hauptstadt Litauens mit rund 544.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

Oberstleutnant Bas Schillemans, Kommandeur der Multinational Battlegroup Litauen vor einem Leopard-Panzer.

© Maria Kotsev

Schillemans ist der erste niederländische Kommandeur der Battlegroup, die bisher immer von Bundeswehrsoldaten geführt wurde. Der Nato-Kampfverband besteht aus Deutschen, Niederländern, Norwegern, Tschechen, Belgiern und Luxemburgern, 2017 wurde er in Litauen stationiert. Denn die Nato hatte beschlossen, mehr Präsenz an der Ostflanke des Verteidigungsbündnisses zu zeigen. Seitdem ist die Truppe auf über 1600 Soldaten gewachsen.

1600
Soldaten umfasst die multinationale Nato-Battlegroup in Litauen.

Das kleine Land Litauen gilt innerhalb der Nato als besonders verletzlich: Die östliche Grenze teilt es mit Belarus, im Westen mit der russischen Exklave Kaliningrad, wo der Kreml weitreichende Raketen stationiert hat, die auch Atombomben tragen können. Weshalb die Litauer Kaliningrad auch „Russlands Flugzeugträger“ nennen.

Dazu kommt der nur rund 70 Kilometer lange Grenzstreifen zu Polen, der „Suwalki-Korridor“, die einzige Landverbindung des Baltikums zum restlichen Nato-Gebiet. Würden russische Truppen hier angreifen, wären Litauen, Lettland und Estland geografisch sofort isoliert.

Die Nato rüstet zum Gegenangriff

Auf dem Übungsplatz feuern die norwegischen Panzer mittlerweile zurück. Doch der Gegner rückt vor. Die Kompanien der Battlegroup weichen hinter einen der wenigen Sträucher auf dem Truppenübungsplatz aus. Die Nato rüstet zum Gegenangriff.

Stefanie Babst, 60, sitzt in ihrem Kieler Wohnzimmer vor ihrem Laptop, etwa 1100 Kilometer Luftlinie und eine Zeitzone von Pabrade entfernt. Zwischenzeitlich war Babst die ranghöchste Deutsche im Nato-Generalstab, ab 2012 leitete sie acht Jahre lang den strategischen Planungsstab.

Das Baltikum kennt sie gut, während ihrer Dienstzeit in der Nato reiste sie etliche Male auf Sicherheitskonferenzen nach Riga und Vilnius. Babst ist Strategin und Strategieerklärerin, nach ihrer Zeit bei der Nato wurde sie Publizistin und Beraterin. Und eine, die die immer häufiger die Nato kritisiert. Weil sie eine umfassende Strategie zur Eindämmung Russlands vermisst.

Dafür, dass Russland Nato-Territorium konventionell angreift – also mit Panzern und Raketen – sieht Babst „seit Beginn des vollumfänglichen Krieges in der Ukraine keine Indikatoren“, wie sie es etwas sperrig formuliert. Russland verlege seine frisch mobilisierten Truppen nicht an die Grenze zu Litauen oder nach Belarus, sondern an die Front in der Ukraine.

Wo greift Russland als nächstes an?

Nicht das Baltikum sei das nächste Ziel Russlands, sondern „die Zementierung und Erweiterung der Geländegewinne“ in den fünf besetzten Gebieten in der Ukraine.

„Russland hätte uns angreifen können, wenn es gewollt hätte“, sagt Babst. Ob Abschreckung gelingt, zeige sich immer nur daran, dass nichts passiert: „Abschreckung ist immer dann erfolgreich, wenn eine Waffe schweigt.“

Abschreckung ist immer dann erfolgreich, wenn eine Waffe schweigt.

Stefanie Babst leitete acht Jahre den strategischen Planungsstab der Nato.

Die Frage ist: Wie lange werden Russlands Waffen gegen die Nato noch schweigen?

Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius geht davon aus, dass Russland in fünf Jahren bereit sei, einen Krieg gegen die Nato zu beginnen. „Den politischen Willen des Gegners zu ermessen“, sei für die Nato besonders schwierig, meint Babst. Überhaupt wisse der Westen viel zu wenig darüber, was in den Regionen und lokalen Machtstrukturen Russlands vor sich gehe: „Wir schauen immer nur auf Putin.“

Die Übung soll der Realität möglichst nahekommen

Auf dem Trainingsgelände muss es jetzt schnell gehen. Ein deutscher Panzerzug der Battlegroup soll den Gegner zurückschlagen. Der Ablauf ist minutiös geplant, anders als im Krieg gibt es in der Übung so gut wie keine Überraschungen und Zufälle. Das Kampfflugzeug, das den Panzern später zu Hilfe kommen wird, wird von einem zivilen „simuliert“. Für die Soldaten soll die Übung der Realität trotzdem möglichst nahekommen. Für die Zuschauer auch.

Ein ziviles Flugzeug simuliert ein Kampfflugzeug bei der Militärübung „Iron Wolf“.

© Maria Kotsev

In Litauen und am Suwalki-Korridor sei die Nato gut vorbereitet, sagt Babst: „Das wiederum weiß auch die russische Seite“. Sie sei „sehr zuversichtlich“, dass es im Suwalki-Korridor keine militärischen Überraschungen für die Nato geben werde.

Dass die Abschreckung durch die „Multinational Battlegroup“ funktioniert, ist allerdings kein Grund zur Entwarnung. Denn sie löst das Problem nicht, sie verlagert die Gefahr durch Russland nur: hin zu hybriden Angriffen.

Der Spähwagen Fennek im Einsatz

© Maria Kotsev

Hinter dem Besucherhügel auf dem Truppenübungsplatz brettert nun ein Spähwagen aufs Feld, mit Antennen, Tagsicht- und Wärmebildkameras. Gesteuert wird das leicht gepanzerte Fahrzeug von Oberfeldwebel Dominik, dessen Familienname aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden soll.

Dominik ist ein kleiner Teil des großen Ganzen, der die Kampfabläufe und letztendlich auch die Abschreckung der Nato sicherstellt: Im Ernstfall würde er in einem Versteck auf der gegnerischen Seite der Frontlinie für mehrere Tage ausharren und den Gegner beobachten.

Die Nato präsentiert ihre Ausrüstung

Vor der Übung steht er mit Sonnenbrille und Einsatzhandschuhen auf einem asphaltierten Platz des Militärcamps, hier präsentiert die Battlegroup ihre Ausrüstung: den Spähwagen „Fennek“, die Panzerbrücke „Leguan“, den Panzer „Leopard 2“, die Drohne „Anafi Parrot“.

Oberfeldwebel Dominik auf dem Militärcamp „Adrian Rohn“ nahe Pabrade, Litauen

© Maria Kotsev

Das Schaulaufen hat Kalkül: Die Ausrüstung ist jener Teil der militärischen Stärke, den man sehen und anfassen kann. Und, im Falle der Journalistinnen und Journalisten: auch fotografieren. Kampfmoral, Kommandostrukturen und fortschrittliche Software sind mindestens genauso wichtig. Doch Abschreckung funktioniert auch durch Bildgewalt.

Rauch steigt auf dem Trainingsgelände „Adrian Rohn“ nach einem simulierten Luftangriff empor.

© Maria Kotsev

Schließlich nähert sich ein Flugzeug im Sinkflug dem Truppenübungsplatz. Eine Drohne hinterher. Ein Pilz aus dunkelbraunem Rauch sprießt plötzlich aus dem Boden, dann zwei weitere. Ein simulierter Luftangriff. Die Aufklärung hat einen erfolgreichen Gegenangriff ermöglicht.

Wofür es keine Aufklärungstechnik gibt, sind hybride Angriffe.

In Deutschland fehlt das Bewusstsein

Und genau in dieser Art der Kriegsführung sieht Stefanie Babst aktuell die größte Bedrohung für das Baltikum: „Cyberangriffe, Sabotageakte oder elektronisches Jamming gehören genauso zur russischen Aggression wie das Abfeuern von Shahed-Drohnen auf Charkiw“, sagt Babst. Dafür fehle besonders in Deutschland das Bewusstsein.

Cyberangriffe, Sabotageakte oder elektronisches Jamming gehören zur russischen Aggression.

Stefanie Babst leitete acht Jahre den strategischen Planungsstab der Nato.

In Litauen ist das anders. Der Militärexperte Aurimas Navys, 48, sensibilisiert dort Unternehmen für Cybersicherheit. Nach der Militärakademie diente er 27 Jahre als Offizier der litauischen Armee, Abteilung Spezialoperationen.

Navys sitzt in einem ukrainischen Restaurant in Sichtweite der Seimas in Vilnius, dem litauischen Parlament. Wenn er seine Perspektive auf Russland und die Nato erklärt, zitiert er gern den deutschen Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz und den ehemaligen US-Außenpolitiker Henry Kissinger.

Warum sollte Russland erst in fünf Jahren angreifen?

„Aussagen wie die Ihres Verteidigungsministers Pistorius – entschuldigen Sie vielmals – sind Quatsch. Wenn Russland in fünf Jahren bereit sein soll für einen neuen Krieg, und Russland weiß, dass wir das wissen: Warum sollte Russland dann angreifen, wenn wir bestens darauf vorbereitet sind?“

Navys fordert, die Nato solle jetzt sofort bereit sein. Aber nicht für einen russischen Überfall auf Litauen, denn dafür bräuchte Russland mindestens 50.000 Mann. Und die könne es aktuell in der Ukraine nicht entbehren. Sondern für den hybriden Worstcase. „Das sind Szenarien, bei denen Russland nur die Kugel ins Rollen bringen muss. Den größten Schaden würden wir selbst anrichten“, sagt Navys. So umgehe der Kreml auch die Gefahr, dass der Nato-Bündnisfall nach Artikel Fünf ausgerufen werde. Denn prinzipiell kann er auch bei hybriden Angriffen großen Ausmaßes angewendet werden.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, SPD.

© imago/photothek/IMAGO/Thomas Imo

Russland könne etwa soziale Netzwerke mit Propaganda fluten und linksextreme und rechtsextreme Parteien unterstützen. Das Ziel: Wahlergebnisse zu beeinflussen und die Gesellschaften zu destabilisieren. „Russland könnte seine Desinformationskampagnen ausbauen, durch Deepfakes oder reine Wahlmanipulation in Form von Bestechung“, sagt Navys.

„Dagegen helfen keine Panzer“

Sollten genug Nato-kritische, prorussische Parteien ins litauische Parlament einziehen und eine Koalition bilden, könnten sie versuchen, die Gesetze zu Gunsten des Kremls zu ändern. „Das geht bis hin zur Nato-Mitgliedschaft“, sagt Navys. „Dagegen würden keine Panzer, Brigaden oder sonstige militärische Kräfte helfen.“

Doch die hybriden, russischen Angriffe würden sich nicht allein auf soziale Netzwerke und Wahlen beschränken müssen, sagt der litauische Militärexperte.

„An der Grenze zu Litauen, in Belarus, befindet sich das Atomkraftwerk Astravets“, sagt er. „Russland könnte Falschinformation über einen angeblichen GAU per SMS und Social Media verbreiten, mithilfe von künstlich generierten Videos von Politikern.“ Und so versuchen, eine Massenpanik auszulösen.

Russland könnte Falschinformation über einen angeblichen GAU per SMS und Social Media verbreiten, mithilfe von künstlich generierten Videos von Politikern.

Aurimas Navys, Ex-Militär und Cybersicherheitsexperte in Litauen

Ähnliche Manöver unternimmt Russlands Propaganda bereits in der Ukraine: Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms im Sommer 2023 verbreitete sie Gerüchte, dass Russland plane, einen weiteren Staudamm nördlich von Kyjiw zu sprengen. „Die Menschen würden ihre Sachen packen und das Land verlassen.“

Die einzige Möglichkeit aber, aus Litauen in Richtung Westen auszureisen, ist der Suwalki-Korridor, wo es eine Bahnstrecke und zwei größere Straßen gibt. „Bricht Panik aus, könnte es zu Autounfällen und massenhaft Verletzten kommen“, sagt Navys.

Wer verteidigt das Baltikum?

Navys, der auch Abgeordneter im Stadtrat in Vilnius ist, versichert, dass die Stadt für solche Fälle Evakuierungsrouten und Luftschutzkeller vorbereiten will. Aus Sicht von Navys braucht es beides: Strategien für hybride Angriffe. Und die konventionelle Abschreckung der Nato: „Länder werden nicht durch Armeen verteidigt, sondern durch Abkommen“, sagt er. „Aber diese Abkommen müssen von Armeen gestützt werden. Besonders, wenn der Gegner einer ist, der Abkommen mit Füßen tritt.“

Auf dem Trainingsgelände „Adrian Rohn“ rollen nun zwei Leopard-2-Panzer an. Es sind die modernsten Kampfpanzer der Welt, Deutschland hat der Ukraine Anfang vergangenen Jahres 18 Stück geliefert, nach langem Zögern. Zwei solcher Leopards brettern jetzt auf dem Übungsplatz mit rund 70 Kilometern pro Stunde über Matsch und Erdhügel, die langen Bordkanonen direkt auf den Gegner gerichtet. Wenn sie ihre 120 Millimeter starke Munition verfeuert, bleibt die Kanone stabil. Feuer, Knall, Feuer, Knall – fast zeitgleich.

Leopard-Panzer der Multinational Battlegroup werden bei der Militärübung ausgestellt.

© Maria Kotsev

Das Manöver endet mit einem der farblosen Feuerwerke. Weiße Funken verpuffen zu Nebel. Der Gegner soll den Rückzug nicht beobachten können. Die verzerrte Stimme verkündet: „Liebe Gäste, die Combined Live Firing Excercise ist jetzt beendet.“ Der Krieg Russlands aber geht weiter, auf vielen Schlachtfeldern.

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