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Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung in Hanau erinnern an die Opfer des rassistischen Anschlags.

© picture alliance/dpa

Drei Jahre nach dem Terror von Hanau: Warum weinst du nicht, Deutschland?

Drei Jahre nach dem rassistischen Mord an neun Menschen bleibt die Wut. Sie verlangt nicht nach Zerstörung, sondern nach Heilung. Weil es immer noch ein „Ihr“ und ein „Wir“ gibt.

Es gibt im Kurdischen einen Begriff für einen Tag, der von Trauer und Schmerz durchzogen ist: roja reş, schwarzer Tag. Auch an einem roja reş geht die Sonne auf, aber da sind dunkle Wolken. Der 19. Februar 2020 war ein solcher Tag. Vor drei Jahren tötete ein Rassist neun Menschen in Hanau. In einem Kiosk, in einer Bar, auf der Straße, im Auto erschoss er: 

Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Ferhat Unvar, Vili Viorel Păun, und Fatih Saraçoğlu.

„Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“, schrieb Ferhat Unvar einmal. Die Familien der neun Opfer sorgen seit drei Jahren dafür, dass ihre ermordeten Kinder und Geschwister nicht tot sind. Sie wollen nicht, dass ihr Schicksal in Akten verschwindet, die später vielleicht geschreddert werden, wie bei den NSU-Ermittlungen. Also gründeten sie Initiativen, organisierten Ausstellungen und erkämpften einen Untersuchungsausschuss. 

Mein Bruder sieht aus wie Ferhat, mein Cousin wie Fatih, ihre Namen könnten die nächsten auf Grabsteinen sein.

Büşra Delikaya, Tagesspiegel-Autorin

Dieser Umstand macht mich wütend. Ich bin es leid, immer wieder neu auszuholen und da anzusetzen, wo es am meisten wehtut. Unseren Schmerz – denn er ist kein rein persönlicher – in eloquenten Zeilen zu verpacken, in der Hoffnung, dass die Verzweiflung und Wut und Trauer sachte ankommt, man will ja niemanden verärgern.

Trauer hier, Karneval dort

Selbst unsere Trauer ist formalisiert. Dabei würden die meisten Betroffenen am liebsten gleichzeitig schreien und weinen. Ist das nicht nachvollziehbar, angesichts eines Nazis, der neun migrantische Leben auslöschte? Mein Bruder sieht aus wie Ferhat, mein Cousin wie Fatih, ihre Namen könnten die nächsten auf Grabsteinen sein.

Kölner Karneval am 24. Februar 2020, fünf Tage nach dem Anschlag von Hanau.
Kölner Karneval am 24. Februar 2020, fünf Tage nach dem Anschlag von Hanau.

© dpa/Oliver Berg

Trauern ist in vielen Kulturen laut. Wenn man nicht weiß, wohin mit dem Schmerz, gießt man sie in Klagelieder, in melodische Schreie. Man versammelt sich, Menschen aus der Nachbarschaft, Verwandtschaft, Bekanntschaft bringen Essen vorbei. Zig Töpfe stehen dann auf der Küchenanrichte. Man sitzt gemeinsam die Trauer aus, der Raum ist voller Tod. Hier gehört er hin, es wird nicht weggeschaut.

In Deutschland ist man formell, bedacht, still. Ja, in Deutschland ist man still.

Hanau steht für ein schweres Trauma. Jedenfalls in dem Deutschland jener Menschen, die aussehen und heißen wie Sedat, Said Nesar, Mercedes, Hamza, Gökhan, Kaloyan, Ferhat, Vili Viorel und Fatih. Hanau, das ist großer Schmerz – und eine Erinnerung. Daran, dass wir nicht alle im selben Deutschland leben. Nach dem Anschlag rief man in dem einem Deutschland inoffiziell Staatstrauer aus. In dem anderen feierte man Karneval.

Trauerzüge und Karnevalszüge liefen zur selben Zeit in denselben Städten. Wer das kritisierte, musste sich anhören, man könne den Menschen nicht ihre Bräuche nehmen. Ich dachte: Ja, Karneval hat Tradition in Deutschland, aber das Töten von nicht-deutschem Leben auch. Eine kontinuierliche rechtsextreme Gewalt, die durch fehlende Aufklärung und Konsequenzen gedeiht.

Es gibt ein „Wir“ und ein „Ihr“

Eine Traurigkeit nistete sich in das eine Deutschland ein, an dem anderen ging sie vorbei. Als wäre das Geschehene nicht in denselben Staatsgrenzen passiert. In dem einen Alltag redete bald kaum noch jemand über Hanau. Während sich unser Alltag auf einer Falltür abspielte, die jeden Moment aufzugehen drohte. Darunter ein Meer der Trauer. Jeder einzelne Tag ein roja reş. Wieso hast du nicht auch geweint, Deutschland?

Es gibt ein Wir und ein Ihr. Wer das nicht sehen kann, gehört vermutlich zum Ihr. Eine Spaltung, die politisch grundiert ist und die nicht erst entsteht, wenn man von ihr spricht. Verlässlich hält die öffentliche Debatte Wörter wie Ausländer, Fremdenfeindlichkeit, Integration parat – so viele Wörter, um zu markieren, dass wir nicht dazugehören.

Migrationshintergrund ist so ein Wort, das wir immer bei uns tragen, wie einen Personalausweis. Auch Sedat, Said Nesar, Mercedes, Hamza, Gökhan, Kaloyan, Ferhat, Vili Viorel und Fatih hatten ihn. Im Leben und im Tod.

Spurensicherung vor dem Hanauer Wohnhaus des Attentäters.
Spurensicherung vor dem Hanauer Wohnhaus des Attentäters.

© imago images/rheinmainfoto/imago stock

Vili Viorel hatte ihn bei sich im Auto, als er versuchte, selbst den Täter zu stoppen, weil die Polizei seine Notrufe nicht entgegennahm. Er saß 18 Stunden tot am Lenkrad. Danach schickte die Polizei an Vilis Familie einen fälschlicherweise mit dem Namen seines Vaters beschrifteten Müllbeutel. Es waren die Sachen eines anderen Opfers. Eines der vielen Versehen, die sich die Polizei leistete.

Auch Ferhat, der sich mit letzter Mühe hinter die Theke des Kiosks zog, hatte ihn bei sich, als ein Polizist am Tatort mehrmals über seinen Körper stieg, das Fenster abschirmte, ohne zu schauen, ob ihm noch geholfen werden kann. 

Erinnern ist politisch

Den Migrationshintergrund haben alle neun in ihre Gräber mitgenommen. Ihre Grabsteine sind zu Mahnmalen geworden. An denen die Eltern, Geschwister, Freund:innen trauern, nachdem sie von einem Pressetermin zum nächsten geeilt sind. Nachdem sie sich mit der von ihnen gegründeten „Initiative 19. Februar Hanau“ getroffen haben, wo sie beratschlagten, wie sie die Umstände der Tat aufklären können.

„Es wird gekämpft, um Antworten auf Fragen zu finden, die einen nicht schlafen lassen“, sagt Newroz Duman, Sprecherin der Initiative über die Forderung nach einer aktiven Erinnerungskultur. „Man denkt: Okay, alle sind jetzt traurig, weinen, man hat Mitleid. Nein! Es wird gekämpft.“

Man sehnt sich nach dem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Nur das kann uns warmhalten. Aber du bist kalt und wir frieren weiter, Deutschland.

Büşra Delikaya, Tagesspiegel-Autorin

Trauern und Erinnern sind politisch, sagt sie, weil aus Hanau eine politische Verantwortung erwächst, die die politisch Verantwortlichen nicht tragen wollen. Also übernehmen sie es selbst, seit drei Jahren. Den Anschlag in Hanau kann man nicht losgelöst vom Umgang mit rechtsextremer Gewalt im Land betrachten.

Wenn wir wegen Hanau weinen, weinen wir auch wegen Halle, Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, Erfurt und des NSU. Wir weinen um all die Opfer rechter Gewalt, deren Namen von Verbrechen ohne Konsequenzen besetzt wurden. Das erzeugt Wut. Eine politische Wut. Keine, die Reden oder Artikel oder Instagram-Posts einfangen können. Eine tiefe und langwierige Wut, die seit mehreren Generationen schwelt. Sie verlangt nicht nach Zerstörung, sie fordert Heilung. Für jene Wunde, die Taten wie die in Hanau immer wieder in unsere Leben reißen.

Ohne Heimat ist man wie ein Kind, das nachts im Bett von der Kälte aufwacht, wenn ein Schauer den Körper bibbern lässt. Man sehnt sich die Eltern herbei, die einen zudecken. Man sehnt sich nach dem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Nur das kann uns warmhalten. Wir sehnen uns nach dieser Geborgenheit. Aber du bist kalt und wir frieren weiter, Deutschland.

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