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Adolf Haas, der Kommandant von Bergen-Belsen.

© Kreismuseum Wewelsburg

Einer der unbekannten Massenmörder des Holocaust: Das mysteriöse Verschwinden des KZ-Kommandanten Adolf Haas

1950 wurde der Kommandant des KZ Bergen-Belsen für tot erklärt. Dabei wollen ihn mehrere Zeugen danach noch gesehen haben. Vor Gericht stand er nie – jetzt rollt ein Historiker den Fall neu auf.

Der offene Jeep rollte langsam durch die Straßen, vorbei an den meterhohen Trümmern zusammengefallener Häuser, Spuren eines Luftangriffs kurz vor Kriegsende. Die Bomben, die amerikanische Boeing B 17 sechs Wochen zuvor, am 15. März 1945, ausgeklinkt hatten, trafen nicht nur V-2-Raketen der deutschen Wehrmacht, sie explodierten auch in dem nahe gelegenen Städtchen Hachenburg im Westerwald.

Ein britischer Soldat steuerte den Jeep, in seinem Rücken hockten vier ausgemergelte Gestalten in den gleichen gestreiften Klamotten, die sie kurz zuvor noch als KZ-Häftlinge hatten tragen müssen. Die Vier hatten ein Transparent entrollt, breit wie eine Tür und vollgeschrieben mit einer brutalen Botschaft: „Haas, Haas, wir suchen dich! Haas, Haas, wir finden dich! Haas, Haas, wir schneiden dich in Riemen.“ So schildert es der Historiker Jakob Saß in seinem Buch „Gewalt, Gier und Gnade“.

Sechs Wochen früher hätten sie Adolf Haas noch in Hachenburg, seiner Heimatstadt, angetroffen. Da erklärte er in SS-Uniform vor den rauchenden Trümmern, unter denen noch einige der 18 Opfer des Luftangriffs verschüttet lagen: "Das wird alles von uns nach dem Endsieg wiederaufgebaut."

Adolf Haas stand nie vor Gericht

Doch jetzt war der 51-Jährige verschwunden, natürlich. Zwei Wochen nach seinem großspurigen Auftritt waren US-Truppen kampflos in die Stadt eingerückt. Der Sturmbannführer Haas wusste, was ihn erwarten würde, wenn man ihn erwischte. Adolf Haas, Kommandant der Konzentrationslager Niederhagen/Wewelsburg und Bergen-Belsen, verantwortlich für mindestens 3026 Tote, wusste es sehr genau.

Adolf Haas, Bäcker und Massenmörder, stand nie vor einem Gericht.

Warum? Das ist der mysteriöse Teil der Geschichte des Mannes mit den groben Gesichtszügen und dem Hitler-Bärtchen. Der Fall Haas ist ein Rätsel mit vielen offenen Fragen. Wurde er in den letzten Kriegstagen doch noch getötet? Tauchte er mit falschen Papieren unter? Besuchte er, Jahre nach dem Krieg, heimlich seine Heimatstadt? Offiziell starb Adolf Haas, geboren 1893 in Siegen, am 31. März 1945. So hat es das Amtsgericht Hachenburg 1950 festgelegt, auf Antrag seiner Ehefrau Lina.

Doch an diesem Tag, das steht fest, war er noch am Leben.

Die Geschichte des Adolf Haas ist auch ein Beispiel für viele Naziverbrecher, die plötzlich vom Radarschirm der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Alliierten verschwanden. Als hätte sie jemand mit einem Knopfdruck gelöscht. Sie verschwanden wegen Ermittlungspannen oder weil man sie bewusst nicht verfolgen wollte. Bei Haas traf wohl Beides zu.

Allerdings profitierte er davon, dass er im Schatten bekannter SS-Massenmörder stand. Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, Heinrich Himmler, der SS-Chef, oder Adolf Eichmann, der Organisator der Judentransporte, das waren die großen Namen für die Nazi-Jäger. Adolf Haas? Kein großer Begriff.

Aber einer der Kleinbürger, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus zu Mördern entwickelten. „Der Bäcker Adolf Haas war ohne Zweifel ein normaler Mann, aber auch einer der normalen Täter, sowohl im Sinne seiner Sozialisation als auch seiner Karriere. Er war Durchschnitt, so sahen es auch seine Vorgesetzten“, sagt der Historiker Jakob Saß vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er hat den Fall Haas in seinem exzellenten Buch „Gewalt, Gier und Gnade“ bis ins Detail analysiert.

Der Holocaust war nicht das Werk von Einzeltätern

Saß, gebürtiger Berliner, erst 29 Jahre alt, wühlte sich durch diverse Archive, studierte unzählige Dokumente, kontaktierte Zeitzeugen. Saß will stellvertretend mit der Biographie des „normalen“ Täters Adolf Haas eine Lücke schließen, er will endlich einen Bereich ausleuchten, der jahrzehntelang fast unbeachtet im breiten Schatten der bekannten Nazi-Massenmörder lag. „Die Geschichten über die weltweit bekannten Täter der NS-Zeit vermitteln das falsche Bild, dass der Holocaust von wenigen verrückten Einzeltätern geplant wurde“, sagt Saß. „Man bekommt den Eindruck, dass der Rest lediglich Mittäter waren mit wenig Handlungsbefugnissen – ein längst überholter Mythos der Nachkriegszeit.“

Im Fall von Adolf Haas warf Josef Kramer diesen enorm großen Schatten. Kramer war der letzte Kommandant von Bergen-Belsen, er übergab das Lager kampflos den Engländern. Die starrten entsetzt auf mehr als 13 000 Leichen und 60 000 skelettähnliche Überlebende, die ihre Befreiern aus tiefen Augenhöhlen entgegen blickten. Medien bezeichneten Kramer als „Die Bestie von Belsen“. Doch kaum jemand, sagt Saß, habe darüber nachgedacht, „wer für Kramer die Voraussetzungen geschaffen hatte“.

Dieser Jemand war Adolf Haas.

Haas war einer dieser Ex-Soldaten, die 1920 nach Krieg und Gefangenschaft orientierungslos ins soziale Elend des Nachkriegs-Deutschlands strömten und jeden Job annahmen, den sie bekommen konnten. Erst 1929 konnte Haas, der gelernte Konditor, zumindest wieder als Bäcker arbeiten. Jahrelang sympathisierte er mit dem Kommunismus, 1930 aber wollte Haas endlich zu den Siegern gehören. Hitlers Partei feierte erstmal einen großen Wahlerfolg, Adolf Haas' begeisterte sich von nun an für die NSDAP.

Der Bäcker trat in die Allgemeine SS ein, verprügelte 1933 bei einer Razzia seine Ex-Genossen von der Kommunistischen Partei Deutschlands und zertrümmerte in der Pogromnacht vom 9. November 1938 die Inneneinrichtungen mehrerer Synagogen bei Hachenburg.

Haas, grobschlächtig, mäßig intelligent, unsportlich, von Vorgesetzten wegen mangelnder Ausdrucksfähigkeiten verspottet, war eine Karikatur jener Elite, als die sich die SS sah. Trotzdem kommandierte ihn das SS-Personalamt 1940 zur Ausbildung zum Zweiten Schutzhaftlagerführer ins KZ Sachsenhausen. Das jüngere KZ-Personal brauchte man für die Front. Wenige Monate später übernahm Haas das Kommando im KZ Nie-derhagen/Wewelsburg.

Und wurde zum Mörder.

Haas überließ das direkte Morden seinen Untergebenen

Reichsführer-SS Heinrich Himmler ließ das Renaissance-Schloss Wewelsburg bei Paderborn zum zentralen Versammlungsort der SS-Spitze ausbauen. Die extrem anstrengende Arbeit erledigten KZ-Häftlinge. Ihre Baracken lagen 800 Meter vom Schloss entfernt.

Haas machte sich selten die Hände schmutzig, das Prügeln und Töten überließ er seinen SS-Leuten oder den Kapos. Und die wüteten, von Haas toleriert und angefeuert, grausam. SS-Männer spritzten im Winter kaltes Wasser auf den Brustkorb von Häftlingen, bis die tot zusammenbrachen. Hunger, Kälte, Krankheiten, Gewalt, das waren die Konstanten im KZ Niederhagen/Wewelsburg. Der Kommandant Haas war für mindestens 1281 Tote verantwortlich. Talentierte Häftlinge, die für ihn Ölgemälde, Kommoden oder ein kunstvoll verziertes Kästchen herstellten, die ließ er am Leben.

1943 übernahm Haas das Kommando des neu aufgebauten Konzentrationslagers Bergen-Belsen bei Celle. Auch dort erlebten Häftlinge den Alltag als Hölle auf Erden. Ein Häftling notierte 177 bis 188 Tote im Monat für einen Teil des Lagers. Ein anderer beobachtete, „wie Kapos jede Nacht Häftlinge mit Brettern aus den Pritschen erschlugen“. Gleichzeitig stand Haas Modell für Öl-Portraits, die ein jüdischer Häftling malen musste.

Das letzte Lebenszeichen von Haas kommt von KZ Neuengamme

Im Dezember 1944 wurde Haas abgelöst, warum, ist nicht klar. Er sollte mit einer SS-Division die so genannte Festung Breslau verteidigen. Doch dort war er nie. Stattdessen verkündete er in Hachenburg Durchhalteparolen und tauchte am 14. April 1945 im KZ Neuengamme auf, abkommandiert als Beisitzer in einem Prozess gegen drei SS-Männer wegen „Wehrkraftzersetzung“. Das Gericht sprach ein Todesurteil.

Es ist das letzte nachgewiesene Lebenszeichen von Adolf Haas.

Danach begann die Suche nach ihm.

Ein überlebender Häftling von Bergen-Belsen hatte zwei Tage nach der Befreiung des Lagers durch die Briten detailliert seine Erlebnisse aufgeschrieben. Natürlich kam auch der Name Haas vor, deshalb fuhr ja Ende April 1945 der Jeep mit den Häftlingen durch Hachenburg. Auf einer Fahndungsliste von Nazi-Kriegsverbrechern stand Haas als Nummer 139791, allerdings mit dürftigen Angaben. Die US-Army hatte das KZ Niederhagen/Wewelsburg befreit, Haas wurde nun wegen der Folter von Häftlingen in diesem KZ gesucht. Aber nicht wegen Mordes. Warum, ist unklar.

Auch ein deutscher Oberstaatsanwalt in Koblenz suchte bald nach Kriegsende nach Adolf Haas. Allerdings nur wegen der Zerstörung einer Synagoge, nicht wegen Mordes. Am 20. Juni 1948 tippte ein Wachtmeister in Hachenburg in seinen Ermittlungsbericht: "Haas soll seit 1945 Hachenburg verlassen haben. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt." Erst 1949 erließ der Koblenzer Oberstaatsanwalt einen Haftbefehl gegen Haas wegen "Verbrechens gegen die Menschlichkeit". Nur zwei Monate später stellte er die Ermittlungen wieder ein, vorläufig. Haas war ja nicht aufzufinden.

Im Januar 1950 beantragte Lina Haas beim Amtsgericht Hachenburg, ihren Mann für tot zu erklären, sie habe ihn letztmals im März 1945 lebend gesehen. Doch erstmal kam der Name Adolf Haas auf eine Verschollenenliste. Jeder, der etwas über ihn wusste, sollte sich bis 1. August 1950 melden. Keiner meldete sich.

Die erste große Panne bei der Suche nach Adolf Haas.

Hamburger Staatsanwälte und Polizisten wussten genau, dass Haas noch im April 1945 lebte. Sie ermittelten wegen des Todesurteils im KZ Neuengamme, an dem der SS-Sturmbannführer beteiligt gewesen war. Doch vom Aufruf des Amtsgerichts erfuhren sie nichts. Beim „Zentral-Justizamt für die britische Zone“, das die Verschollenenliste herausgab, hatte es ein Informationsdefizit gegeben.

Deshalb erklärte das Amtsgericht Hachenburg im August 1950 den Massenmörder Adolf Haas für tot. Offizieller Todeszeitpunkt: 31. März 1945. Erst 1961 erfuhren die Hamburger Staatsanwälte von diesem Todesdatum. Ein Fehler, teilten sie den Verantwortlichen sofort mit. Es nützte nichts. Aus juristischen Gründen war eine Änderung nicht möglich. Adolf Haas ist bis zum heutigen Tag offiziell seit 31. März 1945 tot.

Einen Toten muss man nicht suchen. Deshalb sahen auch mehrere Staatsanwaltschaften und Ermittler keinen Grund mehr, nach Haas zu fahnden. Eine bequeme Lösung, sie passte ohne-hin ins damalige gesellschaftliche Bild. Der kalte Krieg begann, das Jagdfieber in der Justiz konzentrierte sich auf Kommunisten und andere „Verfassungsfeinde“. Die Bedeutung von NS-Verbrechen verblasste, kein Wunder bei der personellen Situation von Ermittlern und Staatsanwälten. Noch 1958 waren 33 von 47 leitenden Beamten des Bundeskriminalamts ehemalige SS-Angehörige. 1949 noch hatte die Zahl der jährlichen Verfahren gegen NS-Verbrechen bei 3000 gelegen. 1954 schrumpfte die Zahl auf 162.

Aber vielleicht war Adolf Haas ja gar nicht tot.

"Bist Du sicher, dass Du den Adolf Haas gesehen hast?"

Jens Mayer* ist 79 Jahre alt, er will seinen richtigen Namen nicht gedruckt sehen, aber am Telefon erzählt er von seinen damaligen Erlebnissen, als hätten sie erst gestern stattgefunden. Als ein naher Verwandter seiner Familie 1953 atemlos und aufgewühlt bei seiner Mutter auftauchte, in der Wohnung in einem Dorf nahe Hachenburg, da war Mayer 13. Der Jugendliche starrte ebenso verblüfft wie seine Mutter zu dem aufgeregten Gast, dann lauschte er folgendem Dialog:

„Was glaubst du, wen ich gerade im Bus gesehen habe? Den Adolf Haas.“

„Bist du dir sicher?“

„Ich kenne doch den Adolf Haas.“

"Habt ihr miteinander gesprochen?"

„Nein, er wollte nicht erkannt werden.“

So erzählt es Mayer heute. Aber war sich der Verwandte wirklich sicher? Ja, sagt Mayer 67 Jahre später, „beide warenbei der SS, sie haben sich gut gekannt". Im Westerwald „war der Haas eine Größe“.

Eine verhasste Größe. Es gab genug Menschen, die nicht vergessen hatten, wie er Linke und Kirchenvertreter verprügelt und Juden drangsaliert hatte. Wenn er wirklich in Hachenburg gewesen wäre, dann hätte er viele Gründe gehabt, konspirativ aufzutreten. Lina Haas behauptete bis zu ihrem Tod, sie habe ihren Mann seit März 1945 nie mehr gesehen.

Wirklich nicht? Im November 2019 traf der Historiker Saß bei einer Lesung in Hachenburg einen Mann mit einer interessanten Geschichte. Seine Mutter, erzählte er Saß, habe wiederholt erklärt, sie habe Haas mehrfach nach dem Krieg in Hachenburg gesehen.

Angeblich haben frühere Häftlinge Haas erschlagen

Andererseits gibt es Volker Schmidt, geboren 1947. Auch er wandte sich an Saß, als er hörte, dass der zu Adolf Haas recherchierte. Schmidt hatte einen Großteil seiner Kindheit im Hause Haas verbracht, wo Lina und ihre Schwester Emmy zusammenwohnten. Schmidts Vater war eng mit Emmy Haas befreundet. „Emmy“, sagt Schmidt am Telefon, „hat mir mal erzählt, dass Adolf Haas von befreiten Häftlingen erschlagen worden sei. Ein ehemaliger Kamerad von Haas habe es aus seinem Versteck beobachtet und ihr so berichtet.“ Eine gezielt gestreute Lüge, um den lebenden Haas zu schützen? Aber Schmidt war damals fast noch ein Kind, instrumentalisiert man einen Zehnjährigen bei so einem Thema? „Ich hatte nie den Eindruck, dass Emmy bewusst gelogen hatte“, sagt Schmidt.

Diese widersprüchlichen Geschichten gehören zum mysteriösen Fall Haas.

Auch die Suche nach ihm war nicht endgültig beendet. Doch sie war eine Mischung aus Aktionismus und Gleichgültigkeit. 1956 übernahm der  Frankfurter General-Staatsanwalt Fritz Bauer mit seinen Mitarbeitern die Fahndung nach dem KZ-Kommandanten Haas, weil er in ihm einen Mordgeholfen Eichmanns vermutete. Das offizielle Todesdatum ignorierte der Jurist, der durch seine Hartnäckigkeit  die Auschwitzprozesse ermöglichte. Teil der intensiven Ermittlungen war die Kontrolle von Lina Haas' Post durch das LKA. Auch sie selbst wurde überwacht. Doch von Adolf Haas, gesucht wegen Mordes, keine Spur.

Nur zwei Monate später freilich stellte jener Frankfurter Oberstaatsanwalt, der Lina hatte Haas hatte überwachsen lassen, die Ermittlungen abrupt ein. Seine kuriose Begründung: Haas sei tot. Warum er die Suche in Wirklichkeit hatte abbrechen lassen, weiß niemand.

Ebenso abrupt leitete Monate später sein Nachfolger die Suche nach Haas wieder ein. Diesmal wurden die Töchter von Adolf Haas überwacht, allerdings so dilettantisch, dass nichts dabei heraus kam. Als 1962 auch noch die Staatsanwaltschaft Köln Ermittlungen gegen Haas aufnahm, hofften die Juristen, dass auch Historiker wichtige Erkenntnisse liefern würden. Vergeblich, die deutschen Geschichtsforscher interessierten sich zu dieser Zeit kaum für NS-Täter und die Massenverbrechen. Zudem gingen auch hier Kriminalbeamte so amateurhaft vor, dass nichts Verwertbares herauskam.

Adolf Haas blieb verschwunden.

Und bis heute ist unklar, ob er noch lebte, als zumindest das so genannte "Biest von Bergen-Belsen" vor Gericht stand. Josef Kramer, letzter Chef des KZ, zuvor Kommandant in Auschwitz, erhielt am 17. November 1945 sein Todesurteil. Einen Monat später starb er im Gefängnis Hameln am Galgen.

*Name geändert

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