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Neu-Fleisch aus Uralt-Pilz: „Koji Chunks“ aus Berlin-Adlershof sorgen für Schweinenacken-Saftigkeit
Durchbruch beim Fleischersatz? Keine Zusatzstoffe und nur eine Zutat stecken in den Häppchen, deren Textur dem Tierverzehr verblüffend nahekommt.
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In einer Schüssel in einem Konferenzraum in Adlershof türmen sich faserige Häppchen. Vielleicht würde man auf Schweinenackensteak tippen, bekäme man sie im Restaurant vorgesetzt. Saftige, mürbe Fleischstücke jedenfalls, in zwei bis drei Zentimeter große Stücke geschnitten und in der Pfanne braun gebrutzelt.
Aber natürlich ist es kein Fleisch. Warum sollte man sich bei „Nosh Biofoods“, einem Start-up auf dem Gelände des Wissenschafts- und Technologieparks in Adlershof, damit befassen? Die 590 Unternehmen, die sich auf dem Areal in Berlins Südosten angesiedelt haben, forschen an der Zukunft: Fotovoltaik, erneuerbare Energien, Biotechnologie – diese Richtung.
Da passt Fleisch schwer rein. Seit etwa 11.000 Jahren, als die Menschen die ersten Tiere züchteten, um sie zu schlachten und zu essen, gibt es bei diesem Ur-Nahrungsmittel kaum etwas revolutionär Neues zu erfinden.

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Zwar haben sich die Systeme seiner Erzeugung verändert (grob gesagt: weniger Weide, viel mehr Stall). Die schiere Dimension ebenfalls. Weltweit werden nach Schätzungen von „Our World in Data“, einem an der Universität von Oxford angedockten Datenprojekt, jeden Tag etwa 202 Millionen Hühner geschlachtet, dazu 12 Millionen Enten, 3,8 Millionen Schweine, 1,7 Millionen Schafe, 1,4 Millionen Ziegen und 900.000 Rinder – 371 Millionen Tonnen Fleisch ergab das laut Welternährungsorganisation im gesamten Jahr 2023, mehr als je zuvor.
Nur ist ein Rinderfilet oder ein Schweinebauch heute eben noch exakt dasselbe wie in der Steinzeit, als die Menschen Bauern wurden: Muskelfasern, umgeben von Bindegewebe und Fett, je nach Tierart und Körperteil in unterschiedlicher Zusammensetzung.
Vision hinter den faserigen Häppchen: „tierfreie Ernährung“
Was man hier in Adlershof, im ersten Stock eines Gebäudes mit Laboren hinter jeder zweiten Tür, im Sinn hat, ist dann auch das glatte Gegenteil von Fleisch. Es ist sein Ende. „Wenn wir die Lebensmittelherstellung nicht komplett neu denken“, sagt Tim Fronzek, einer der Gründer von Nosh Biofoods, „wird es unmöglich sein, den Klimawandel lebenswert zu begrenzen.“ Seine Lösung: die „tierfreie Ernährung“.
Aus dem Stand hält der 44-Jährige einen Vortrag, der die ganz großen Themen unserer Zeit zusammenbindet. Treibhausgas-Emissionen, Dürren, Jahrhundertunwetter, die Abholzung der tropischen Regenwälder, der in schwindelerregendem Tempo fortschreitende Verlust der Artenvielfalt – und die Rolle, die der Fleischhunger der Menschen dabei spielt.

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Was Fronzek sagt, ist wissenschaftlich weitgehend unstrittig. Die Herausforderung: Das globale System der Lebensmittelerzeugung ist ineffizient. Nicht nur wird heute bereits auf der Hälfte der bewohnbaren Oberfläche der Erde Landwirtschaft betrieben. Diese Agrarflächen werden auch noch zu rund drei Vierteln genutzt, um Tiere auf ihnen zu halten oder Futter für Tiere anzubauen. Und obwohl die Tierhaltung für etwa die Hälfte der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist, die bei der Lebensmittelproduktion entstehen, liefern tierische Produkte nur etwa 18 Prozent der Kalorien, die die Menschheit ernähren.
Warum also nicht auf den Umweg übers Tier verzichten? Und die Menschen, von denen es nach UN-Schätzungen im Jahr 2050 etwa 9,7 Milliarden – noch mal ein Fünftel mehr als heute – geben wird, direkt mit Pflanzen satt machen? Würden alle Menschen über Nacht zu Veganern, so eine Berechnung von Our World in Data, würde sich die weltweite Agrarfläche von 4 Milliarden auf 1 Milliarde Hektar reduzieren.
Schöner Biss: saftig, mit dem richtigen Kau-Widerstand
Genau diese Ernährungswende im ganz großen Stil sollen die Häppchen in der Schüssel nun ein klein bisschen realistischer – und reizvoller machen. „Koji Chunks“ heißt das Produkt von Nosh Biofoods, das in Kürze in Kooperation mit Gutfried, einer großen deutschen Fleisch- und Wurst-Marke, in Supermärkte und Discounter kommen wird. Was schon zeigt: An der veganen Nische ist man eher nicht interessiert. Die Koji Chunks sollen alle überzeugen, auch eingefleischte Fleischfans. Also erst mal zubeißen.

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Der Biss ist gut. Saftig, faserig, mit dem richtigen Kau-Widerstand, tatsächlich ganz ähnlich wie bei mürbem Schweinefleisch. Aber das heißt noch nichts – oft enttäuscht Fleischersatz hinten raus. Weil die Textur im Mund komisch wird, oder weil der Geschmack nach ein paar Sekunden eine merkwürdige Richtung einschlägt. Das hat mal was von rostigen Eisennoten, mal von nasser Pappe.
Es ist das größte Problem von Produkten aus Soja- oder Erbsen-Proteinen, wie sie seit Jahren auch in den Regalen gängiger Supermärkte liegen: dass diese Grundzutaten allesamt einen fleischfremden Eigengeschmack mitbringen, den man bei der Herstellung zu überdecken sucht, was aber nie ganz klappt.
Bei den Koji Chunks ist es anders, denn sie bleiben aromatisch von Anfang an blass – was ihre Erfinder als Qualitätsmerkmal verstanden wissen wollen. Eine dezente Herzhaftigkeit, dazu vielleicht ein Hauch von Hühnchen, das war’s. Im Vordergrund steht die überzeugende Textur und die sehr ordentliche Saftigkeit. Den Rest steuern Koch oder Köchin mit Saucen und Gewürzen bei – uns werden die kross gebratenen Stückchen zur Verkostung mit veganer Mayonnaise und Guacamole serviert, was gut aufgeht. Neben den puren Häppchen wird es auch fertig gewürzte und marinierte Varianten zu kaufen geben.
In Nährflüssigkeit wächst Pilzmyzel binnen 48 Stunden
Wie der schöne Biss gelingt, verrät der Blick ins Labor nebenan. Mehrere Glaszylinder stehen dort, in ihnen eine milchig schimmernde Flüssigkeit, die permanent von Rührern in Bewegung gehalten wird. In diesen Mini-Bioreaktoren wachsen lange Pilzmyzel-Fasern des japanischen Fadenpilzes Koji, der seit Jahrtausenden in der japanischen Küche unverzichtbar ist, etwa bei der Herstellung von Sojasaucen und Miso-Würzpasten.
Chemisch gesehen funktioniert es in Adlershof ganz ähnlich. Die Flüssigkeit in den Zylindern enthält Zucker, der vom Koji verstoffwechselt wird – durch Fermentation. Nach 48 Stunden muss man seine proteinreichen Fäden nur noch aus dem Wasser fischen und zu einem mehr oder weniger festen Knäuel ausdrücken. Ausgedacht hat sich das Ganze Mitgründer Felipe Lino, der einst für bestimmte Fermentationsprozesse bei AB InBev, einem der größten Braukonzerne der Welt, zuständig war.
Produziert wird dann künftig auch nicht im Labor, sondern in einer ehemaligen Brauerei in Sachsen. Perspektivisch sollen sich die Pilze von Nebenprodukten der Lebensmittelherstellung ernähren, etwa dem stärkehaltigen Waschwasser von industriell verarbeiteten Kartoffeln.

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Tim Fronzek, der bereits „Rebuy“ mitgründete und den Second-Hand-Onlinehandel für Bücher und Elektronikartikel zu Beginn der Corona-Pandemie verließ, glaubt, dass sein Team und die Koji-Happen noch aus einem anderen Grund den Geschmack der Zeit treffen könnten. Weil sie, jedenfalls in der puren Variante, nur aus einer einzigen Zutat bestehen, eben dem japanischen Pilz, und deshalb auch weder Stabilisatoren, Emulgatoren noch Geschmacksverstärker enthalten.
Den langen Zutatenlisten auf Fleischersatz-Packungen begegneten Verbraucher zunehmend skeptisch, so Fronzek. Auch deshalb machen selbst Branchenriesen wie Beyond Meat nach anfänglicher Euphorie mittlerweile wirtschaftlich schwere Zeiten durch. Der Wert des US-amerikanischen Herstellers hatte sich nach dem viel beachteten Börsengang 2019 innerhalb weniger Monate vervierfacht. Dann brach der Kurs um mehr als 95 Prozent ein, heute kostet eine Aktie weniger als vier Dollar – zu Spitzenzeiten waren es über 200.
Magnus Naess, ein vegan arbeitender Koch aus Schweden, der den Koji Chunks erstmals vor zwei Jahren bei einem Event in Stockholm begegnete, findet am Telefon große Worte. „Kein anderes Fleischersatzprodukt hat meinen inneren Fleischesser je so befriedigt wie sie“, sagt er. Man könne alles aus ihnen machen: Schnitzel, Chicken-Nuggets, sogar Speck oder Thunfischstücke ließen sich nachbilden. Das Beste: „Man hat weder irgendwelche Zusätze noch diese unangenehmen Off-Noten wie bei anderen Fleischersatzprodukten.“
Gut, das muss der Mann auch sagen, er arbeitet mittlerweile als Berater für Nosh Biofoods. Am besten also, man probiert demnächst einfach selbst. Irgendwann in den kommenden zwei Monaten sollen die Häppchen in den Supermarkt-Kühlregalen liegen.
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