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„Behauptung der Unwissenheit der Deutschen zurückgewiesen“: Historikerin Heike Krösche über den Tagesspiegel und den Nürnberger Prozess 1945
Hier im Wortlaut die drei Fragen, die wir der Geschichtswissenschaftlerin zu unserer Archiv-Recherche zum Hauptkriegsverbrecherprozess gestellt haben, und ihre Antworten.
Stand:
Sie befassen sich in Ihrer Dissertation unter anderem mit dem Tagesspiegel und stellen Tagesspiegel-Artikel u.a. von Lotte Deinert, Walther Karsch, Peter de Mendelssohn und Erik Reger als bemerkenswert oder exemplarisch heraus. Wie würden Sie die Tagesspiegel-Berichterstattung zum Hauptkriegsverbrecher-Prozess zusammenfassend charakterisieren, gern im Vergleich zu den anderen Zeitungen, die Sie untersucht haben?
Die Relevanz der regionalen Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ für die Presseberichterstattung über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ergibt sich aus der Gesamtsituation des im Wiederaufbau befindlichen Pressewesens 1945 und der Informationspolitik der Alliierten in Zusammenhang mit der Berichterstattung über das Verfahren. Der Aufbau der Presselandschaft nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes unterlag der jeweiligen Besatzungspolitik und war an die Vergabe von Lizenzen gebunden.
Das bedeutet, dass der Nürnberger Prozess von den Medien gezielt als internationales Medienereignis inszeniert worden ist. Im Gerichtssaal standen 240 Sitzplätze für Pressevertreter aus mehr als 20 Ländern zur Verfügung, die sich im Rotationsverfahren abwechseln mussten. Dabei hatten die internationalen Journalisten Vorrang gegenüber den deutschen, obwohl letzteren für das zentrale Ziel der Alliierten, die deutsche Nachkriegsöffentlichkeit über die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen aufzuklären, eine zentrale Vermittlerfunktion zukam.
Herausfordernd waren zudem die Verfügbarkeit von Druckereien und der Papiermangel. Dementsprechend waren in den vier Besatzungszonen nur wenige Zeitungen mit geringem Umfang und nur an ausgewählten Tagen in der Woche verfügbar, während gleichzeitig das Informationsbedürfnis der Bevölkerung groß war. Hier ist der Tagesspiegel einzuordnen, der um eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von Anfang an bemüht war und zu den Lizenzzeitungen im Nachkriegsdeutschland gehörte, die am umfassendsten über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess berichteten.
Bei einer inhaltlichen Bewertung der deutschen Prozessberichterstattung ist zu berücksichtigen, dass deren sachliche und objektive Ausrichtung von den Besatzungsbehörden angeordnet worden war und kontrolliert wurde. Obwohl dementsprechend die Berichte im Tagesspiegel insgesamt kaum analytisch waren, wurden in dieser Zeitung im Vergleich zu anderen deutschen Presseorganen relativ viele Meinungsäußerungen veröffentlicht.
Wenn man sich die inhaltliche Schwerpunktsetzung ansieht, fällt im Tagesspiegel wie in den anderen Zeitungen eine gewisse Faszination für die Nürnberger Angeklagten insbesondere zu Beginn des Prozesses auf. Im Laufe des Verfahrens waren die Berichte im Tagesspiegel dann bemüht, insbesondere die Rechtfertigungsstrategie von Hermann Göring zu entlarven.
Die Legitimität des Gerichtshofes und der Rechtsgrundlage des Verfahrens spiegelten sich im Tagesspiegel vor allem in der Anerkennung der Arbeit der Verteidiger der Nürnberger Angeklagten wider. Im Unterschied zu anderen Prozessberichten tat sich der Tagesspiegel dabei auch mit einer Kritik an der Verteidigungsstrategie hervor. Da Kritik am Verfahren nicht zulässig war, stellt das eine Besonderheit dar.
Äußerst kontrovers wurde in der deutschen Nachkriegsöffentlichkeit die Frage verhandelt, welche Mitverantwortung und Mitschuld die deutsche Gesellschaft an den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen trägt. Während sich die zu diesem Zeitpunkt rechtskonservativ ausgerichtete Wochenzeitung „Die Zeit“ zu der Frage mit der Einordnung der Deutschen als Opfer des Nationalsozialismus sehr klar positionierte, vermieden andere deutsche Pressorgane das Thema.
Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass der Tagesspiegel die behauptete Unwissenheit der deutschen Bevölkerung deutlich zurückwies und die Opferperspektive ablehnte. Besonders hervorzuheben ist ein Beitrag von Lotto Deinert, in dem sie aus einer spezifisch weiblichen Perspektive kritisch über die Schuldfrage reflektiert und fragt, ob Frauen dem Unheil, das vom „Männerstaat“ ausging, nicht stärker hätten entgegentreten können.
Insgesamt bemühte sich der Tagesspiegel in seiner Berichterstattung über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher um eine ausgewogene Haltung zwischen den strengen Vorgaben der Besatzungsbehörden und einer kritischen Einordnung des Prozessgeschehens. Dieses Bild wird auch durch die Reaktionen auf die Urteilsverkündung bestätigt. Das Urteil wurde als ausgewogen begrüßt und davon die Notwendigkeit abgeleitet, sich mit der Urteilsbegründung kritisch auseinanderzusetzen. Einer „Schlussstrich“-Mentalität wurde damit in keiner Weise Raum gegeben.
Gab es seit dem Erscheinen Ihrer Dissertation und Ihres Aufsatzes weitere Veröffentlichungen und neue Erkenntnisse zum Thema Medien/Öffentlichkeit und Hauptkriegsverbrecher-Prozess, von Ihnen oder von anderen Forscher:innen? Und wenn ja, haben diese Ihre Sicht auf das Thema und Ihre Schlussfolgerungen noch einmal verändert/ergänzt?
Obwohl es in den vergangenen Jahren weiterhin viel Forschungsarbeit und entsprechende Publikation zur juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen gegeben hat, ist der spezifische Aspekt der öffentlichen Wahrnehmung kaum weiter beleuchtet worden. Mir persönlich war in diesem Zusammenhang immer eine differenzierte Darstellung wichtig. Die Berichterstattung über den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ist nicht zu verstehen, ohne die besonderen Rahmenbedingungen der Lizenzpresse in der unmittelbaren Nachkriegszeit einzubeziehen. Auch das geringe Interesse der deutschen Bevölkerung an den Prozessereignissen und der Berichterstattung darüber muss zur Informationspolitik der Alliierten und den Lebensbedingungen der Zusammenbruchgesellschaft in Beziehung gesetzt werden, ohne das Desinteresse zu beschönigen.
Planen Sie weitere Forschungen und Publikationen zum Thema oder sind Ihnen derzeit laufende Forschungen und kommende Publikationen zum Thema durch Kolleg:innen bekannt?
Ich habe 2016 in der Zeitschrift „Damals“ noch einmal einen Überblick über die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher für ein breiteres Publikum publiziert. Darüber hinaus habe ich mich mit dem Umgang mit NS-Belasteten und NS-Tätern in den 1960-er Jahren an den Beispielen von Wilhelm Boger und Erwin Schüle beschäftigt. Im Anschluss daran habe ich mich mit der Fachdidaktik einem anderen disziplinärem Feld zugewendet und beschäftige mich seit einigen Jahren mit Fragen der Demokratiegeschichte und Erinnerungskulturen vorwiegend in Verbindung mit historischen und politischen Lernprozessen.
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