
© Tsp-Archiv
„Der Machtkomplex“: Leitartikel des Tagesspiegel-Gründers vom 4. Dezember 1945
Erik Reger schrieb gut zwei Monate nach Erscheinen der ersten Tagesspiegel-Ausgabe über Moral, Recht und Macht sowie über die Aufgabe von Politik und Journalismus, die Zukunft immer mitzudenken.
Stand:
„Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit“. So lasen die Pariser an einem feuchtgrauen Dezembermorgen 1793 über einer der Proklamationen, die sich unter der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses folgten wie ein Hagelschauer dem anderen, und mit dem stupiden Automatismus der zum Guillotinerummel erniedrigten Ideale die französische Nation als Auftraggeber der Diktatur und des Schreckens hinstellten. Die Leute hatten längst darauf verzichtet, sie zu beachten; sie fanden es überflüssig, sich unter einem notgedrungen aufgespannten Regenschirm nach dem Wetter zu erkundigen. Aber diesmal enthielt die Proklamation etwas Neues, denn der Drucker hatte einen Punkt gesetzt, wo bisher niemals einer gestanden hatte. Freiheit, Punkt. Gleichheit, Punkt. Brüderlichkeit, Punkt. Punkt heißt französisch point. Point heißt aber unter Umständen auch „keine“. Der Volkswitz, der aufsteht wie ein säuselnder Wind, ohne daß man je wüßte, welchem Busch, welchem Teich, welchem Wiesental er entsprungen sei, sah solche Umstände hier gegeben. Er las den Punkt also mit und übersetzte ihn in sprachlichen Ausdruck: „Freiheit — keine. Gleichheit — keine. Brüderlichkeit — keine.“ Die Anekdote, die das überliefert, birgt besser als Talliens Anklage im Konvent den Schlüssel zum 28. Juli 1794, dem Tage der Hinrichtung Robespierres, und damit zum späteren Einbruch des Generals Bonaparte in die Staatsgeschäfte.
Es ist, mit einem Wort, der Dispens von den Moralgesetzen, der immer zum Untergang führt, gleichgültig, in welchem Namen er beansprucht wird, gleichgültig, ob er den nackten Machttrieb, schmähliche Willkür oder Vernunft und Ordnung durchsetzen soll. Machiavelli, der eigentlich niemals so „machiavellistisch“ gewesen ist wie zwei- bis dreitausend Jahre vor ihm die Könige David und Artaxerxes, trägt trotzdem die Verantwortung für all das Mörderische, das sich auf ihn gegründet hat. „Wer die Alleinherrschaft an sich reißt und den Brutus nicht tötet, oder wer eine Republik gründet und die Söhne des Brutus nicht tötet, wird sich nur eine kurze Frist halten“, behauptet er in den „Discorsi“. Nach dem ersten Teil des Satzes suchte Hitler zu verfahren. Nach dem zweiten Teil hat sich die Republik von Weimar bewußt nicht gerichtet. Gescheitert ist der eine wie die andere (und eigentümlicherweise fast im gleichen Zeitraum) an Ursachen, die weit abseits liegen von der Ebene der praktischen Machtpolitik. Weder das „Dritte Reich“ noch die Weimarer Republik war aus einer echten Revolution geboren. Sie waren beide geboren aus Ueberraschung und Angst aus der Verwirrung des Augenblicks, aus der Rat- und Grundsatzlosigkeit einer Menge, die immer denen nachläuft, die eine Fahne tragen und den Erfolg für sich buchen; sie waren beide ein Produkt der Verhältnisse, eine riesenhafte Anschwemmung von Treibholz, das einer Bucht zustrebte, die es auffangen konnte, waren beide gestützt auf majestätische Versprechungen, lebten beide „nach Lage der Dinge“ und gaben beide die alten Gesichtspunkte, gefärbt, vergrößert und umbenannt, für neue Prinzipien aus. Es ist hart, hier keinen Unterschied machen zu können, ausgenommen den des persönlichen Charakters — die Reaktionäre von 1933 waren ebenso tückisch, brutal und hemmungslos wie die Revolutionäre von 1918 harmlos, gewissenhaft und unentschieden waren; aber der Augenblick ist zu ernst, als daß man nach irgendeinem Beiwerk greifen dürfte, um den bitteren Geschmack des Wesentlichen abzuschwächen.
Ausländische Beobachter entdecken heute — sie sagen: „sogar heute noch“ und meinen: eigentlich wäre es nun, da das größte Chaos sich zu lichten beginnt, doch wohl an der Zeit — im deutschen Volk kein politisches Interesse, und je nach Einsicht und Urteilsfähigkeit wundern sie sich oder nennen sie Gründe. Die zwölfjährige Entwöhnung von der tätigen Anteilnahme am politischen Leben ist einer, die materielle Not, die, da Menschen nun einmal keine ätherischen Geschöpfe sind, alle seelischen und körperlichen Kräfte auf sich zieht, ein anderer der möglichen Gründe. Ausschlaggebend ist ein dritter, der auch in Eisenhowers letztem Monatsberichte Erwähnung findet. Den Parteien, soweit sie bestehen, gelingt es nicht, das Volk aufzurütteln, mitzureißen und an sich zu fesseln. Sie haben keine Gedanken, die über die von gestern hinauswiesen; keine Strenge des Wortes, die in einem so oft getäuschten Volke Glauben und Vertrauen wecken könnte; keine kompromißlos programmatische Treue, die sich an den auftauchenden Fragen bewährte (diese noch am ehesten bei den Kommunisten und Sozialdemokraten); keine mutige Klarheit der Persönlichkeit, die für Gegenwart und Zukunft, statt bestenfalls aus der Vergangenheit heraus, lebendiges Vorbild wäre, gelebter Beweis für die Freiheit, das Recht und die Menschlichkeit, die in unverbrüchlicher Dreieinigkeit jedem demokratischen Gesetz an die Stirn geschrieben sein müssen. General Eisenhower faßt die Stimmung des Volkes sehr klar zusammen: „Weite Kreise der Bevölkerung glauben, daß die Parteien und die Führer, die heute in den Vordergrund treten, weitgehend die gleichen sind, die seinerzeit unfähig waren, die Probleme der Weimarer Republik zu lösen oder die Machtergreifung durch Hitler zu verhindern, und daß diese Personen wenig zu bieten haben, was konstruktiv erscheinen könnte.“
Gemeinhin ist es ein Aktivum, wenn man von jemandem sagt, er sei der alte geblieben. Heute ist es leider ein Passivum, und wir sind gewiß, daß wir von denen, die es betrifft, wieder mißverstanden werden. Wir sind weit davon entfernt, ihnen Böswilligkeit zu unterschieben; sie können uns nicht verstehen, denn wenn sie uns verstünden, wären sie nicht die, die sie sind. Aber es hat ja keinen Zweck zu verschweigen, daß sich hier nicht zwei Auffassungen, sondern zwei Welten gegenüberstehen. Wir haben in der Sonntagsnummer den früheren Reichstagspräsidenten Löbe sich aussprechen lassen. Wir schätzen ihn und erinnern uns seiner menschlichen Sauberkeit ebenso freundlich wie des taktischen Geschickes, womit er eine parlamentarische Körperschaft dirigierte, die einzig dazu da zu sein schien, durch öffentliche Gestikulation die Aufmerksamkeit von dem abzulenken, was sich inzwischen hinter den Kulissen vollzog. Desto mehr erschüttert es uns zu sehen, wie Lobe sich in die Schilderung von Details verliert, die vielleicht wiederum irrige Details richtigstellt, die aber nur um so klarer die entscheidende Grundthese bestätigt. Es kommt nicht darauf an, unter welchen Umständen ehemals der Anschluß Oesterreichs an Deutschland propagiert wurde, oder welche Politiker aus dem österreichischen Lager dabei beteiligt waren. Es kommt auf die Erkenntnis an, daß die Idee des Anschlusses unter allen Umständen ein politischer Fehler war, und daß ein Politiker das schon damals, nicht erst nach 1938, hätte wissen sollen. Politik ist die Kunst, die Dinge dahin zu leiten, wohin sie unter dauernden Aspekten müssen, nicht dahin, wohin sie unter zeitlichen Bedingungen wollen, eine Sache sowohl der Klugheit wie der Wissenschaft, der Wahl sowohl wie der Ueberlegung, des Urteils sowohl wie des Beweises. Denn gleich dem Journalisten setzt sich der Politiker aus drei Wesen zusammen. Er ist Chronist, indem er die Ereignisse verzeichnet. Er ist Betrachter, indem er sie wägt und deutet. Er ist Sinn- und Gesetzgeber, indem er aus ihnen die geschichtsbildenden Elemente ausliest und danach die Richtung zukünftiger Wege bestimmt. So wie der Journalist schreiben muß, muß der Politiker handeln: als seien die Dinge, die er kommen sieht, bereits geschehen. Ihre Tragweite, die ein weniger gut überschauender und weniger stark erkennender Geist erst nachträglich, oft auch dann schwer, zu datieren vermag, hat er schon im Augenblick ihres Entstehens zu erfassen.
„Wo das Jahrhundert sinkt, muß man es stützen“, sagte Joubert. Wie aber, wenn niemand merkt, daß es sinkt? Nicht, um eine Polemik fortzusetzen, haben wir bei dem österreichischen Beispiel verweilt, sondern weil es so typisch ist und die Auseinandersetzung darüber Fruchtbares zeitigen kann. Wir hätten auch den Fall Mierendorff wählen können. Auch hier berichtet Löbe eine Einzelheit, ohne die Hauptsache umzustoßen oder auch nur Wert darauf zu legen, sie umzustoßen. Abermals ein Beweis dafür, wie trotz aller Versicherungen, man könne nicht mehr an die Zeit vor 1933 anknüpfen, Wortführer der alten, wieder aufgelebten Parteien sich in den Bahnen jener Zeit fortbewegen. Statt, zu den nationalsozialistischen Reichstagsbänken gewandt, zu betonen: unsere Abgeordneten haben den wilhelminischen Krieg mitgemacht, während ihr euch gedrückt habt, statt dessen hätte die Sozialdemokratie den charakterlichen Mut sowohl wie den politischen Instinkt aufbringen müssen, eine solche Argumentierung von sich zu weisen und zu sagen: ihr habt euch aus schmutzigem Egoismus gedrückt, wir aber haben in bewußter Gegnerschaft aus Motiven der Vernunft, der Politik und der Ethik nicht mitgemacht, und das allein berechtigt zu gutem deutschem Stolz.
Principiis obsta. Zweimal hintereinander haben wir es erlebt, daß Deutschland dem Abgrund zugeführt wurde, weil niemand den Anfängen dazu widerstand. Darum sprechen wir; wir sind nicht daran interessiert, daß eine Gruppe gegen die andere siegt, sondern daß wir das Rechte tun und alle Binden von den Augen genommen werden. Genau so, wie wir diejenigen ablehnen, die nicht gewillt sind, jemals einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, genau so bestehen wir darauf, diejenigen Episoden aus dem Schutt der Vergangenheit hervorzuholen, aus denen gelernt oder durch die gewarnt werden kann. Glücklicherweise sind wir uns alle darin einig, daß das Kommende nicht auf der Unaufrichtigkeit aufgebaut sein darf, die wie ein Mühlstein an allen Handlungen der Weimarer Republik hing — vom Kampf gegen die „Kriegsschuldlüge“ angefangen, über die geheimen Waffenlager, die Schwarze Reichswehr, die Auslandsanleihen, mit denen man hinterher den verlorenen Krieg doch noch gewinnen wollte (sie waren angeblich aufgenommen, damit man Reparationen zahlen konnte, dann zahlte man weder Reparationen noch die Anleihen zurück), bis zum Regieren mit dem Paragraphen 48 einer Verfassung, die gefälligerweise mit diesem Paragraphen ihre Willfährigkeit erklärt hatte, sich einfach aufheben zu lassen. Es ist wie ein Symbol, daß die Ziffer des Paragraphen an das Jahr erinnert, in dem die deutschen Demokraten ihren „Völkerfrühling“ in dunkelsten Winter verwandeln ließen.
Gewisse Tageserscheinungen aber rufen allzu sehr das Gedenken an die Gründung der „Deutschen Staatspartei“ wach, jenen Versuch, aus zwei Wracks ein Schiff zu bauen. Gewisse Kreise, die sich als Märtyrer aufspielen, fordern allzu sehr historische Wahrheiten heraus, wie die, daß das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold einmal eine ungeheure Macht ungenützt in Händen hatte und Jahre eifrigster Arbeit damit krönte, daß es sich, als der kritische Moment gekommen war, durch einen Schein von Legalität der Usurpatoren, der auch als Schein nur mikroskopische Formen hatte, düpieren ließ und nicht binnen Tagen, nicht binnen Stunden, sondern binnen Minuten die Segel strich und von der Bildfläche verschwand. Andere wieder sehen wir zurückkehren, die im Frühjahr 1933 als Gewerkschaftler so ungeheuer weitblickend waren, daß sie glaubten, wenn sie nur recht scharf den Trennungsstrich gegen die sozialistischen Parteien zögen, blieben sie zugelassen, und die sich dann am 1. Mai Büros, Kassen und Mitglieder rauben ließen, nachdem ihnen durch einen raffinierten, aber im Grunde voraussehbaren Schachzug der 1. Mai als Arbeiterfeiertag ebenso gestohlen worden war wie das Geld. Sie alle erklären: wir haben gelernt, und wir zweifeln nicht daran, daß sie gelernt haben. Aber um das Volk davon zu überzeugen, müßten sie das Gegenteil von dem tun, was sie heute tun. Sie beanspruchen Machtfülle und Ausschließlichkeit, sie sind unduldsam und empfindlich gegen Kritik — „wer darüber anders berichtet, tut das in Unwissenheit oder wider besseres Wissen“, lasen wir in einer Berliner Zeitung anläßlich des sozialdemokratischen Parteitages in Hannover —, sie beten an, was sie verbrannt haben (während sie sogar einiges von dem verbrennen sollten, was sie angebetet haben), und sie sind auf dem besten Wege, sich mit den nämlichen Eigenschaften darzustellen, die sie bei ihren verflossenen Widersachern mit Recht so übel vermerkt haben.
Das öffentliche Leben in Deutschland, soweit es vorhanden ist, krankt daran, daß der Machtkomplex, integrierender Bestandteil im Denken und Leben der meisten Deutschen, nicht überwunden ist. Es genügt eine Uniform, ein Schalter, eine Ladentheke, ja ein Schreibtisch, um den Bazillus virulent zu machen. Leider klingt es nur paradox und ist es nicht, wenn man sagt, daß dort, wo lauter Vorgesetzte zu finden sind, auch nur lauter Untergebene erwartet werden können. Rudolf Virchow, als fortschrittlicher Politiker nicht minder groß denn als fortschrittlicher Arzt, meinte am 28. Januar 1863 im Abgeordnetenhaus: „Ja, meine Herren, es gibt eine Art von preußischer Sprache; das ist diejenige, welche die Herren vom Ministertisch gegenwärtig reden. Es ist aber die Sprache, welche man in der ganzen Welt nicht versteht“ . Der Ministerpräsident, der am Ministertisch saß, hieß Bismarck. Zwar hat er die ihm später zugeschriebene Aeußerung „Macht geht vor Recht“ niemals wörtlich getan; aber er ist und bleibt der Prototyp eines Wesens, das das Gesetz aus der Macht entwickelt, statt, wie es andere Völker tun, die Macht aus dem Gesetz. Und in dieser Beziehung will uns scheinen, daß die Entwicklung seit der Entfernung der Hitlerischen Regierung auf der Stelle tritt und die schönen, viel gebrauchten Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit mit dem ominösen Punkt versehen werden, der zwar nur auf französisch einen Sinn gibt, aber wahrscheinlich besser auf Deutschland paßt. Die Geschichte der Völker, die dem Despotismus verfallen sind, ist eben nur eine Anekdotensammlung.
Nicht so, daß der Machtkomplex bei uns keine Gegenspieler gehabt hätte. Jedoch Geist und Intelligenz, die einen Teil von ihnen stellen, setzen sich oft schwer in die Robustheit der Praxis um, und der andere Teil bestand aus hoffnungsgeschwellten Schwärmern, die auf der Wartburg und dem Hambacher Schloß Verbrüderungsfeste feierten, dem Charakter nach Vorfahren derjenigen, die mit Sängerfesten den österreichischen „Anschluß“ fördern wollten. Am 125. Geburtstag von Friedrich Engels wurde in diesen Spalten angedeutet, daß die deutsche Geschichte vielleicht anders verlaufen wäre, wenn politische Naturen wie er führend geworden wären. Daraus, aus dem Mangel an wirklich politischen und der Fülle von mehr prophetisch-doktrinären Naturen, folgt die Ohnmacht der Gegenspieler des Machtkomplexes. Engels, Marx (und Hegel, der selbstverständlich dazugehört) waren alle drei Deutsche. Nehmen wir als vierten Bismarck hinzu, so haben wir eigentlich alle Komponenten des historischen Ablaufs beisammen. Wir können und dürfen nicht davon ablassen, Deutsche so zu betrachten , wie sie vom deutschen Standpunkt und im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte nach unserer Meinung betrachtet werden müssen, falls es von Nutzen sein soll. Wenn schon Gracians Wandorakel erkannte, es gehöre jetzt mehr zu einem Weisen, als in alten Zeiten zu sieben, und es sei mehr erforderlich, um mit einem einzigen Menschen fertig zu werden, als vordem mit einem ganzen Volk, so wollen wir dreihundert Jahre später wenigstens danach handeln.
- Berlins Zwanziger Jahre
- Erik Reger
- Kunst in Berlin
- Nationalsozialismus
- SPD
- Zweiter Weltkrieg und Kriegsende
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: