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„Entfesselte Kritik“ : Tagesspiegel-Artikel von Friedrich Luft zum Jahreswechsel 1945/46
Im Feuilleton der drei Monate zuvor gegründeten Zeitung fordert der bald darauf beim Rias tätige Film- und Theaterkritiker „die neue und wahrhafte Kunst aus dem Schutt dieser Tage“.
Stand:
Die Kritik ist los! 1933 an Ketten gelegt, 1937 vollends eingekerkert und durch eine läppische „Kunstbetrachtung“ ersetzt — die Kritik ist los! Und da steht sie nun in ihrer neuen Freiheit, steht da, etwas ungläubig fast, abwartend und vorsichtig hier, oft ziellos zuschlagend und ihre neuen Möglichkeiten täppisch erprobend dort — aber im ganzen noch hilflos, blinzelnd, unsicher und ungenau.
Was fehlt, ist Sicherheit. Zu einer Zeit, da die Begriffe einer neuen freien Ordnung sich keinesfalls gefestigt haben, da die Theater ihren Standpunkt und ihr Gesicht noch nicht klären konnten, da Kunst oft genug noch mit Unterhaltung verwechselt wird — heute ist es vor allem schwer, die kritische Elle zu finden, die an das üppig aufschießende Kunstleben angelegt werden kann.
Wenn alles noch im Tasten und in der Schwebe ist, wie soll da der Kritiker schon seinen archimedischen Punkt gefunden haben? Wenn die Maler kaum zu experimentieren begonnen haben und mehr zurück als nach vorn schauen, wenn in der Musik die neue, glückliche Harmonie noch nicht aufgeklungen ist — wie soll da der Beobachter im Parkett schon entschieden und deutlich Beifall oder Abneigung kundgeben können? Noch fehlt Sicherheit allenthalben.
Und sie dürfte nicht fehlen. Gerade in Zeiten wie diesen hat der tastende Künstler den kritischen Zuruf nötig wie nie. Gerade jetzt, da mit den ernsten Arbeitern in allen Bereichen das muffige Heer der Dilettanten sich bläht und breit machen will, gerade jetzt ist die wägende, scheidende, klärende Stimme des Kritikers nötig.
Noch ist sie selten. Wer die Blätter in dieser Hinsicht verfolgt, stellt es fest: noch sind die wertvollen, kritischen Stimmen rar. Wie es so geht: es treten einige beherzte, junge Leute an die kritische Rampe -und meinen, es werde schon gut gehen, Die Schreibmaschine wird mutig gezäumt. Die beiden ersten Male unterscheiden sich die kritischen Gänge kaum von den früheren „Kunstbetrachtungen“. Wem ist aber damit geholfen? Dem Künstler keinesfalls, denn ihm wird keine Wertung zuteil. Und dem lesenden Publikum auch nicht. Es wird durch dergleichen neutralen Bericht weder unterhalten noch zu dem fraglichen Kunstwerk geführt.
Die jungen Schreiber merken das. Sie geben ihren Schreibmaschinen Zucker und setzen über die erste kritische Hürde. Sie „verreißen“, wie es so häßlich in der laxen Fachsprache heißt. Nichts leichter als das, und nichts leichtsinniger und gedankenloser. Sie fallen auf und finden schadenfreudiges Gefallen womöglich. Und das Farbband fester gefaßt und hinein — zuschlagend, Streiche versetzend links, rechts und furchtbar unter dem Feinde ...
Dem Feinde? Hier liegt ein Denkfehler; derselbe, dem man als Schuljunge unterlag, wenn man glaubte, es müsse dem Lehrer eine Wollust sein, das Diktatheft mit roten Strichen und blutigen Markierungen der Fehler zu besudeln. Fehler aufzudecken ist kein Vergnügen. Aber es ist das Brot der Schulmeister und leider auch der Kritiker auf sie hinzuweisen, keine falsche Interpunktion, keine Geschwollenheit oder Unzulänglichkeit des Ausdrucks, keinen Fehlgriff im Ton und im Takt, keine Länge, keine Undeutlichkeit, keine billige Wirkung durchgehen zu lassen und kein falsches Pathos. Schulmeisterlich sei der Kritiker nicht, denn im gleichen Augenblick hat er aufgehört ein Journalist zu sein. Aber er sei unerbittlich. Wie haben von Lessing bis Jacobs unsere wirklichen Kritiker zugebissen, wenn sie das Falsche in die Witterung bekamen! Wie konnten sie die Unzulänglichkeit bis in die letzten Winkel verfolgen und aufstöbern und hervorzerren und töten, wenn sie sie erspähten. Die Besessenheit für das Vollkommene ließ sie so erregbar werden bei Anlässen, die dem Bürger nebensächlich und unwichtig erscheinen. Nichts ist Nebensache in der Kunst. Alles ist wichtig.
Aber da sei Klarheit: Kritik ist nicht Beanstandung nur, Bemänglung oder Verharren am Verfehlten. Der Kritiker soll in sich tragen den Traum des vollkommenen Kunstwerkes, das Bild des Richtigen. An diesem Bilde wird er die jeweilige Leistung ablesen müssen, an ihm muß er messen die Realitäten des Gebildeten. Subjektiv sind damit Urteil und Messung gewiß. Aber je ernster sie sind, je wissender, um so näher werden sie dem absoluten Wert kommen. Dann entfällt auch die Furcht vor dem Lob, das zu spenden der kritische Anfänger oft so unsicher ist. „Kritik ist die Kunst zu loben“, sagt Le Gallienne. Schneller Tadel und schmissiger Verriß sind vergleichsweise billig und machen einen eitlen Lärm. Im fundierten Lob — da zeigt sich der Meister.
Aber vorerst zeigt sich häufig noch Unsicherheit. Sie mag daran liegen, daß noch nicht genügend kritische Talente im Parkett der Kunst sitzen, die auch die Sprache fest genug in der Hand haben, um tatsächlich das präzise und ohne Umschweife ausdrücken zu können, was ihnen zu sagen vorschwebt. Die journalistischen Begabungen sind oft noch zu suchen, die einen Theaterabend wiedergeben können, seinen Aufbau, seinen Duft, seine Melodie und seine falschen Töne — unterrichtend, wertend, einordnend, klärend und unterhaltend. Oft noch läuft den Schreibenden das kritische Wort davon. Oft schwemmt die sich anbietende Fülle die Klarheit mit fort Aber auch hier: Jedes Wort zuviel ist schon Lüge.
Zum anderen mag die Unsicherheit in den kritischen Bezirken daran liegen, daß ein gut Teil — man verzeihe das alte Wort — Bildung verlangt werden muß, ehe einer den Mund auftut, maßgeblich wertende Meinung zu äußern. Ein Fundus an Vergleichen muß angesammelt sein, an denen die neue Leistung abzulesen ist. Wer sich mit Theater befaßt, wird sicher in der Dramenliteratur wohnen und zudem noch die Flut unserer kritischen Schriften durchwatet haben müssen, bis er im Fluß der Meinungen seinen Standpunkt gefunden hat. Wer über Film urteilen will, sollte die Technik und Tücke dieser Zwitterkunst beherrschen, sollte am Schneidetisch wie an der Schreibmaschine zu Hause sein, um sagen zu können, ob hier oder dort wirklich das Aeußerste getan wurde, Gefühl aus Technik herzustellen. Wer von Bildern das Wort erhebt, sei taktfest in Geschichte und Leben der Malerei.
Und er soll Ehrfurcht haben. Unlängst war die Aeußerung zu einer Ausstellung neuer Kunst zu lesen, Werke im Stil der Kandinski und Klee, Bilder, zugegebenermaßen nicht recht eingängig nach zwölf Jahren malerischer Glätte und Gefahrlosigkeit. Ein junger Mann mit Rechtlichkeitsgefühl und Selbstbewußtsein erhebt die Stimme. Wie?
Er schimpft. Er wartet nicht ab. Er prüft nicht, ob die malenden Männer nicht vielleicht etwas anstreben, das ihm auf den ersten, ungewohnten Blick verborgen bleiben könnte. Er schimpft. „Schmierwerke“, las man da, „stümperhaft“, . „übelste Kunstschändungen“, „Talmikunst“. Und schließlich wird radikale Entfernung gefordert: „Fort mit den Schmierfinken!!!“ Wobei der Ueberfluß an Ausrufezeichen allein verdächtig sein sollte.
Hier sind wir auf dem Weg zurück. Hier postuliert einer, daß die Welt der Kunst wieder eindimensional werde, einfältig, gefahrlos, glatt, dem Bürgerblick angenehm und ohne Risiko eingängig. Hier wird nach der Polizei gerufen und eine neue Freiheit verachtet. Denn, gesetzt selbst: ich verstehe nicht, was der Maler malt, wer gibt mir das Recht, ihn ausrotten zu wollen? Und nur gut, daß ein neuerer Picasso dem jungen Eiferer nicht vor das erstaunte Gesicht kam. Er hätte nach der Gestapo gerufen.
Es fehlt die Ehrfurcht. Wo Leben ist, Versuch und Experiment, da wird Werten und Wägen am Platze sein, nicht Verdammung und Ruf nach der Staatsgewalt. Erst wo hemmender Dilettantismus, Lethargie, reine Geschäftemacherei oder die sündhafteste, menschliche Sünde anzutreffen ist, die „Trägheit des Herzens“, — da allerdings hat der Kritiker die Pflicht zuzustechen und unerbittlich auf die Verhärtungen, zu schlagen, bis wieder reines Herzblut emporschießt.
Darum sei der Kritiker der lebendigste Mensch im Theater. Seine Funktion ist heute fast wichtiger als die der Menschen auf der Bühne selbst, Wir haben die Maße zu finden, mit denen zu messen ist. Wir haben die verschütteten Begriffe freizulegen. Jeder, der ein kritisches Amt übernimmt, suche beides mit Eifersucht und liebevollster Neugier nach dem Wahren.
Nur wo die Gegenrede gut und wahrhaftig ist, wächst auch die reine Sprache der Kunst. Nur wo unter dem Mikroskop des unbestechlichen Verstandes verglichen und mit dem Karat des lebendigen Herzens gewogen wird, kann endlich erwachsen, langsam, ohne Trubel und unter Schmerzen, was zu ersehnen ist: die neue und wahrhafte Kunst aus dem Schutt dieser Tage.
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