zum Hauptinhalt
Walther Karsch, Theaterkritiker, Mitbegründer und Herausgeber des Tagesspiegel Berlin. Aufnahmedatum: 1950er Jahre. Foto: Tagesspiegel-Archiv

© Tsp

„Neue Rechtsgesinnung“: Tagesspiegel-Gründer Walther Karsch 1945 über den Nürnberger Prozess

Keine Strafe ohne Gesetz: Diesen juristischen Grundsatz kommentierte der Zeitungsgründer in der Ausgabe vom 15. Dezember 1945 mit Blick auf die laufende Verhandlung gegen die Hauptkriegsverbrecher.

Stand:

Am zweiten Verhandlungstag stellten die Verteidiger der Angeklagten den Antrag, das Gericht möge sich für unzuständig erklären — es liege kein gültiges Gesetz vor, nach dem die Angeklagten abgeurteilt werden könnten. „Nulla poena sine lege“ — keine Strafe ohne Gesetz —, ein alter Rechtsgrundsatz, dessen Bruch durch die Nationalsozialisten gerade bei den heute hier zu Gericht sitzenden Nationen eine so überaus scharfe und berechtigte Kritik hervorgerufen habe. Die nationalsozialistische Justiz hat Handlungen bestraft, die zu der Zeit, als sie begangen wurden, dem Gesetz nach keine Vergehen oder Verbrechen waren. Der Analogieschluß: die Angeklagten des Nürnberger Prozesses haben ihre Taten zu einer Zeit begangen, als kein international gültiges Gesetz diese Taten unter Strafe stellte.

Die Begründung entbehrt nicht einer gewissen, zumindest äußerlichen Logik. Weil sie eine äußerliche ist, wurde sie denn auch von den Nürnberger Richtern verworfen. Der Zufall wollte es, daß einen Tag später Oberrichter Jackson in seiner Anklagerede eine glänzende, Für und Wider genau abwägende Begründung für die Errichtung des Internationalen Gerichtshofes, für sein Statut und für das Recht gab, unter dem hier Anklage und Verurteilung erfolgen. Deutschland hat den Briand-Kellogg-Pakt unterzeichnet, der den Krieg ächtete und den Angriffskrieg verbot. Deutschland hat zahlreiche internationale Vereinbarungen unterzeichnet, die sich auf die Art der Kriegführung, auf die Behandlung der Zivilbevölkerung bezogen und genau das verhindern wollten, was Deutschland dann getan hat. Verletzt jemand die Bestimmungen eines Vertrages, den er selber unterschrieben hat, so kann der Vertragspartner ihn nach jedem Recht eines jeden Landes zur Verantwortung ziehen. Fährt ein Chauffeur ein Auto, für das er nach dem Gesetz die Verantwortung auf sich genommen hat, durch Unvorsichtigkeit, durch Leichtsinn, durch eigenes Verschulden in den Abgrund, so stellt man ihn vor ein Gericht. Hat ein Staatsmann, ein Militär, ein Wirtschaftsführer, der sich nicht genug rühmen konnte, die Verantwortung auf sich genommen zu haben und zu tragen, ein ganzes Volk, ganze Völker in den Abgrund gestürzt, dann ist es aus mit der Verantwortung, er tritt ab und in den „wohlverdienten“ Ruhestand. Soll sich das ewig wiederholen? Sollen nur deshalb, weil sich zwar im Laufe der Zeit ein internationales Recht herausgebildet hat, dieses aber noch nicht in Gesetzen paragraphiert worden ist, — sollen nur deshalb, um dieser einen Formalität willen, die Angeklagten von Nürnberg, ihre Helfer und Hintermänner wieder so billig wegkommen? Sie, die keinen, der in die Maschinerie ihrer Geheimpolizei, ihrer Gerichte, ihrer „Gesetze“, ihres „Rechts“ geriet, davonkommen ließen — geschweige denn billig? Nach dem Grundsatz: Recht ist, was dem Volke nutzt, hat der nationalsozialistische Staat an den Bürgern seines eigenen Landes, an den Bürgern der besiegten und unterdrückten Länder einen Rechtsbruch nach dem anderen begangen.

Gewiß: man soll nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Doch konstruiert sich der Internationale Gerichtshof in Nürnberg etwa ein Recht, das in Wahrheit ein Unrecht ist? Er tut nichts anderes, als die Summe dessen, was bisher als allgemein gültiges internationales Recht angesehen worden ist, als ein Gesetz anzusehen, dessen Verletzung strafbar ist. Daß es Deutsche sind, die als erste die Schärfe dieses Gesetzes zu spüren bekommen, mag für uns peinlich sein. Sollen wir deshalb dagegen sein? Dem Sohn mag es gewiß unangenehm sein, wenn er seinen Vater unter Mordanklage sieht; auch wenn das Verhältnis zu ihm nicht gerade ideal war. Und so mag es einem Volk gehen, das seine „Landesväter“ unter der Mordanklage sieht, auch wenn das Verhältnis zu diesen Landesvätern höchst unfreundliche Formen angenommen hat. Wir wollen uns abgewöhnen, an diese Fragen mit Sentiments heranzugehen.

Aber auch nicht mit Ressentiments. Mussolini hat einmal zu Emil Ludwig gesagt: „Uebrigens stirbt jeder den Tod, der seinem Charakter entspricht“ Er starb den seinen vor den Gewehrläufen jener kleinen Schar seiner Landsleute, in deren Hände ihn das Schicksal trieb, die den Toten dann durch die Straßen schleiften und zuletzt, ehe sie ihn einsargten, an den Gestängen einer Gasanstalt mit dem Kopf nach unten aufhängten. Denn „jeder stirbt den Tod, der seinem Charakter entspricht“. Goebbels starb ihn durch seine eigene Hand im Bunker; die Filmkamera hat den verkrampften, verzerrten Gesichtsausdruck, die gekrümmten Arme, die gekrallten Finger festgehalten, — das häßliche Bild vom häßlichen Tod einer häßlichen Seele. Zirkusmäßig wie sein ganzes politisches Leben war auch der Tod Adolf Hitlers (wenn dies sein Tod war): Hochzeit mit der „Ewigen Eva“, Selbstmord, Verbrennung der in einen Teppich gewickelten und mit Benzin übergossenen Leiche. In Flensburg zerbeißt Himmler, als er verhaftet wird, eine Phiole mit Gift und ist tot, ehe man Gegenmaßnahmen ergreifen kann. In Nürnberg stiehlt sich Robert Ley in seiner Zelle aus dem Leben und aus der Verantwortung. Denn „jeder stirbt den Tod, der seinem Charakter entspricht“.

Hätte eine empörte Volksmenge an Göring, Heß, Frick, Ribbentrop und den anderen genau so gehandelt wie die Italiener an Mussolini, hätte sie ein Standgericht irgendeiner alliierten Feldeinheit im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und kurzer Hand erschossen sie wären den Tod gestorben, der ihrem Charakter entsprach. Unsere berechtigten Gefühle wären befriedigt gewesen. Doch kommt es darauf an, auf so etwas Suspektes, so etwas Schwankendes wie Gefühle? Kann hieraus eine neue, eine positive Gesinnung entstehen?

Wie eine solche neue Gesinnung entstehen kann, das zeigt die Prozeßführung in Nürnberg. Den Angeklagten wird jedes Recht eingeräumt, das einem Angeklagten in einem der beteiligten Länder zusteht. Sie werden untergebracht, ernährt und behandelt wie Untersuchungsgefangene eines zivilisierten Landes. Man gibt ihnen die Möglichkeit, mit ihren Verteidigern zu sprechen, durch sie Fragen an Zeugen zu stellen, Entlastungszeugen herbeizuschaffen. Man glaube nicht, daß durch diese, vielen unangebracht erscheinende Humanität irgend etwas verwischt, irgend etwas undeutlich gemacht werden soll. Nur sie kann garantieren, daß das einst zu fällende Urteil auch als gerecht angesehen wird. Im Film führte man den Angeklagten ihre eigene „Rechtsprechung“ gegen die Männer des 20. Juli vor. Hier in Nürnberg steht kein gefesselter, Spuren der Folterung tragender Hermann Göring vor einem tobsüchtigen, flegelhaften Präsidenten, der ihn anbrüllt. Hier kann ein sich frei auf der Anklagebank bewegender, ein gut genährter Hermann Göring Vergleiche anstellen, wenn er will. Hier werden keine „Zeugen“ vorgeführt, sondern Zeugen, hier wird mit Dokumenten gearbeitet, die manchem, wie Sauckel, den Schweiß auf die Stirn treiben, hier kann sich aber auch jeder entlasten, wenn ihm diese Entlastung gelingt. Hier soll Recht gesprochen werden, auch wenn die Besiegten auf der Anklagebank und die Sieger auf den Richterstühlen sitzen.

Morgen schon könnte sich einer der Sieger, wie Jackson es betonte, in der gleichen Situation befinden, könnte vor die Wahl gestellt sein, auf einen Eroberungsfeldzug zu verzichten oder das Risiko eines Prozesses und einer Verurteilung auf sich zu nehmen. Hierin liegt die große Zukunftsbedeutung dieses Prozesses. Wenn er ein internationales Gesetz schafft, wenn als sein Ergebnis das Handeln der Völker und ihrer Lenker endlich unter die gleichen Gesetze gestellt wird, unter die unser privates Handeln gestellt ist, dann ist dieser Krieg, dann sind diese zwölf Jahre nicht umsonst gewesen — wenn auch die Strafe, mit der die Angeklagten ihre Taten und Untaten zu bezahlen haben werden, in gar keinem Verhältnis zu diesen Leiden stehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })