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 GERMANY. Reichsmarschall Hermann Göring C, and Hitler s deputy leader Rudolf Hess R during their trial in Nuremburg, 1945. PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TASS_435162

© imago images/ITAR-TASS

„Nürnberg und die Folgen“: Tagesspiegel-Gründer Walther Karsch über die Urteile gegen führende Nazis

Zum Prozess der Alliierten gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher erschien in der Tagesspiegel-Ausgabe vom 2. Oktober 1946 dieser Kommentar.

Stand:

Vier Punkte enthielt die Anklage: Verschwörung gegen den Weltfrieden; Planung, Entfesselung und Durchführung des Angriffskrieges; Verbrechen gegen das Kriegsrecht; Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für das Gericht entstand die Aufgabe, nicht nur abzuwägen, ob der einzelne Angeklagte dieses oder jenes Punktes, dessentwegen er unter Anklage stand, schuldig war oder nicht, sondern auch: in welchem Maße. Hieraus ergeben sich die Verschiedenheiten in der Strafzumessung. Zwölfmal wurde die Todesstrafe verhängt, drei Urteile lauten auf lebenslängliches Gefängnis, zwei auf zwanzig, eines auf fünfzehn und eines auf zehn Jahre Gefängnis. Fünf Todesurteile basieren darauf, daß diese Angeklagten in allen Pu»kten für schuldig befunden wurden, bei den. übrigen sieben Todesurteilen genügte das Schuldig in zwei oder drei Punkten, bei Streicher sogar nur in einem Punkte.

Ohne einen Blick in die Begründungen getan zu haben, sind diese Verschiedenartigkeit der Urteile wie auch die Freisprüche für Papen , Schacht und Fritzsche nicht zu verstehen. Es ist klar, daß Göring hier im Gerichtssaal die Stelle Adolf Hitlers einnahm. Er selbst hat sich auch in den zehn Monaten durchaus als der „Führer“ der Angeklagten gefühlt. Für ihn fand sich in dem ganzen Material kein entlastendes Moment. Ja, seine eigenen Geständnisse und Eingeständnisse reichen aus, um das Urteil zu begründen. Ebenso wie er in allen vier Punkten für schuldig befunden wurde, war dies bei Ribbentrop , Keitel, Rosenberg und Jodl der Fall. Das Gericht betonte genau wie bei Göring die führende Rolle dieser vier. Es sind wenige Einzelheiten, die in der Begründung aufgeführt werden, doch diese wenigen zeichnen das Bild einer grauenhaften Phantasmagorie, deren Urheber sich aller menschlichen Bedenken entschlugen. Planung und Führung lagen in ihren Händen. Und wenn der eine oder andere für sich in Anspruch nehmen will, daß untergeordnete Organe ihrer Aemter sich selbständig gemacht und über das gesteckte Ziel hinausgeschossen haben — diese Organe konnten das nur tun, weil sie genau wußten, sie würden von den Männern, die am Steuer des Organismus standen, doch gedeckt werden.

Bei Kaltenbrunner wurde die Anklage im Punkte eins fallen gelassen — die Verbrechen, deren er zu den Punkten drei und vier für schuldig befunden wurde, genügten, um das Todesurteil gegen ihn zu rechtfertigen. Mit seinem Namen ist der des „Reichssicherheitshauptamtes“ verknüpft, jener obersten Instanz der Gestapo, in deren Hände zu geraten gleichbedeutend mit dem Tode war. Und so wie bei ihm wird der Leser der Begründungen bei jedem anderen der zum Tode Verurteilten finden, daß das Maß des Erwiesenen ausreichte, um das Leben des Beschuldigten auszulöschen.

Dieses Leben retten konnten Heß, Funk, Dönitz, Raeder, Schirach, Neurath und Speer. Dönitz kam von ihnen am glimpflichsten davon. Ihm wurden nach dem Urteilsspruch praktisch die Verstöße gegen das Völkerrecht bei der Führung des U-Boot-Krieges nicht angerechnet, da nach der Ansicht des Gerichtes der U-Boot-Krieg auch von den Gegnern Deutschlands „uneingeschränkt“ geführt wurde. Seine Beteiligung an den Angriffskriegen, an anderen Verbrechen als jenen des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, brachte ihm deshalb lediglich jene zehn Jahre ein. Während die Einzelheiten der Urteilsbegründungen für Schirach, Funk, Raeder, Neurath und Speer eine genaue Abwägung des Schuldmaßes erkennen lassen, ging das Gericht im Falle Heß anscheinend von der Auffassung aus, daß die.bis zu seinem Englandfluge begangenen Taten zwar auf der Gesamtlinie liegen, aber doch nicht, was die Quantität und die Intensität anlangt, mit denen verglichen werden können, die später begangen wurden. Die russische Delegation beim Nürnberger Gerichtshof hat in ihrer Erklärung, die Lordrichter Lawrence nach der Urteilsverkündung verlas, für Heß die Todesstrafe verlangt und damit bekundet, daß sie diesen Gradunterschiede nicht anerkennt, sondern dem Prinzipiellen die ausschlaggebende Bedeutung beimißt. Angesichts der Tatsache, daß Heß „Stellvertreter des Führers“ war, hat diese Argumentation nicht wenig für sich.

Nach Auffassung der russischen Delegation hätten auch Schacht, Papen und Fritzsche, die freigesprochen wurden, verurteilt werden müssen. Das Gericht hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen, sondern das Verhalten der Angeklagten als nicht unter die Anklagepunkte fallend bezeichnet. Wer die Begründung liest, wird, zumindest was Schacht und Papen betrifft, dieser Logik sich nicht verschließen können. Beide hatten, als die Angriffskriege vorbereitet und begonnen wurden, keine Funktionen mehr, die sie in unmittelbare Berührung mit der Planung und Führung dieser Angriffskriege gebracht hätten. Bei Schacht kommt hinzu, daß er 1937 aus seinen Aemtern schied und damit dem Nationalsozialismus die Gefolgschaft aufsagte. Wenn der Gerichtshof im Falle Fritzsche entschieden hat, daß seine Reden nicht zur Verfolgung oder Ausrottung von Juden aufgefordert haben, und annimmt, daß Fritzsche in seinen Radioreden das deutsche Volk nicht aufhetzen wollte, Greueltaten an besiegten Völkern zu begehen, so hielt man sich zweifellos in strenger Objektivität an den Wortlaut der Reden Fritzsches und urteilte danach.

Dies alles aber gilt nur für die Anklage, die in Nürnberg erhoben wurde. Es hat wenig Zweck, den Interalliierten Gerichtshof der allzu großen Milde in diesen drei Fällen zu zeihen. Für das deutsche Volk sind Schacht und Papen schuldig, mit ungesetzlichen Mitteln Hitler an die Macht geholfen zu haben. Ohne beider Unterstützung wäre Hitler nie bis zu Hindenburg vorgedrungen, ohne Schachts Hilfe wäre es ihm nie möglich gewesen, das nationalsozialistische Staatsgefüge auf einem, am Anfang wenigstens, einigermaßen soliden finanziellen Fundament aufzubauen. Und was die Kommentare des Herrn Fritzsche anlangt, so wird wohl auch dem Kühldenkenden die Wut in der Erinnerung daran hochkommen, jene Wut, die ihn manchmal beinahe dazu verleitet hätte, seinen Radioapparat zu zerschmettern, wenn er sich damit nicht des Vergnügens beraubt hätte, BBC-London zu hören. Das was Fritzsche sagte, mag keine Aufforderung zu Verbrechen gewesen sein. Es war aber eine, wenn auch sehr geschickte, Rechtfertigung der Politik des „Dritten Reiches“ und damit eine „Rechtfertigung“ der von dem „Dritten Reiche“ begangenen Verbrechen. Die Form, wie er es sagtet war allerdings mehr als aufreizend; doch davon sprechen die Blätter, auf denen seine Reden aufgezeichnet sind, nicht — dies also konnte das Gericht bei seinem Urteil nicht berücksichtigen.

Das deutsche Volk hat mit diesen Dreien eine Rechnung zu begleichen. In einer Pressebesprechung, die am ersten Tage der Urteilsverkündung stattfand, hat einer der süddeutschen Ministerpräsidenten einen deutschen Interzonengerichtshof gefordert. Mag diese Forderung verwirklicht werden oder nicht, diese Drei gehören vor ein deutsches Gericht, das, dessen können sie schon jetzt sicher sein, sie bestimmt nicht freisprechen wird. Aber nicht nur diese Drei gehören vor dieses Gericht. Auf seiner Anklagebank haben all jene zu erscheinen, die durch Taten (auch Propagandareden und -artikel sind Taten, weil sie zu Taten verleiten) Handlungen im Sinne und Interesse des „Dritten Reiches“ begangen haben, die nach den bis zum Jahre 1933 geltenden deutschen Gesetzen und nach den Gesetzen der Menschlichkeit strafwürdig sind.

Wenn das Gericht es abgelehnt hat, die „Reichsregierung“, den Generalstab, das OKW und die SA als verbrecherische Organisationen zu bezeichnen, so brauchen jene, die innerhalb dieser Organisationen Handlungen begangen haben, deren Gesetzwidrigkeit auf der Hand liegt, dennoch nicht zu glauben, daß sie nun für alle Zeiten von aller Schuld frei und ledig sind. Auch über die Angehörigen dieser Organisationen hat das deutsche Volk noch einiges zu sagen, was manchem nicht gut in den Ohren klingen wird. Denn es geht wohl nicht an, daß jeder „kleine Pg“ sich der Prozedur einer Entnazifizierung zu unterziehen hat, bei der es sich um Sein oder Nichtsein seiner materiellen Existenz handelt, während Unteroffiziere vom Schlage der Himmelstoß, Kommandanten von Städten, die eine sinnlose Verteidigung fortsetzen ließen und damit Tausende dem sicheren Tode auslieferten, straffrei ausgehen, nur weil die Organisation, der sie angehörten, vom Nürnberger Gerichtshof nicht als verbrecherisch bezeichnet worden Ist. Sie sollen sich auch nicht mehr auf „Befehle“ berufen können, denn das Urteil von Nürnberg hat klar genug festgelegt; daß ein Befehl denjenigen, der ihn ausführt, nicht von seiner Einzelverantwortlichkeit befreit.

Es soll hier gewiß nicht unbegrenzten Haß- und Rachegefühlen das Wort geredet werden. Wird ein Gericht geschaffen, das den Angeklagten alle jene Rechte einräumt, die den Angeklagten von Nürnberg eingeräumt wurden, dann ist damit die Garantie gegeben, daß sie ihr Recht für ihr Unrecht bekommen. Und dies sollte für den Kleinen genau wie für den Großen gelten. Wir wollen nicht mehr hören, daß man die Kleinen hängt und die Großen laufen läßt. Die Kleinen sollen sich aber auch nicht mehr hinter die Großen verstecken dürfen. Sonst kann es passieren, daß ebenso wie Hitler und Konsorten geartete Große bald wieder Kleine finden, die stur ihren „Befehlen“ gehorchen.

Zehn Monate haben die Angeklagten Tag für Tag gehört, was man ihnen vorwirft, gehört, welche Folgen ihre Anordnungen und Befehle hatten. Zehn Monate standen unsichtbar hinter der Anklage die Toten des Krieges, der Zuchthäuser und der Konzentrationslager. Die Gerechtigkeit gebietet zu sagen, daß sie einen feil dessen, was sie begangen haben, in diesen zehn Monaten bereits abgebüßt haben — soweit ein dreißigmillionenfacher Tod, Zerstörung, Vernichtung, Ausrottung überhaupt abgebüßt werden können. Wer die Berichte aufmerksam verfolgt und vielleicht sogar Gelegenheit gehabt hat, für ein paar Tage dem Prozeß zuzuhören, wird allerdings bekunden können, daß, von wenigen Ausnahmen wie Speer’und Frank abgesehen, kaum einem der Angeklagten die volle Tragweite dieses Prozesses bewußt geworden ist. Sie haben sich fa^t alle herauszureden versucht, wo es gar nichts mehr zu reden und zu deuteln gab. Gewiß: jeder hat das Recht, um seine Haut zu kämpfen, und jedes Mittel ist dazu erlaubt. Doch wer eine sogenannte heroische Weltanschauung verkündet, hätte zumindest die Verpflichtung, sich ein klein wenig heroisch zu gebärden. Die Angeklagten von Nürnberg taten das nicht. Sie legten mit ihrer Haltung die innere Hohlheit ihrer „Weltanschauung“ bloß und erteilten damit zukünftigen Generationen einen Anschauungsunterricht, der diese hoffentlich davor bewahren wird, noch einmal nach den Trompetentönen und Trommelwirbel der Verkünder des Heroismus in ihren Untergang zu marschieren.

Für den, der sich in den vergangenen zwölf Jahren gegenüber nicht nur den groben, sondern gerade den feinen Mitteln der nationalsozialistischen Propaganda seine kühle Ueberlegung bewahrt hat, war es allerdings von allem Anfang klar, daß hinter der „heroischen“ Fassade ein armseliges Geschlecht sein armseliges Handwerk trieb. Angefangen von den Ueberfällen der „Rollkommandos“ auf unbewaffnete Teilnehmer gegnerischer politischer Versammlungen und Demonstrationen, von der Brandstiftung im Reichstag, von der Ausschaltung der kommunistischen Reichstagsfraktion, von dem erzwungenen Ermächtigungsgesetz, von der Erpressung an den Gewerkschaften und der Liquidierung der Parteien, weiter über die Besetzung des Rheinlandes, die Annexion Oesterreichs, die Sudetenkrise., den Einmarsch in die Tschechoslowakei, den Ueberfall auf Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Jugoslawien und Griechenland bis zu der Ausrottung der Juden, und der Bevölkerung der besetzten Gebiete, der massenweisen Ermordung politischer Gegner — immer suchten sich diese „Helden“ den Punkt des geringsten Widerstandes aus, immer gingen sie gegen einen Gegner los, dem sie vorher durch gutes Zureden oder durch harmlos scheinende Maßnahmen die Mittel der Gegenwehr entwunden hatten. Immer dann, wenn sie ernsthaften Widerstand zu spüren glaubten, traten sie den Rückzug an. Die Geschichte des nationalsozialistischen Regimes ist eine einzige Orgie der Feigheit, die um so widerlicher war, als sie sich heroisch gab.

Unter das Hauptkapitel dieser Geschichte hat das Nürnberger Urteil den Schlußstrich gesetzt. Es ist eine Warnung an alle die, die noch einmal versuchen sollten, gegen jene Gesetze sich zu vergehen, die statuiertes Recht, Gerechtigkeit und Rechtsgefühl im Laufe der Jahrhunderte aufgestellt haben. Zum erstenmal haben Staatsmänner und Feldherren erfahren, daß ihnen das Urteil nicht immer erst dann, wenn sie längst tot sind, gesprochen wird. In Nürnberg hat die Geschichte diesmal über Lebende zu Gericht gesessen.

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