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„Recht für Unrecht“: Der Tagesspiegel über das Urteil im Bergen-Belsen-Prozess
„Zum Lüneburger Schuldspruch“ schrieb Tagesspiegel-Gründer Walther Karsch am 20. November 1945 – dem Tag an dem der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher der Nazis begann.
Stand:
Am 17. September begann in Lüneburg der Prozeß gegen Josef Kramer, den Lagerkommandanten von Belsen, gegen den Lagerarzt Dr. Klein und gegen dreiundvierzig männliche und weibliche Aufseher und Wachen. Zwei Monate später fällte das Gericht sein Urteil.
Das Verfahren enthüllte Einzelheiten, die auch jenen das Blut erstarren machten, die wußten, zu welchen Verbrechen sich hier Menschen hergegeben hatten. Deutsche Menschen in der Mehrzahl, Angehörige unseres Volkes. Es wäre einfach, die Angeklagten als Ausnahmeerscheinungen anzusehen, als Verbrechernaturen, die unter andern Umständen auch in mehr oder weniger krasser Weise mit den Gesetzen in Konflikt gekommen wären. Für diesen oder jenen mag das zutreffen, doch nicht für alle, nicht für die Mehrzahl. Wir können nun einmal nicht die Augen verschließen vor der Tatsache, daß in der Seele unseres Volkes, die sich zu so herrlichen, so überirdisch schönen Leistungen zu entfalten vermag, Möglichkeiten schlummern, die, geweckt, bisher harmlose Angehörige dieses Volkes in schamlose Mörder und Folterknechte zu verwandeln vermögen. Und warum? Weil sie gewohnt sind, zu gehorchen, ohne nach der moralischen Berechtigung des Befehls zu fragen. Diejenigen unter den Angeklagten, die ihre Taten nicht einfach feige leugneten, entschuldigten sich damit, daß sie „auf Befehl“ gehandelt hätten. „Auf Befehl“ haben sie geprügelt, gefoltert, Wehrlose erschossen, Menschen verhungern lassen, Hilflose, Schwache und Kranke in den Gaskammertod geschickt. Auf Befehl. Eine Entschuldigung? Eine Anklage gegen sich selbst, gegen die eigene Denkträgheit, die eigene Abgestumpftheit, den eigenen Herdeninstinkt, die eigene Würdelosigkeit. Sie unterwarfen sich, ohne nach dem Sinn und der Berechtigung des Befehls zu fragen, diesem Befehl, führten ihn aus, fanden allmählich sogar Freude daran, taten mehr, als ihnen befohlen ward, steigerten sich in einen Paroxismus des Verbrechens und sitzen nun auf der Anklagebank, alles ableugnend oder sich hinter den „Befehl“ verkriechend, als sei dies eine metaphysische Gegebenheit, die sie freispreche von ihrer Schuld.
Die sie anklagten, die sie verteidigten, die ihr Urteil über sie fällten, waren britische Offiziere. Doch könnte auch nur einer der Angeklagten, könnte auch nur einer von uns behaupten, daß dieser Ankläger, diese Richter, diese Verteidiger sich als Sieger benahmen, die über Besiegte zu Gericht saßen, oder daß sie bereit waren, über die Taten jener Polen und Jugoslawen unter den Angeklagten, Angehöriger ihnen verbündeter Nationen, mit Stillschweigen hinwegzugehen? Dieses Gericht hat dem deutschen Volke, hat der Welt eine Lektion gelesen — über demokratische Justiz, über mehr: über Gerechtigkeit. Es hat die Vorwürfe über ein zu bürokratisches Verfahren eingesteckt, ohne sich darum zu kümmern; es hat jeden Zeugen, der sich anbot, oder den der Ankläger, die Angeklagten, die Verteidiger präsentierten, angehört; es hat in einem, Gründe und Gegengründe genau abwägenden, Urteilsspruch sein „Schuldig“ oder „Nichtschuldig“ gesprochen. Die Verteidiger, die doch wußten, daß es hier um die Sühne für Verbrechen ging, die an Tausenden von Angehörigen ihnen befreundeter Nationen begangen worden waren, ließen kein Mittel unversucht, ihre Mandanten zu entlasten. Sie bestritten die Zuständigkeit des Gerichts, sie durchlöcherten die Aussagen von Belastungszeugen, sie holten alle Entlastungszeugen heran, deren sie habhaft werden konnten, ja, sie deckten den Standpunkt jener Angeklagten, die sich auf den „Befehl“ beriefen.
Mancher von uns, der Verwandte, Freunde, Bekannte unter den Ermordeten der Konzentrationslager weiß, war geneigt, jenen zuzustimmen, die als ehemalige Insassen des Lagers Belsen, zum Beispiel in Belgien, gegen die Langsamkeit des Verfahrens demonstrierten und forderten, man solle kurzen Prozeß machen. Ein solcher kurzer Prozeß wäre verständlich gewesen, doch er hätte auf ein maßloses Unrecht neues Unrecht gehäuft. Leitsatz des Gerichts war aber auch nicht: Fiat justitia, pereat mundus. Denn es geschah Gerechtigkeit, ohne daß die Welt zugrunde ging. So geschah es denn, daß ein britischer Sergeant sich in England als Zeuge meldete, im Flugzeug nach Lüneburg flog, um dort die Angaben des Angeklagten Schmitz zu bestätigen, der, selbst Wehrmachtsgefangener in Belsen, von den befreiten Lagerinsassen für einen Wachtposten angesehen und verprügelt wurde, dabei seine Uniform verlor, sich in eine SS-Baracke rettete, dort eine SS-Uniform anzog, um seine Blöße zu bedecken, und so unter die Angeklagten geriet.
Schmitz wurde für nichtschuldig befunden, dreizehn andere Angeklagte mit ihm, gegen einen wurde die Anklage fallen gelassen. Kramer, Dr. Klein, Irma Grese und acht weitere Angeklagte erwarten den Tod durch den Strang, neunzehn wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Was in Belsen, in Auschwitz, in Dachau, in Sachsenhausen, in Buchenwald geschah, kann kein Todesurteil, keine Zuchthausstrafe je wieder gutmachen. Die Millionen von Russen, Deutschen, Juden, Polen, Tschechen, Franzosen, Belgiern, die dort Hungers starben, vergast, totgeprügelt, erschossen wurden — ohne Verfahren, ohne Urteilsspruch, allein auf Befehl oder aus Willkür und Sadismus — sie alle weckt kein noch so hartes Urteil an ihren Peinigern und Mördern auf. Ihr Schicksal bleibt eine ewige Anklage gegen das deutsche Volk — und eine Mahnung zur Umkehr, zur Abkehr von einer Ideologie, die unter dem Deckmantel einer angeblich rassischen und geistigen Höherwertigkeit ihre niedrigsten Instinkte austobte, zur Abkehr von der Auffassung, daß man auch einem verbrecherischen Befehl Gehorsam schulde.
Das ist die eine Lehre von Belsen. Die andere: Justiz stammt ab von justitia. Die Justiz von Lüneburg hat uns gelehrt, was wir in den zwölf Jahren vermißt hatten und zum Teil verlernt haben: Gerechtigkeit.

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