
© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN
Replik auf Leserbriefe 1945: „Alles, was wie ein empörter Aufschrei klingt, kommt aus Potsdam“
Die Redaktion des neu gegründeten Tagesspiegels ging auf Zuschriften zum Leitartikel „Vom künftigen Deutschland“ ein und stellte eine Veröffentlichung im „Demokratischen Forum“ in Aussicht.
Stand:
Aus Potsdam haben die wahren deutschen Patrioten selten Gutes vernommen. Im Neuen Palais hatten die Intrigen ihren Ursprung, die die Beziehungen zwischen dem Kronprinzenpaar Friedrich und seinem ältesten Sohne Wilhelm vergifteten. Dort war das Hauptquartier des Kampfes um, mit und gegen Bismarck, dort dachte Wilhelm II. sich seine schneidigen Reden aus, dort empfing er alles, was Opposition gegen Vernunft und freiheitliche Regung versprach.
Die unendlich lange Leporelloliste, von der jeder einzelne Punkt dem deutschen Volke so kostspielig wurde, setzte sich nach 1918 in Aufzügen, Kundgebungen und Verschwörungen gegen den Bestand der harmlos-duldsamen Republik von Weimar fort. Potsdam war der „Hort preußischen Geistes“, dessen fragwürdige Tugenden, in den tartüffischen Rang sittlicher Forderungen erhoben, eine vorzügliche Camouflage für die Geheimbündelei pensionierter Militärs, Beamten und ihres reaktionären Nachläufertrosses bildeten.
Man sagte „Das Flötenkonzert“ und meinte Antisemitismus. Man sagte „Sanssouci“, „Märkische Landschaft“ oder „Schinkelsche Architektur“ und meinte Erzberger- und Rathenaumord. Man sagte „Preußische Sparsamkeit“, „Eiserne Manneszucht“, „Staatsraison und Gehorsam“ und meinte die Zerschlagung von Demokratie und Republik. Die Garnisonkirche, in der ein Hitler und ein Hindenburg sich die Hände reichten, wurde zur Blasphemie, zum Symbol aller Unehrlichkeit, aller Perfidie.
„Potsdamer Geist“ beseelte die Häupter der so heterogen — nämlich auch aus tapferen Idealisten — zusammengesetzten Mannschaft des 20. Juli 1944. Ihr Attentat auf Hitler war keine Folge grundsätzlicher Gegnerschaft. Es war die Handlung Enttäuschter, die sich in Herrn Hitler verrechnet hatten. Judenmord, Versklavung der Völker, Rückfall in jegliche Form der Barbarei hatte sie nicht auf den Plan gerufen. Ehrungen und Beförderungen aller Art hatten sie von Hitler genommen. Was sie ihm nicht verziehen, war dies, daß er es verstanden hatte, auch sie und ihren Potsdamer Geist niederzutrampeln.
Eines, wenn gar nichts anderes, muß man den Potsdamern zugestehen: daß sie hellhörig sind, wenn es um ihren Einfluß geht. Der Aufsatz „Vom künftigen Deutschland“ in Nr. 9 unseres Blattes hat weit im Lande mannigfaches Echo geweckt. Ohne Staunen stellen wir fest, daß alles, was wie ein empörter Aufschrei klingt, aus Potsdam kommt. Maskiert mit dem Versuche streng historischer Einwände, tiefste Besorgnis um das „deutsche Wesen“ und die „Erhaltung positiver Grundwerte“, vaterländische Furcht vor der „Verewigung staatlicher und gesellschaftlicher Auflösung“ wie ein Schild vor sich hertragend, können die Empörten doch in keiner ihrer sowohl „reich“lich wie europäisch gefurchten Mienen den Genius loci verleugnen.
Nur eine einzige Stimme unter den vielen aus Potsdam atmet sachliche Treue; sie soll demnächst in unserem „Demokratischen Forum“ zu Worte kommen. Denen aber, die uns „grobe Unkenntnis der geschichtlichen Entwicklung in den letzten tausend Jahren“ vorwerfen, möchten wir empfehlen, einmal darüber nachzudenken, ob es nicht schließlich seine organischen Ursachen haben muß, wenn tausend Jahre lang Deutschland ein lockeres Gebilde blieb und die Zwangseinheiten Bismarckscher wie Hitlerscher Prägung nicht über Dezennien hinausgelangten.
- Adolf Hitler
- Antisemitismus
- Erik Reger
- Garnisonkirche Potsdam
- Nationalsozialismus
- Zweiter Weltkrieg und Kriegsende
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