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Humphrey Bogart in "Tote schlafen fest"

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DIE GESCHICHTE: The long Goodbye

Er war Direktor von acht Ölgesellschaften und Erfinder des coolsten Detektivs der Literaturgeschichte. Raymond Chandler hatte zwei Leben, beide endeten im Alkohol. Eine Hommage zum 50. Todestag.

Es war gegen elf Uhr morgens, Mitte Oktober, ein Tag ohne Sonne und mit klarer Sicht auf die Vorberge, was klatschkalten Regen verhieß. Ich trug meinen kobaltblauen Anzug mit dunkelblauem Hemd, Schlips und Brusttaschentuch, schwarze Sportschuhe und schwarze Wollsocken mit dunkelblauem Muster. Ich war scharf rasiert, sauber und nüchtern – egal nun, ob’s einer merkte. Ich war haargenau das Bild vom gut gekleideten Privatdetektiv. Ich wurde von vier Millionen Dollar erwartet.“

Mit diesen kühlen Worten stellte sich Philip Marlowe der Welt vor: Privatdetektiv für 25 Dollar am Tag plus Spesen, keine Scheidungssachen, 100 Dollar Vorschuss. Sein Erfinder Raymond Chandler ist bereits gut 50 Jahre alt, als er 1939 seinen ersten Roman The Big Sleep beim renommierten New Yorker Verleger Alfred Knopf herausbringen kann. In den sechs Jahren zuvor hat Chandler Detektivgeschichten für die Pulps geschrieben, für die Groschenhefte, die billig gedruckten Krimimagazine, deren berühmtestes Black Mask ist, für das auch Erle Stanley Gardner und vor allem Dashiell Hammett arbeiten. Black Mask gilt als Schule des hard-boiled writing, des toughen, unbeschönigenden, realitätsgesättigten Schreibens.

Als Raymond Chandler im Dezember 1933 seine erste Detektivgeschichte Blackmailers Don’t Shoot veröffentlichte, war Dashiell Hammett bereits eine literarische Berühmtheit. Hammett schrieb für einen Cent pro Wort und erfand eine ganze Literatur. Chandler sagte über ihn: „Hammett zog den Mord aus der venezianischen Vase und ließ ihn auf die Straße fallen. Er gab den Mord den Menschen zurück, die aus wirklichen Gründen morden, nicht nur, um eine Leiche zu liefern.“

Hammett und Chandler verband eine tiefe Abneigung gegen den deduktiven britischen Mystery-Roman, in dem alte Tanten Giftmorde begehen, die dann von feinsinnigen Landpfarrern aufgeklärt werden. Während Dashiell Hammett selbst als Pink gearbeitet hatte, als Detektiv bei der Agentur Pinkerton’s und also aus eigener Anschauung wusste, worüber er schrieb, musste sich Chandler erst mühsam in die Welt des Verbrechens hineinarbeiten.

Seine eigene Lebenserfahrung war eine ganz andere. Am 23. Juli 1888 in den USA geboren und ohne Vater in England aufgewachsen, machte er nach der Public School seine ersten Schreibversuche mit schwülstigen Gedichten, die in einer Literaturzeitschrift erschienen, „von der ich das Glück habe, kein Exemplar mehr zu besitzen“, wie er später schrieb. Auch als Reporter versuchte er sich, bei der Daily Mail: „Ich war eine absolute Niete, der schlechteste Mann, den sie je hatten. Jedes Mal, wenn ich auf eine Story angesetzt wurde, verirrte ich mich. Sie feuerten mich. Ich hatte es nicht anders verdient.“

Chandler geht zurück in das Land seiner Geburt, dessen demokratischen Manieren er allerdings mit englisch distanziertem Dünkel gegenübersteht. Er beharrt darauf, dass man seinen Nachnamen englisch „Chaandler“ ausspricht und nicht salopp amerikanisiert „Chändler“. Er wird Buchhalter in einer Molkerei, kämpft während des Ersten Weltkriegs in Frankreich, arbeitet ab 1919 bei einer Bank, später bei einem Ölsyndikat, wird Direktor von acht Ölgesellschaften und Präsident von dreien, die klein, aber wohlhabend sind. 1924 heiratet Chandler die beinahe 20 Jahre ältere Cissy Pascal. Er führt ein nach eigenem Empfinden völlig normales Leben, das ihn jedoch aushöhlt. Immer öfter taucht er in Liebschaften und Alkoholexzesse ab. 1932, er ist 44 Jahre alt, wird er entlassen, steht sozusagen auf der Straße und fängt ganz von vorn an.

Chandler lässt sich im Telefonbuch von Los Angeles als Schriftsteller eintragen. Er will es noch einmal wissen und beginnt, an den Geschichten für die Pulps zu arbeiten. Sorgfältig studiert er sein Vorbild Hammett – dessen Knappheit, Dichte, Tempo, Härte, Authentizität, Direktheit und Lakonie er zwar nicht erreicht, den er aber an Schliff, an Pointiertheit in den Dialogen und an untergründigem Witz später übertrifft.

Fünf Monate lang ackert Chandler an seiner ersten Story, schreibt sie wieder und wieder um, und als sie fertig ist, hat er gerade mal 180 Dollar verdient. Trotzdem wird er nicht zum Vielschreiber; Chandler ist einer der wenigen Black Mask-Autoren mit hohem literarischen Anspruch, den er gegen die eng gesteckten Vorgaben des Genres durchzusetzen versucht und den er auch theoretisch reflektierend verteidigt: „Die Grenzen des Schemas durchlässig zu machen, ohne es selber zu sprengen, davon träumt jeder Schriftsteller, der für Zeitschriften und Magazine arbeitet, sofern er nicht ein hoffnungsloser Schmock und Schmierakler ist.“ Chandler brauchte sechs Jahre, bis er die Pulps hinter sich lassen konnte und zu einer eigenen literarischen Form fand. Dennoch griff er immer wieder auf seine alten Groschenheftgeschichten zurück, weidete sie für seine Romane aus und kombinierte sie neu – eine Methode, die er von Dashiell Hammett übernahm.

1940, bereits ein Jahr nach The Big Sleep, erscheint der Roman Farewell, My Lovely, in dem die Charakterzüge Philip Marlowes schon wesentlich ausgeprägter sind. Der romantische Held tritt sichtbar zutage, unter der gepanzerten Oberfläche steckt ein Moralist, der sich vorgenommen hat, in einer kranken, korrupten Welt zu überleben, ohne dabei selbst korrupt zu werden.

Anders als Hammett idealisiert Chandler seine Hauptfigur, und manchmal hat er Schwierigkeiten, sich beim Stilisieren zu bremsen. Sechs Marlowe- Romane lang hielt Chandler den Weißer-Reiter-Kitsch und das latent jesusmäßige um Marlowe in Schach und im Rahmen. Im letzten, kurz vor seinem Tod aus einem alten Drehbuch ausgeschlachteten Roman Playback aber hatte er nicht mehr die Kraft gegenzuhalten, stürzte ins Rührselige ab und ließ den chronisch auf seine Unabhängigkeit pochenden Marlowe sogar in eine Heirat einwilligen. Chandlers Identifikation mit seiner Hauptfigur ging am Ende so weit, dass er Marlowe bescheren wollte, was er selbst nach dem Tod seiner Frau schmerzlich vermisste: „Liebe, ein Heim und die Gewissheit, ein Leben zu teilen.“

Vorher aber schrieb Chandler Bücher, in denen er die hartgesottene Detektivgeschichte in höchste sprachliche Form brachte. Unnachahmlich – auch wenn viele sich daran versuchten – sind Chandlers Vergleiche: „Er hisste ein paar Augenbrauen, für die sich ein Bürstenfabrikant interessiert hätte.“ Beim Beschreiben von Frauen war Chandler noch kühner: „Sie war eine Blondine, für die ein Bischof das Kirchenfenster eingetreten hätte.“ So weckt man Fantasie, das schöne Gegenteil von Fantasy.

Über Abkupferer und Kopisten schrieb Chandler 1952: „Man schreibt in einem Stil, der nachgeahmt, sogar plagiiert worden ist, und zwar bis zu einem Punkt, wo man anfängt auszusehen, als ahme man seine Nachahmer nach. Man muss sich also an einen Ort begeben, wohin sie einem nicht folgen können.“ Das hat Chandler geschafft, mit hartnäckigem und manchmal pingelig-pedantischem Festhalten an seinem eigenen Qualitätsbegriff – der sich in Marlowes Moralkodex widerspiegelt: Von seinen Überzeugungen weicht man nicht für Geld und gute Worte ab, auch nicht aus Angst um Leib und Leben. Da müssen schon richtige Gründe auf den Tisch kommen.

Die Sprache, Chandlers Ein und Alles, ist auch Philip Marlowes stärkster Trumpf. Mit unterkühltem, messerscharfem Humor entwaffnet er seine Gegner und verleitet sie zu unüberlegten Handlungen. Chandler, der sich über jeden Mangel an Qualität – ganz gleich, in welchem noch so geringen Bereich des täglichen Lebens angetroffen – in Rage schreiben konnte, lässt Marlowe immer wieder die protzige Aufmachung der Reichen und ihre verlogene Moral kommentieren oder legt ihm sarkastische Kommentare über den American Way of Life in den Mund: „Wir fuhren in ein Autorestaurant, wo sie Hamburger machten, die wenigstens nicht ganz so schmeckten, dass der Hund sie verschmäht hätte.“

Spott, Hohn und Humor waren die Mittel, mit denen sich Chandler gegen die oft übermächtig scheinenden Zudringlichkeiten und Unerträglichkeiten des Daseins zur Wehr setzte. Den Zustand der Welt als persönlich gemeinte Beleidigung aufzufassen, zeugt nicht von philosophischer Weisheit; Chandler aber gab es Impuls und Impetus zum Schreiben. Seine Romane sind Reaktionen auf eine Welt, die er den Bach heruntergehen sah; als Beobachter war er jedoch mikroskopisch genau genug, um seine moralischen Keulenschläge gegen das moderne Amerika detailliert und gezielt anbringen zu können. Dass er keine stilistischen Fingerübungen und keinen wohlfeilen, gefälligen Schnickschnack produzieren wollte oder konnte, zeigt sich auch in seinem mit zunehmendem Alter schärfer werdenden Ton. Es war ihm ernst mit dem, was er tat. Während die menschliche Spezies sich in ihre unangenehmen Bestandteile auflöste, klagte Chandler von einer Welt, die zu durchschauen er klug genug war, dennoch unbeirrbar Respekt ein – wohl wissend, dass es den in angemessener Form nicht gibt.

Aber Erfolg gab es: Chandlers Bücher wurden berühmt und waren auch in Hollywood hoch begehrt. In der Filmadaption des Big Sleep wurde Philip Marlowe von Humphrey Bogart dargestellt – der in seiner physischen Präsenz und mit seinem wölfischen Lächeln als Verkörperung des Hammett’schen Helden Sam Spade allerdings überzeugender ist. Chandler selbst war mit Bogart zufrieden. „Genau richtig“, schrieb er, auch wenn er sich als idealen Marlowe-Darsteller ausgerechnet Cary Grant wünschte. Das blieb dem Publikum erspart; später schlüpften James Garner und Elliot Gould in die Rolle des Philip Marlowe. Eine gelungene visuelle Umsetzung von Chandlers Bildsprache fand 1975 in Dick Richards Farewell, My Lovely-Adaption statt. Robert Mitchums Darstellung eines todmüden Marlowe trifft die Atmosphäre des Romans im Kern: Der Held ist längst ohne Illusionen, hat aber immer noch zu viel Mumm in den Knochen, um einfach alles hinzuschmeißen.

Auch Chandler arbeitete für den Film; in den vierziger Jahren war er Drehbuchautor in Hollywood, verdiente zeitweise bis zu 4000 Dollar pro Woche, und die finanzielle Anerkennung seiner Fähigkeiten war ihm, nachdem es ihm in den dreißiger Jahren dreckig gegangen war, wichtig. Die künstlerische Seite der Arbeit als Lohnschreiber aber deprimierte ihn tief; maßlos ärgerte er sich über die lapidare Art und Weise, in der Regisseure und Produzenten mit seiner Arbeit umgingen. Das oberflächliche, intrigante Hollywood machte ihn mürbe. 1949 rächte er sich mit dem Roman The Little Sister für alle im Filmgeschäft erlittenen Demütigungen, denen er, der perfektionistische Schriftsteller, dort ausgesetzt gewesen war. Er entzauberte die glamouröse Welt der Filmstudios und Stars und zeigte, woraus ihre Träume gemacht sind: aus Angst, Einschüchterung, Heuchelei, Erpressung und Mord.

Viel Mystifix ist über Raymond Chandler geschrieben worden. Der 1996 verstorbene deutsche Dichter Helmut Heißenbüttel hatte spekuliert: „Ich halte es für möglich, dass der Ruhm des Autors Raymond Chandler den des Autors Ernest Hemingway überdauert.“ Möglich ist vieles; Chandler hatte Hemingway bereits 1932 in seiner Geschichte „Bier in der Mütze des Oberfeldwebels“ brillant parodiert – und setzte seinem alten Vorbild auch ein Denkmal. In Farewell, My Lovely lässt er Marlowe einen Polizisten so lange als „Hemingway“ titulieren, bis der entnervt fragt: „Was ist dieser Hemingway eigentlich für ein Mensch?“ Marlowes Antwort lautet: „Ein Typ, der fortwährend immer wieder dasselbe sagt, bis man anfängt zu glauben, dass es gut sein muss.“

Chandlers Bücher sind bis heute wie neu gemacht geblieben. Marlowes Einschätzung der Polizei ist so aktuell wie klassisch: „Ich fürchte, das Leben ist zu kurz, um mit Aussicht auf Erfolg Anzeige wegen Körperverletzung gegen Polizeibeamte zu erstatten.“ Der Titel seiner Geschichte Law Is Where You Buy It gilt, zumindest in der hiesigen Geschäfts- und Gesellschaftsordnung, schon immer, und Anzeichen, dass sich das ändern könnte, sind nicht in Sicht.

Chandlers Sprache hat nichts von ihrem Glanz verloren, von jener Leichtigkeit, die so viel von jener Kraft und Arbeit kostet, die man niemals merken darf. Zur Form seines Lebens lief Chandler 1953 auf. Als er sein Opus magnum The Long Good-Bye schrieb, machte ihm der Lebensüberdruss zwar bereits schwer zu schaffen, doch der 65-jährige Chandler bündelte seine besten Kräfte und vernähte kunstvoll die Enden der Fäden, die in seinen bisherigen Geschichten lose geblieben waren. The Long Good-Bye ist ein Buch über Freundschaft und Korrumpierbarkeit, und es ist Chandlers definitives Schlusswort, in dem er Philip Marlowe mit allem ausstattet, was er zu geben hat: Einsicht, Witz, Aggressivität, Melancholie, Weichheit, Müdigkeit und den beharrlichen Willen, sich von den Verhältnissen nicht kriegen zu lassen. Die sind zwar, wie sie sind – aber na und?

Gegenüber dem Wirtschaftsboss Harlan Potter, der ihn auf die sanfte oder sonst eben auf die harte Tour zum Schweigen bringen will, bleibt Marlowe höflich, kalt und klar: „Vielleicht lassen Sie meine Gedanken doch besser meine Sache sein, Mister Potter. Sie sind nicht sonderlich wichtig, natürlich nicht, aber sie sind alles, was ich habe.“ In der Beschreibung Potters und der Verquickung von wirtschaftlicher und politischer Macht mit Polizei und Justiz gelingt Chandler einer seiner schönsten Vergleiche: „Er kauft sich nicht einmal die Commissioner und Staatsanwälte, hat er gesagt. Sie ringeln sich bloß immer in seinem Schoß zusammen, wenn er ein Nickerchen macht.“

Am 26. März 1959 starb Raymond Chandler im kalifornischen La Jolla, 70 Jahre alt, verbittert und krank an Einsamkeit, Suff und Nicht-mehr-schreiben- Können. Sein Leben war eine ziemliche Quälerei; davon, dass er sich beim Schreiben nicht schonte, profitiert die Welt noch heute. Chandler trank eimerweise Whisky; seinen Helden Marlowe stattete er mit ähnlichem Durst, aber besserem Geschmack aus. In The Long Good-Bye wird Gimlet getrunken, halbe-halbe Gin und Rose’s Limettensaft auf gestoßenem Eis. Erheben wir die Gläser auf einen großen Schriftsteller.

Wiglaf Droste

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