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Walther Karsch, Theaterkritiker, Mitbegründer und Herausgeber des Tagesspiegel Berlin. Aufnahmedatum: 1950er Jahre..

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„Vom Sinn der Kritik“: Ein programmatischer Tagesspiegel-Artikel aus der Nachkriegszeit

Ein halbes Jahr nach Erscheinen der ersten Ausgabe umreißt Tagesspiegel-Gründer Walther Karsch am 30. März 1946 Grundsätze der Kritik für die Zeitung.

Stand:

Es ist In diesen Spalten häufig und hart zugeschlagen worden — und es wird in Zukunft nicht anders sein. Mancher Waffengang wurde ausgetragen, mancher Gegner mit Spott zugedeckt, manche so scheinbar nebensächliche bissige Bemerkung stieß mitten in das Gefüge des Gegnerischen, das Innere aufreißend und bloßlegend. Und es soll dies auch in Zukunft nicht anders sein.

Kritik kann von mancherlei Ansatzpunkten ausgehen. Sie kann um ihrer selbst willen getrieben werden — Kritik als Selbstzweck, als artistisches Vergnügen, als Mittel der Selbstbespiegelung. Der Kritiker ist hier eine Art Seismograph, der künstlerische Erdbeben anzeigt; noch die fernsten Erschütterungen zittern in ihm nach. Je nach der Stärke dieser Erschütterungen notiert er den Stärkegrad des Künstlerischen — sei es nun eines Stückes, eines Bildes, einer schauspielerischen Leistung. Das Grobe und das Feine, das Laute und das Leise, das Offene und das Verdeckte — alles wird allein bewertet nach der Weite des Ausschlages, den das Pendel vollführt. Für ihn gibt es nur eine Verantwortung: die vor der Form. Die Frage nach dem Inhalt stellt sich ihm nicht, da ihm der Inhalt nur der äußerliche Anlaß zu einem Kunstwerk ist. Was herauskommt: subtilste Bewertung, Nachspüren der feinsten Verästelungen, Feststellen und Festhalten des kaum noch Wägbaren, aber auch Entlarvung der falschen Töne, der Sentiments und Ressentiments, Aufhellung des dunkel Verworrenen, Enthüllung des absichtlich Vernebelten, viel Glanz, viel Kostbarkeit, geschliffene Diamanten — und ein absichtliches Ausweichen vor den Fragen des geistigen Inhalts.

Andere wiederum sind Handwerker der Kritik. Sie haben das Ihre gut gelernt. Sie wissen genau, was Lessing über diesen oder jenen Punkt in der Hamburgischen Dramaturgie gesagt hat, was die neueste Forschung der theaterwissenschaftlichen Institute zur Klärung dieser oder jener Streitfrage beizutragen hat, sie wissen, daß Brahm so, Reinhardt so, Jeßner so und andere wieder anders an die Lösung des Problems einer Aufführung herangegangen sind. Ihnen kann man nichts weismachen. Für sie gibt es keine Ueberraschungen, da alles schon einmal dagewesen ist, wenn auch in anderer Form. Sie haben ihre Gehirn- und Zettelkästen in bester Ordnung. Unter ihren dürren Händen verflüchtigt sich auch der letzte Schmelz. Erschütterungen sind ihnen fremd. Sie sind brave Schulmeister der Kritik, immer mit dem pädagogisch erhobenen Zeigefinger — und daher ewig in der Angst, es könnte mal jemand kommen, der ihr künstlich errichtetes Lehrgebäude umreißt und die sorgfältig geschichteten Steine ihres Wissens durcheinanderwirft. Dann würden sie sich nicht mehr auskennen, und der ungezogene Schüler bekäme ein „Nichtgenügend“.

Eine Reihe hinter ihnen sitzt jener, dem das Bohren seines Verstandes die Freude am Reiz des Schwebenden, des Unwägbaren nimmt, Ihm sind die letzten Ursachen, die letzten Erkenntnisse, der letzte Sinn wichtiger als das Verklingen einer Melodie, das Vibrieren eines Tones, die edlen Maße einer abgerundeten Bewegung, das Staccato der Erschütterungen, das Verzucken der Flamme eines Gefühls. Sie zücken das Seziermesser, ziehen die Haut ab, durchschneiden Nervenstränge, Sehnen und Fleisch, um an die Knochen zu gelange. Wenn sie dann das Gerippe in den Händen halten, rufen sie „heureka!“, und es fehlte nicht viel, dann würden sie auch noch die Knochensäge in Tätigkeit setzen. Chirurgen der Kunst, denen die Hände nie einen Augenblick zittern. Meister der Analyse, in deren Nähe jedes Gefühl einfriert. Und wer kommt da? Der Mann mit der gepachteten Weltanschauung. Einer, der eine vor zig Jahren ausgebrütete philosophische Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Ein Mann mit einem bestimmten Blickwinkel. Was in den nicht hineinpaßt, existiert einfach nicht für ihn. Auf Seite dreihunderteinundsiebzig seines Breviers steht für ihn, daß es so ist und nicht anders. Dichter haben sich nach den Gesetzen zu richten, die er als alleingültig für das Weltgeschehen anerkennt. Tun sie es nicht, verweist er sie in die Ecke. Vorstöße in geistiges oder seelisches Neuland belächelt er als Aberglauben, da doch ausdrücklich in der Fußnote zu Paragraph einundzwanzig des fünften Abschnittes im neunten Kapitel des zweiten Buches der Meister das letzte darüber gesagt hat. Schön, wenn einer so ein saubergefegtes Weltanschauungseigenheim besitzt. Er kennt nur den Boden, auf dem er seine Radieschen pflanzt. Daß ein anderer Boden anders beschaffen sein könnte, daß einer mit dem Boden experimentiert, um ihm neue Pflanzen von unerhörter Zauberpracht abzuringen, weiß er nicht. Er braucht es nicht zu wissen, denn seinen Wissensbereich umgrenzt das Parteibuch oder die Mitgliedskarte des Verbandes strenggläubiger Freidenker.

Nehmt die Erregungsfähigkeit des ästhetischen, des beeindruckbaren Menschen, die Gediegenheit des handwerklichen Könnens, die Schärfe des wachen Verstandes und die beharrende Kraft einer immer von neuem angezweifelten, immer von neuem erkämpften Ansicht von der Welt. Es sollen in dir, als ob sie deine eigenen sind, alle Töne nachklingen, dein Auge soll sich weit öffnen für die Bilder des Schönen und Häßlichen, deine Nerven sollen auch noch auf den leisesten Reiz reagieren, zusammenzucken unter den Schreien der entfesselten Leidenschaft und des gefesselten Leides, erschauern unter der Dämonie des Gewalttätigen, Stöße des befreienden Lachens durch deinen Körper senden, wenn die Lichter der Ironie aufblitzen oder der breite, behäbige Humor anrollt. Und du sollst wissen, was einst die klugen, die feinen Köpfe darüber dachten, was einst die höchste Erfüllung der Schauspielkunst war, was die Ausdeuter und Hineinleger über Stücke wie dieses gedacht haben — damit dir keiner ein X für ein U und Staub für Neuschneeflocken vormachen kann. Du mußt das Messer handhaben können, um es blitzschnell an unvermuteter Stelle ins Fleisch des Kunstwerkes zu stoßen — festzustellen, ob Knochen oder Holz das Gerüst sind, ob das Fleisch fest genug, die Sehnen straff gespannt sind. Und dann mußt du auf sicherem Grunde stehen, auch wenn dieser Grund manchmal nur millimeterbreit zu sein scheint und ein andermal ins Riesenhafte wächst, so daß dein Auge ihn nicht mehr zu überblicken vermag.

Der Kunst geht es um die Wahrheit. Wahrheit ist immer alt und immer neu. Was alt an ihr ist, kann man lernen; das Neue kann man nicht erjagen. Schreit euch einer von der Bühne her seine Forderungen ins Gesicht, dann rast nicht gleich Beifall oder pfeift nicht gleich Mißfallen, weil sie zu euren Erkenntnissen passen oder euer Denkgebäude zu vernichten drohen. Prüft sie auf ihren inneren Wahrheitsgehalt. Seht zu, ob dahinter ein Ringender steht, oder einer, der sich’s einfach macht, indem er die Weisheiten von der Straße aufnimmt, da, wo sie am billigsten sind Mancher kauft allerdings auch teuer am Schwarzen Markt ein. Dann setzt den gezahlten Preis ins richtige Verhältnis zum realen Wert, und ihr werdet finden, daß auch er nur ein betrogener Betrüger war. Und wenn einer daherkommt, der sich in dunkle Gewänder hüllt, geheimnisvolle Worte raunt, dann trennt mit dem Dolch eures Intellekts das Gewand auf und seht, ob es schwerer Samt oder Kunstseide Ist. Eure Augen seien Röntgenaugen. Sie sollen sich nicht durch äußeren Glanz blenden lassen, der euch einfangen und euch Leidenschaften vorspielen will, hinter denen keine echten Erschütterungen des Gemüts und des Geistes stecken.

Lernen kann man das allerdings nicht. Das Technische wohl, so wie der Bildhauer und der Maler das, Technische erlernen kann. Man hat es, oder man hat es nicht. Darum ist echte Kunstkritik auch ein Stück Kunst für sich. Wo sie das nicht ist, bleibt sie ästhetische Spielerei, Handwerk, intellektuelles Sezieren oder Weltanschauungsschmus. Wollt von einem Dichter, einem Regisseur, einem Schauspieler nur Wahrheit. Wer sie euch nicht geben kann, den stampft in Grund und Boden. Und wo sie — und sei es auch nur ganz leise — aufklingt, da macht sie bewußt, damit sie uns hilft. Denn Kunst ist kein Ding außerhalb unseres Lebens. Sie ist ein Teil unseres Lebens. Aus ihr kommen nicht nur unsere Tröstungen, aus ihr kommt der Anruf und Aufruf zur Tat. Dem spüre man nach, und dies spüre man auf.

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