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„Wende zum Frieden“: Tagesspiegel-Leitartikel vom 2. Oktober 1945
Zeitungsgründer Erik Reger erinnert ungeduldige Deutsche daran, wie geduldig sie mit Hitler, Göring und Goebbels waren und wie viel besser sie es jetzt schon haben als im Krieg.
Stand:
Unser Land für den Mittelpunkt der Welt zu halten, ist ein Unsinn, der innerhalb von dreißig Jahren nun schon zwei schreckliche Zurückweisungen erfahren hat. Wenn es hingegen richtig ist, daß, wer an Deutschlands Zukunft formt, die Zukunft der Welt in Händen hält, so ist es ein Grund mehr zu einem Stolz, der kein Stolz der Maßlosigkeit, sondern ein Stolz der Bescheidenheit ist. Denn es ist nicht etwa darum richtig, weil die geographische Lage in der Mitte Europas ein Vorrecht bedeutete — geschweige den Auftrag, die übrige Welt zu beherrschen —, sondern darum, weil es der Welt nicht gleichgültig sein kann, wie es im Herzen eines Volkes aussieht, durch dessen Gebiet alle Verbindungslinien des Kontinents laufen. So lange Deutschland den Ehrgeiz hatte, als dynamischer Unruheherd zu fungieren, wurde die Welt von einer Krise in die andere gestürzt. Sie wird in Frieden leben, wenn Deutschland den Frieden bewahrt. Uns dahin zu bringen, daß wir keine Kriege mehr führen können, ist ein mechanischer Vorgang, den Kapitulationsbedingungen und Reparationen zu bewerkstelligen vermögen. Zu erreichen, daß wir keine Kriege mehr führen wollen, ist ein geistiger Vorgang, den wir selber herbeiführen müssen. Er setzt voraus, daß Größe an ethischen Maßstäben gemessen wird. Solche Größe beweisen wir, wenn wir, statt uns ausdehnen zu wollen, uns auf uns selbst zurückziehen, um zu lernen, was Verantwortung und Verpflichtung gegenüber der Menschheit eigentlich heißt. Die wirklich Großen deutscher Nation haben sich im Kampfe um Menschlichkeit, um Menschenwürde und Menschenrecht stets vorbehaltlos den Großen aller Nationen beigesellt.
Materielle Garantien wiegen wenig gegen geistige. Trotzdem lebt der Mensch, wie nicht vom Brot allein, so auch nicht vom Geist allein. Es scheint uns, daß unser Volk es zu selbstverständlich hinnimmt, wenn ein 1500-Gramm-Brot nach wie vor 53 Pfennig kostet. Manch denkfaules Gehirn mag darin sogar eine nachträgliche Bestätigung der Posaune des Wirtschaftsministers Funk, den man vielleicht richtiger einen Wirtshausminister geheißen hätte, erblicken: „Im nationalsozialistischen Staat gibt es keine InflationI“ Demgegenüber haben wir mit aller Energie zu erklären, daß uns die Uferlosigkeit einer Inflation allein dank der alliierten Planung erspart bleibt, wenngleich wir andererseits vor dem leichtfertigen Glauben warnen möchten, die verrottete Funkmark könne in alle Ewigkeit als wertbeständiges Gnadengeschenk betrachtet werden. Zugegeben, daß in anderer Hinsicht der Vergleich mit 1918 weniger tröstlich ist. Aber wenn wir Gerechtigkeit erstreben, dürfen wir auch dort nicht ungerecht sein, wo die allerpersönlichste Misere uns dazu verleiten möchte. Wir haben gehört, daß in England jetzt die Lebensmittelrationen gekürzt werden, damit an das hungernde Europa etwas abgetreten werden kann. Wir haben gehört, daß die Amerikaner auf die Rückkehr zu ihrem gewohnten Lebensstandard verzichten: zugunsten der Länder, die durch deutsche Schuld fast alles Notwendige entbehren. Hoffentlich fragt sich jeder einzelne von uns: Und wir? Was haben wir getan? Klingen uns nicht Görings Worte abscheulich im Ohr: „Wenn einer hungert, dann wird es nicht Deutschland seinl“ Wir haben nichts abgegeben, wir haben nur weggenommen. Wir haben den unterjochten Völkern das letzte Brot geraubt, um uns in die Illusion zu wiegen, wir könnten uns auch im Kriege ausreichend ernähren. Was immer wir heute leiden, es gibt nur ein einziges Wort dafür: „Daß wir hier darben, verdanken wir dem Führer.“ Man wird nicht satt davon, aber es erleichtert. Es ist ein Teil der geistigen Reparation.
Als Goebbels sagte: „Wir müssen siegen oder untergehen“, wurde es von unserem Volke mit der verwünschten dumpfen Gelassenheit hingenommen, die an vielem ebenso schuldig wurde wie aktive Beihilfe. Wir haben im Sinne des falschen Propheten Goebbels nicht gesiegt und sind trotzdem nicht untergegangen. Heute aber müssen wir, um nicht auf andere Weise unterzugehen, in einem anderen Sinne siegen — nämlich über uns selbst. Ueber alle Anwandlungen von Verzweiflung. Ueber alle Rückfälle in Hochmut. Der Nationalsozialismus dauerte 12 Jahre und 3 Monate. Der Krieg währte 60 Monate und 250 Tage. Seit dem Ende aller Greuel in Europa sind erst 125 Tage verflossen, das ist der 36. Teil der Nazizeit und der 24. Teil der Kriegszeit. Nun schon die Beseitigung der schlimmen Folgen bis zur Wiederherstellung eines normalen Lebens erwarten, heißt in der Einsichtslosigkeit, der Ueberheblichkeit und Unmäßigkeit, kurzum in all den schlechten Charaktereigenschaften verharren, die den Nationalsozialismus ermöglicht und getragen haben.
Erinnern wir uns, wenn wir jetzt ungeduldig werden wollen, an die Geduld, die wir mit Hitler gehabt haben. Jedes Stück dieser unangebrachten Geduld kehrt sich verhundertfacht gegen uns selber. Andererseits haben die teuflischen Kräfte, die die Welt zugrunderichten wollten, statt der beabsichtigten 1000 Jahre nur 12 Jahre reqiert. das ist der 83. Teil. Zwar ist rascher zerstört als gebaut, aber wenn alle guten und menschlichen Kräfte dpr Welt sich verbinden und wir zu ihnen stoßen, ergibt sich vielleicht ein Verhältnis von 1 :20. Wenn also nicht der 80., so wird dann vielleicht der 4. Teil der barbarischen 12 Jahre ausreichen, um Luft zum Atmen zu schaffen. In der Zwischenzeit befriedigt uns die gleiche Beobachtung eines lebendigen religiösen Gefühls, über das Goethe Im Jahre 1816 zu Wilhelm Grimm äußerte, es sei in der Zeit erwacht; und weil es so recht als Notwendigkeit gefühlt sei, als etwas, ohne das man nicht leben könne, werde es auch nicht unterdrückt werden können.
So hart der kommende Winter werden mag, er wäre härter geworden, wenn der Krieg erst im Herbst und nicht schon im Frühjahr zu Ende gewesen wäre. Daß wir ruhig schlafen können und keine Bomben mehr fallen, gehört zu den Lichtblicken, deren Wert wir nur ermessen können, wenn wir sehr intensiv an die Tage und Nächte zurückdenken, in denen uns unaufhörlich die Alarmsirenen verfolgten, an die zitternden, eilenden Menschenströme, die mit Koffern, Körben und Kinderwagen gespenstisch durch die Straßen der Städte wankten, um einen vermeintlich schützenden Bunker zu erreichen. Die Rückkehr zum Frieden ist in unserer empfindlich verzahnten Welt nicht mehr so einfach wie ehemals, als die Kriege mit Arkebusen und Feldschlangen geführt wurden und mit dem letzten Schuß endigten. Die modernen Kriege führen ein latentes Dasein weiter, bis ihre wirtschaftlichen Wirkungen einigermaßen paralysiert sind und in allen Ländern die Rüstungsindustrie auf Verbrauchsgüterproduktion umgestellt ist. Desto mehr müssen wir der Atombombe dankbar sein, die so jäh Japans Kapitulation erzwungen und die Welt vom letzten Alpdruck erlöst hat. Eine Bahn ist frei. Viele Kräfte, die sich sonst noch in kriegerist hen Anstrengungen verzehrt hätten, konzentrieren sich nun auf den Frieden. Auf dieser freien Bahn werden die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz schneller und umfassender zur Geltung kommen, als zuvor billigerweise erhofft werden konnte. Wir dürfen daher mit verstärkter Zuversicht aller Durchführungsbestimmungen des interalliierten Kontrollrates harren. Sage man, was man wolle: nach diesem Fegefeuer steht die Zukunft der Welt unter besseren Auspizien als je in ihrer Geschichte, falls ausnahmslos alle Völker dies begreifen.

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