
© Gestaltung: TSP/Sabine Wilms, Fotos: Ariane Niehoff-Hack, TSP-Archiv
„Ein Stück Glanz fabriziert“: Als Filmkritikerin Karena Niehoff für den Tagesspiegel auf Reisen ging
Ihre Reportagen sind eine Wiederentdeckung wert. Zum 80. Jubiläum des Tagesspiegels erinnern wir an die Feuilletonistin Karena Niehoff, die als Holocaust-Überlebende gegen Antisemitismus kämpfte.
Stand:
Als Karena Niehoff anfing, für den Tagesspiegel zu schreiben, hatte ihr Name schon einige Male in unserer Zeitung gestanden. Unter dem Titel „Ausschreitungen im Harlan-Prozeß. Beschimpfungen und Handgreiflichkeiten gegen Zeugin“ erschien am 15. April 1950 ein Bericht über antisemitische Attacken im Hamburger Verfahren gegen den Regisseur Veit Harlan während der Zeugenvernehmung „der neunundzwanzigjährigen Journalistin Karena Niehoff“.
In dem Prozess hatte Karena Niehoff, gebürtige Berlinerin und in der Nachkriegszeit bereits Autorin für „Kurier“ und „Welt“, laut dem im Tagesspiegel erschienenen Gerichtsbericht unter anderem ausgesagt, dass sie „Halbjüdin“ sei und 1940 für den Drehbuchautor Ludwig Metzger gearbeitet und dort das erste Drehbuch zu dem Film „Jud Süß“ gelesen habe. Regisseur Harlan habe „dieses Drehbuch verändert und wesentlich antisemitischer gestaltet“.
Karena Niehoff, die von den Nazis dreimal eingesperrt worden war und den Holocaust dann, in Berlin versteckt, überlebt hatte, wurde nach ihrer Aussage als Zeugin noch im Gerichtssaal und später vor dem Gebäude antisemitisch beschimpft und bedroht. „Raus aus Deutschland!“, brüllte der Mob unter anderem.

© Tagesspiegel
Ein Journalist – es war Egon Giordano, der ältere Bruder Ralph Giordanos –, der die Pöbler im Gerichtssaal als antisemitisch bezeichnet hatte, „wurde ebenfalls von der Menge angegriffen“. Der Staatsanwalt habe den Mob „nationalsozialistisch“ genannt, so der Bericht im Tagesspiegel.

© Ariane Niehoff-Hack
Als Karena Niehoff zehn Jahre später für den Tagesspiegel über Marlene Dietrichs ersten Nachkriegs-Auftritt vor Berliner Publikum und über „propre Mädchen und sehr aufrechte Jünglinge“ schrieb, die vor dem Titania-Palast „unverdrossen ihre Pappkartons mit dem aufgemalten ,Marlene, go home’“ schwenkten und die antifaschistische Schauspielerin und Sängerin als „Verräterin“ beschimpften, wird sie die Bilder der Hamburger Attacken gegen sie selbst im Kopf gehabt haben.
Deren genauen Hergang hat Oberstaatsanwalt Carsten Rinio vor zwei Jahren in den „Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins“ anhand der Verfahrensakten rekonstruiert und als Beispiel für „virulenten Judenhass wenigstens eines Teils der deutschen Nachkriegsbevölkerung“ analysiert.
Dies nicht nur in der „Nachkriegsbevölkerung“: Immer wieder erhielt Karena Niehoff antisemitische Briefe. Ihre Mutter habe Anzeige erstattet, erinnert sich Karena Niehoffs Tochter Ariane Niehoff-Hack. „Natürlich ohne jegliches Ergebnis.“ Die Briefe seien nicht regelmäßig gekommen, „aber ziemlich lange“.
Obendrein verbreiteten die „Hamburger Freie Presse“ und Bürgermeister Max Brauer (SPD) die Verschwörungstheorie, die antisemitischen Pöbeleien gegen Karena Niehoff seien eine kommunistische Provokation gewesen. Dabei wurde der Eindruck erweckt, die Zeugin Niehoff selbst sei Teil dieses „Trickfilms“ gewesen.
Auch dagegen ging Karena Niehoff – erfolglos – juristisch vor, bis hin zu einer Zivilklage, da die Verleumdungen ihr in ihrem Beruf als Journalistin geschadet hätten. „Es sei ihr von verschiedenen Zeitungen, unter anderem von der ,Zeit’ mitgeteilt worden, dass man von ihr keine Beiträge mehr annehmen könne, solange sie nicht rehabilitiert sei,“ zitieren sie die „Mitteilungen des Hamburger Richtervereins“. Auch in der „Welt“ brachte sie nichts mehr unter. Im Mai 1952 wurde ihre Zivilklage abgewiesen. Die Berufung, die sie zunächst eingelegt hatte, zog sie zurück.
Zu allem Überfluss sollte sie Gerichtskosten zahlen, 556,85 DM. Sie reagierte mit deutlichen, wie schon bei Rinio auch hier ausführlich zitierenswerten Worten und verwahrte sich dagegen, dass „ein Bürger, der im Nazi-Kazet gesessen hat und in Ostdeutschland eingesperrt war, sich dafür, dass er als Zeugin im Harlan-Prozess seinen politischen Pflichten genügte, von der Meute als ,Judensau’ und anschliessend vom Bürgermeister derselben Stadt als ,kommunistische Provokateurin’ beschimpfen lassen musste, wofür er dann auch noch die Kosten eines zur Wiederherstellung seiner gröblich beleidigten Ehre vergeblich geführten Prozesses zahlen soll“, was sie, „das unschuldige Opfer politischer Interessen, kaum weniger Kraft und Gesundheit gekostet hat als das Unrecht, das mir vorher von zwei Diktaturen geschehen war“.
„Zwei Diktaturen“, „in Ostdeutschland eingesperrt“? Auch dazu hatte Karena Niehoffs Name schon im Tagesspiegel gestanden, bevor sie für ihn selbst zu schreiben anfing. Mit der Überschrift „Karena Niehoff entlassen“ war am 6. April 1950 die Meldung erschienen, sie sei mit einem Kollegen auf einer Reise in das deutsch-polnische Grenzgebiet wegen „Spionageverdachtes“ verhaftet worden und erst nach sechs Wochen wieder freigekommen. Die gegen sie erhobenen Beschuldigungen hätten sich als völlig unbegründet erwiesen. „Wie Karena Niehoff berichtet“, hieß es in der Meldung weiter, „war sie zusammen mit Franz von Thadden in mehreren Gefängnissen der Ostzone inhaftiert, zuletzt im Prenzlauer Gefängnis.“
Menschliches, Allzumenschliches
Ihr erster Artikel im Tagesspiegel erschien am 17. April 1952, eine kurze Kritik zum Film „All about Eve“. In der Rubrik „Auf der Leinwand“ sticht Karena Niehoffs Beitrag neben den anderen eher routiniert formalen Rezensionen durch den Blick fürs Menschliche, Allzumenschliche hervor. Ihr Text ist auch der einzige, der mit vollem Namen gezeichnet ist.
Über Anne Baxter schreibt Karena Niehoff, sie verzichte bei ihrer Darstellung der Titelfigur, der ehrgeizigen Broadway-Aufsteigerin Eve, „mutig auf jedes weiche Polster im Charakter dieses zielstrebigen Mädchens“. Und zu Bette Davis: „Auch von der großen Gegenspielerin und Gönnerin, die schon längst alles erreicht hat, fällt der flimmernde Schleier der dümmlich-selbstzufriedenen Starseligkeit.“
Sehr bald war Karena Niehoff prägende Tagesspiegel-Autorin, deren Artikel neben denen anderer Persönlichkeiten der Zeitung, etwa auch Gründer Erik Reger, auf Seite 1 angekündigt wurden. Und sehr bald ging sie für den Tagesspiegel auf Reisen, in Deutschland, nach Jugoslawien, nach Israel und vor allem nach Frankreich.
Essayistisch, gekonnt abschweifend
In der Sonntagausgabe vom 1. Juni 1952 erschien von Karena Niehoff ein langes Stück über Bad Homburg, die Geschichte des royalen Kurbades und dessen Nachkriegszustand mit vielen Flüchtlingen (oft ihr Thema), alliiertem Deutschland-Tourismus und hochlaufender bundesdeutscher Wirtschaft.
Darin aber – und dies wird ein Merkmal ihrer Reportagen – auch immer wieder Essayistisches, gekonnt Abschweifendes, etwa über die „Verzeichnung der Landschaft“ durch neue Shell-Autokarten, in denen Flüsse verlegt und Gebirge verschoben werden, „um eine Straße plastisch sichtbar zu machen“ und die Welt „mit den Augen der Autofahrer“ erkunden zu können.
Nicht zuletzt: Lokales. Ihre Stücke machen einen Stapellauf in Spandau, Studententheater an der FU oder ein Blumenbeet vor einer Apotheke in Steglitz – ein Fall frühen Urban Gardenings – zu feuilletonistischen Ereignissen.

© Heinz Köster
Eben noch Spandau, schon bald Caen (und im Jahr darauf auch erstmals Cannes): Zum Jahresende 1952 erschien von Karena Niehoff eine Artikelserie über die Normandie, wo sie im Herbst unterwegs gewesen war. „Der Gedanke, daß die Normandie keine Erfindung der Invasionsgeneralstäbler ist, sondern schon ziemlich lange vorher bestanden hat, ist uns, die wir so ganz von der jüngsten Historie beherrscht sind, nicht ohne weiteres vertraut“, schreibt sie trocken als Einstieg.
Dabei bedeutete diese Invasion für sie selbst einen wichtigen Schritt zur Befreiung, zum Ende Nazi-Deutschlands. Als die Landung der West-Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 begann, war Karena Niehoff bereits dreimal von den Nazis interniert worden: in Moabit, in der Großen Hamburger Straße und in Fehrbellin.
Unter den wenigen überlebenden Berliner Jüdinnen und Juden
Karena Niehoffs Mutter Rose, bis dahin in Berlin untergetaucht, wurde am 16. Juni nach Theresienstadt deportiert. Auch sie gehörte zu den wenigen überlebenden Berliner Jüdinnen und Juden.
Nachdem Karena Niehoff auf Fürsprache der japanischen Botschaft – für Shigeki Sakimura, einen Wissenschaftler und Antifaschisten aus deren Umfeld, hatte sie gearbeitet – zum dritten Mal freigekommen war, tauchte auch sie unter. „Mir hatte man angedroht bei der Entlassung, daß jede erneute Verbindung zu Sakimura oder anderen Japanern für mich die diesmal endgültige Einweisung in ein KZ bedeuten würde“, zitiert sie der Publizist Jörg Becker, der Karena Niehoffs Biografie für einen 2006 in der „edition text + kritik/Film & Schrift“ erschienenen Sammelband ihrer Filmartikel erforscht hat.
Die letzten Kriegstage und die erste Nachkriegszeit beschreibt Karena Niehoff in ihrem als Tagebuch verfassten Text „Die Unverwüstlichen“, der in einem Band mit dem Titel „Buch Berlin“ gleich nach dem Krieg erscheinen sollte. Weitere Beiträge kamen zum Beispiel von Friedrich Luft, Johannes R. Becher, Günther Weisenborn, Annedore Leber, Fritz Erpenbeck und Alfred Kantorowicz.
Das Projekt scheiterte an den wirtschaftlichen Bedingungen jener Jahre. Erst 2004 erschien der Sammelband unter dem Titel „Bomben, Trümmer, Lucky Strikes. Die Stunde Null in bisher unbekannten Manuskripten“.
Karena Niehoffs Beitrag widerlegt den Titel des Buchs. Dass es eine „Stunde Null“ nicht wirklich gab, fiel ihr schon damals auf. „Ich staune die Welt um mich herum an, wie sie voll Hast und Energie an dem neuen Leben zimmert, hämmert, flickt und die Unordnung ordentlich einteilt“, schreibt sie unter dem Datum 30. Mai 1945. „Mir geht das alles zu schnell. Warum sind sie nur alle wieder so erschreckend lebendig?“
„Jetzt, wo die sich (noch) vor uns verstecken“
Die, die mitgemacht haben, machen einfach weiter. „Sie haben schon wieder Stellungen bezogen, Ziele abgesteckt, Urteile gefestigt. Wo alles schon wieder so behende einen Platz oder wenigstens einen ,Standpunkt’ eingenommen hat – wie darf man da müde sein?“
Die Portiersfrau „sitzt da, wo sie ihren Platz auch in vergangenen Zeiten so nützlich ausgefüllt hatte“. Das Kaffeekränzchen ist ebenfalls ganz bei sich. „Also meine Damen, wir halten uns weiter an unsere alte Abmachung: Keine Politik! Keine Gefährdung unserer Einigkeit! Auch sonst ist alles wir früher“ (13. und 14. Juli 1945).
Was sich für sie geändert hat? „Einen wesentlichen Unterschied zwischen der Zeit, als ich mich vor den Nazis versteckte, und jetzt, wo die sich (noch) vor uns verstecken, habe ich doch schon entdeckt: Hatte ich damals schlecht und hungrig gelebt, ohne zu arbeiten, so muß ich jetzt, um dasselbe zu dürfen, auch noch ‚werktätig’ sein“, schreibt sie mit scharfem Blick auch schon fürs Kommende.
„In der Seele, in allen Poren saß der Holocaust“, sagt Ariane Niehoff-Hack über ihre Mutter, „sie wurde nie davon frei.“ Gesprochen hat sie über ihre Erfahrungen nicht. „Sie schrieb, aber schwieg.“
In Karena Niehoffs Reisereportagen für den Tagesspiegel finden sich Hinweise auf Krieg, Besatzung, mörderisches deutsches Regime. „In jedem normannischen Nest gibt es ein oder mehrere Häuser, an denen — genau wie in Paris, nur übersieht man es da leichter — Ehrentafeln daran erinnern, daß hier ein Mitglied der Resistance umgebracht worden ist.“
Ironischerweise wurde ihr nun als Deutsche misstrauisch begegnet. „Aber nicht leicht gelangt ein Fremder, und gar ein Deutscher, in ein normannisches Bauernhaus.“ Vorsichtshalber wird sie als Österreicherin vorgestellt.
Es folgen weitere Frankreich-Reisen: Marseille („Das Monstre mit den schönen Augen“), Arles („Die Wüste und die heiße Stadt“), Nimes („... ist ganz anders“), Camargue („Texas im Rhônedelta“), Languedoc („Das Geheimnis des Rosé“).
Und natürlich Cannes: „Jeden Tag wird von den geschäftigen Eingeweihten im heiligen Kreise ein Stück Glanz fabriziert und den Wartenden zelebriert“, schreibt sie 1953 über ihren ersten Besuch bei den Filmfestspielen für den Tagesspiegel. „Und jeden Tag zerfällt ein Stück Glanz.“
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Als große Filmkritikerin und prägende Kultur-Persönlichkeit West-Berlins, zu der sie über die kommenden Jahrzehnte wurde, ist Karena Niehoff vielfach gewürdigt worden. Neben dem Tagesspiegel schrieb sie vor allem für die „Süddeutsche Zeitung“ und den „Tip“. Zum Thema Film wurden ihre Porträts, Kritiken und Feuilletons („Meditationen nach Kinoschluss“) in Büchern veröffentlicht.
Als Reiseschriftstellerin wäre sie heute wieder zu entdecken. Mit Ausnahme einer großen Tagesspiegel-Reportage 1960 aus Israel, die 1962 in der Niehoff-Anthologie „Stimmt es, stimmt es nicht?“ erschien, fehlen bislang Buch-Veröffentlichungen ihrer essayistischen Reiseberichte.

© Markus Hesselmann
„Karena Niehoff – der Name steht für vieles, nahezu alles, was den Tagesspiegel der Anfangszeit ausmachte.“ So beginnt der langjährige Feuilletonchef Heinz Ohff den Nachruf, der einen Tag, nachdem Karena Niehoff am 18. September 1992, fast 72-jährig, gestorben war, im Tagesspiegel erschien.
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