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Sexualisierte Gewalt im Alltag: „Jeder wusste es, aber wir hielten alle die Schnauze“
Viele Fälle von Missbrauch und Belästigung durch Kollegen, Trainer oder Mitschüler bleiben folgenlos. Wieso? Vier Faktoren spielen dabei eine zentrale Rolle.
Stand:
Es gibt Missbrauchsfälle, wie beispielsweise der Fall Harvey Weinstein oder die Taten im Bistum Trier, die viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Im Nachhinein muss man sich aber fragen: Warum erst so spät? Die Fälle haben sich über viele Jahre hinweg abgespielt. Deshalb ist die Zahl der Opfer so hoch.
Dabei ist es logisch und teilweise auch bekannt, dass es Mitwissende gab. Mitwissende, die all diese Jahre von den Übergriffen gewusst und sich trotzdem dagegen entschieden haben, zu handeln. Dabei hätte vielleicht eine einzige Aussage gereicht, um die Situation zu beenden.
Diese Mitwissenden gibt es nicht nur bei prominenten Fällen, sondern auch bei sexualisierter Gewalt in Sportvereinen, Unternehmen, Schulen. Warum handeln sie nicht?
In der Sozialforschung gibt es mehrere Faktoren, die beeinflussen, ob Menschen in einer Situation eingreifen oder nicht. Vier davon, die im Kontext Mitwissender sexualisierter Gewalt besonders relevant erscheinen, werden hier genannt.
1 Verantwortungsdiffusion
Die Forschung spricht über die Anzahl der in einer entsprechenden Situation anwesenden Personen vom „Bystander“-Effekt (deutsch: Umstehende). Beobachtet ein Mensch allein eine übergriffige Situation in der U-Bahn, so hat er demnach die hundertprozentige Verantwortung, zu entscheiden, ob er eingreift oder nicht. Mit jeder weiteren umstehenden Person teilt sich diese Verantwortung.

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Bei zehn anwesenden Personen, so die Hypothese aus der Sozialforschung, fühlt die Person nur noch zehn Prozent der Verantwortung. Diese Verantwortungsdiffusion führt dazu, dass, je mehr Menschen etwas beobachten, es desto unwahrscheinlicher wird, dass einer von ihnen eingreift.
So beschreibt ein Vater, der anonym bleiben möchte, eine Situation im Sportverein seiner Tochter. Sie war 15 und hatte es in den Auswahlkader geschafft, der Vater begleitete sie zu den meisten Turnieren. Eines Tages war der Trainer nicht mehr da. Die Tochter erzählte ihm daraufhin, der 28-jährige Trainer habe regelmäßig mit einer 13-Jährigen aus dem Verein Geschlechtsverkehr gehabt.
Der Trainer wurde suspendiert, unterrichtet mittlerweile aber Mädchen in einem anderen Verein. Strafrechtliche Konsequenzen gab es für ihn nicht, auch weil zunächst niemand der Mitwissenden mit der Polizei gesprochen hat.
Ich finde nicht, dass es meine Verantwortung ist, zu handeln, nur weil ich davon gehört habe.
Vater eines Mädchens, dessen Trainer regelmäßig Geschlechtsverkehr mit einer 13-Jährigen hatte
Auf Nachfrage sagte der Vater: „Nach dem Weggang des Trainers hat es jeder gewusst. Aber es wurde intern abgewickelt und wir hielten alle die Schnauze. Ich finde nicht, dass es meine Verantwortung ist, zu handeln, nur weil ich davon gehört habe. Das ist doch der Job ihrer Eltern! Gut, das scheinen keine stabilen Familienverhältnisse gewesen zu sein bei ihr. Aber es gab im engeren Kreis noch einige andere Eltern im Verein, die viel näher am Fall dran waren. Von denen hat auch niemand die Polizei, den Landesverband oder eine Beratungsstelle informiert.“
2 Die Beziehung zum Täter
Den eigenen Bruder, besten Freund oder Lieblingskollegen würden viele wohl nicht so schnell bei der Polizei anzeigen. Es ist sogar nicht einmal eine Seltenheit, dass Eltern nichts sagen, obwohl es sich bei dem Opfer um das eigene Kind handelt. Weil sie in einer Beziehung zum Täter stehen, der Täter zum Beispiel der Stiefvater ist. Doch es ist sind nicht nur diese gravierenden Fälle.

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Es kommt oft vor, dass Mitwissende Übergriffe tolerieren, weil sie den Täter schon lange kennen. Die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle forscht seit Jahren zu Gewalt gegen Frauen. Sie sagt: „Jeder kennt das aus dem Arbeitsleben. Man arbeitet in einem Team, mag sich gerne und fühlt sich total wohl. Wenn dann jemand einen komischen Spruch macht, unterdrückt man oft den Impuls, zumindest so scharf zu reagieren, wie man es eigentlich tun würde. Man möchte sich nicht entzweien. Man hat das Eigeninteresse, dass es gut bleibt im Team.“
Täter gehen oft sehr geschickt vor. Da möchte niemand glauben, dass sie übergriffig waren
Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle
Täter, die sexualisierte Gewalt ausüben, gehen noch dazu oft strategisch vor. Monika Schröttle sagt, die Täter seien oft extrem manipulativ und in den Teams beliebt, weil das Teil ihrer Strategie ist. „Sie gehen sehr geschickt vor. Da möchte niemand glauben, dass sie übergriffig waren.“
Außerdem suchen sie sich gezielt Opfer mit wenigen oder leichter manipulierbaren Kontaktpersonen aus. „Es kann sein, dass es in einem Unternehmen nur einen Täter gibt. Wenn dieser aber toleriert wird, kann es nach mehreren Jahren auch schnell mehrere Opfer geben.“
3 Die persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung
Wer etwas mitbekommt, berechnet für sich, welche Kosten gegen welchen Nutzen stehen – sowohl beim Eingreifen als auch bei der Entscheidung, nicht zu handeln. Wer eingreift, riskiert beispielsweise, vom Täter oder einer ganzen Gruppe ausgegrenzt zu werden.
Die Psychologie spricht hier vom „Schwarzes-Schaf-Effekt“, vergleichbar mit der Situation von Whistleblowern. Mitwissende könnten auch persönlich angegriffen werden oder den Job verlieren. Andererseits: Wer nicht eingreift, riskiert unter anderem hohe psychische oder physische Schäden des Opfers und wird oft lange von schlechtem Gewissen geplagt.
Der Sozialpsychologe David Urschler schreibt dazu in seinem wissenschaftlichen Paper „Eintreten gegen moralische Verstöße: Die prädiktive Rolle von Attribution, Verwandtschaft und Schwere“: „Wenn Menschen andere in Not sehen, kann dies bei ihnen unangenehme Gefühle erzeugen. Eine Möglichkeit, diesen unangenehmen Zustand zu reduzieren, liegt in einer Hilfeleistung, wobei die Menschen Kosten für ihr Eingreifen in Kauf nehmen.“
Ich werfe mir selbst vor, dass ich damals nicht gehandelt habe.
Ein Arbeitnehmer über einen Fall von sexueller Belästigung in seinem Unternehmen
Der Vater, der seine Tochter zu Sportwettkämpfen begleitet, sagte: „Was mich extrem gestört hat, war, dass sonst nichts weiter passiert ist. Ich wollte, dass dieser Fall nicht unter den Tisch gekehrt wird. Ich wollte nicht, dass so was auch meine Tochter trifft. Mir ist bewusst, dass, wenn der Trainer nicht mehr mit jungen Frauen zusammenarbeiten würde, das Leben weiterer Mädchen beschützt werden könnte. Und ich weiß auch, warum die anderen Eltern ebenfalls nicht eingegriffen haben: Die hatten Angst, dass ihre Tochter aus dem Kader fliegt, wenn rauskommt, dass sie da was unternehmen.“
Ein anonymer Arbeitnehmer berichtet über einen Fall von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung in seinem Unternehmen. Rückblickend sagt er: „Ich habe nicht genug hingeschaut. Ich hätte den Täter konfrontieren und meine Vorgesetzten informieren sollen. Hätte ich es gemacht, hätte ich heute nicht dieses schlechte Gewissen. Vielleicht würde ich dann auch nicht mehr schlecht davon träumen. Ich werfe mir selbst vor, dass ich damals nicht gehandelt habe. Das belastet mich sehr.“
Die Soziologin Schröttle sagt, Menschen greifen oft nicht ein, weil sie sich ohnmächtig fühlen, weil sie die Konsequenzen für sich selbst nicht abschätzen können. „Das ist menschlich.“ Schließlich sind für diese Kosten-Nutzen-Rechnung viele Dinge unklar, gleichzeitig muss die Entscheidung meist innerhalb von Sekunden getroffen werden.
4 Die Eindeutigkeit
Die Sozialforschung spricht zum einen vom Schweregrad einer Situation. Sieht man eine Person, die zu sterben droht, greift man eher ein, als wenn es „nur“ ein übergriffiger Spruch ist. Im ersten Fall ist die Notsituation sehr klar.
Zum anderen wird in der Sozialforschung auch die Verantwortungszuschreibung thematisiert. Sieht man beispielsweise in der Bahn, wie ein Mann eine Frau am Hintern berührt, weiß man zunächst nicht, ob die beiden nicht vielleicht ein Paar sind und die Frau diese Berührung wollte. Das heißt: Bei sexualisierter Gewalt ist es für Umstehende manchmal schwer zu sehen, ob die betroffene Person Hilfe benötigt und möchte.
Laut dem Sozialpsychologen Urschler ist es bei Situationen wie dieser Berührung in der U-Bahn sehr hilfreich, wenn Betroffene den Täter siezen. So weiß das Umfeld direkt, diese Personen gehören nicht zusammen, und kann es besser einordnen.

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Er sagt außerdem: „Bei weniger gravierenden und weniger eindeutigen Situationen greift die Bewertungsangst. Menschen haben Angst, selbst ein Urteil über die Situation zu fällen und entsprechend aktiv zu werden, weil sie immer für ihr Handeln beurteilt werden. Von anderen Mitwissenden oder auch vom Täter, der sagen könnte: ‚Warum mischst du dich hier ein? Das geht dich nichts an!‘ Bei subtilen Fällen gilt man auch schnell als Spaßbremse.“
Dazu komme, dass bei sexualisierter Gewalt zwei Seiten zu betrachten seien, es gilt die Unschuldsvermutung für den Täter. „Eine Berührung kann in manchen Fällen auch ein Versehen sein. Das macht die Entscheidung, ob man es thematisieren sollte, besonders schwer. Besser ist es aber, das anzusprechen und nachzufragen und, falls man tatsächlich danebengelegen hat, sich dafür zu entschuldigen.“
Obwohl Mitwissende oft nichts sagen, weil sie Angst haben, jemanden falsch zu verdächtigen, ist Letzteres nur selten der Fall. In Zahlen ist das Thema aufgrund der schwierigen Eindeutigkeit kaum zu fassen. Aber eine europaweite Studie beziffert den Anteil an Falschbeschuldigungen auf deutlich unter zehn Prozent, darunter auch die beabsichtigten Falschbeschuldigten. Die Studie aus dem Jahr 2009 hat in in elf ausgewählten Ländern je 100 Akten von Vergewaltigungsfällen untersucht, unter anderem in Deutschland.
Mitwissende haben oft keine Beweise und meistens auch keine schlimmen Situationen direkt beobachtet. Doch viele berichten von einem „komischen Gefühl“. Monika Schröttle sagt: „Ich rate immer, dass man sich in solchen Fällen mit anderen Kolleg:innen oder Eltern zusammentut. Dass man die fragt: Hast du dabei auch ein komisches Gefühl? Wenn ein paar Leute sagen, sie haben ein komisches Gefühl, dann ist da meistens auch etwas.“
Sobald es einen kollektiven Verdacht gäbe, sei ein Eingreifen viel einfacher. „Als Einzelne denkt man oft, man täuscht sich und hat vielleicht zu viele Filme geschaut. Aber es ist wirklich wichtig, dem komischen Gefühl nachzugehen.“ Und manchmal heiße eingreifen auch nur dem Täter zu signalisieren: „Ich habe dich im Blick“.
Über das komische Gefühl berichtet auch eine Frau, die eine Situation in einer Kirche beobachtet hat. Später musste sie erfahren, dass diese Person in Leitungsfunktion Kinder missbraucht hat. „Ich war mit ihm und einigen anderen in einem Raum und habe dort gesehen, wie er einen Jungen gekitzelt hat“, berichtet sie. „Ich habe nichts gesehen, was ich eindeutig als klaren Fehler hätte anprangern können, aber ich hatte sofort ein ganz komisches Gefühl. Ein starkes Gefühl von Ungerechtigkeit. Ich habe gefühlt, dass da jemand schlecht behandelt wird und wollte den Jungen da rausholen. Aber niemand der anwesenden Personen hat etwas gesagt. Also habe ich das auch nicht. Heute, viele Jahre später, beschäftigt mich das immer noch. Seitdem spreche ich Situationen, die mir komisch vorkommen, lieber einmal zu viel an. Damit geht es mir deutlich besser.“
Langsam verändern sich die sozialen Normen
Die Eindeutigkeit ist auch deshalb so schwierig, weil die Ächtung sexualisierter Gewalt eine relativ neue Entwicklung ist. Noch vor 50 Jahren war es gesellschaftlich toleriert, wenn der Chef der Sekretärin an den Hintern fasst.
Doch spätestens der Beginn der MeToo-Debatte hat eine gesellschaftliche Veränderung angestoßen. Seit 2016 können Betroffene sexuelle Belästigung anzeigen. Experte Urschler nennt es eine „Normshift“, eine Veränderung von sozialen Normen – und diese dauern lang.
In seinem Paper schreibt er: „Menschen greifen ein, weil andere Menschen gegen soziale Normen verstoßen“ – aber genau diese soziale Norm ist bei MeToo-Fällen noch sehr frisch. Er sagt: „Wir sind gerade mitten in dem Normshift, in dem wir als Gesellschaft verstehen, dass wir sexualisierte Gewalt, auch in subtileren Formen, nicht mehr tolerieren.“

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Er schreibt weiter: „Außerdem kann das Eingreifen gleichzeitig gegen andere soziale Normen verstoßen.“ Bei MeToo-Fällen trifft die alte, gesellschaftlich etablierte Norm des Schutzes der Privatsphäre auf die noch junge Form des Schutzes vor Diskriminierung und sexuellen Übergriffen. Je klarer jede Gesellschaft und jeder Mensch für sich Normen festgelegt hat, desto einfacher ist es, einzuschreiten, wenn diese verletzt werden.
Ein aktuelles Beispiel ist dafür der Fall Luis Rubiales. Ein mächtiger Fußballfunktionär, der eine Spielerin ungefragt auf den Mund geküsst hat. Noch vor wenigen Jahren hätte niemand darüber berichtet. Doch dieser Fall ging durch die Decke. Fußballerinnen und Menschen aus der ganzen Welt solidarisierten sich mit der Betroffenen, Konsequenzen wurden laut eingefordert und durchgesetzt. Die Gesellschaft hat hier sehr klar entschieden: Das tolerieren wir nicht mehr.
Dieser Normshift, der mit der MeToo-Debatte begonnen und mit Rubiales vielleicht seinen Höhepunkt hatte, kann dafür sorgen, dass es in Zukunft weniger Fälle sexualisierter Gewalt geben wird. Weil Betroffene ernst genommen werden, Mitwissende Grenzen aufzeigen und Täter zur Verantwortung gezogen werden.
Der zu Beginn erwähnte Bystander-Effekt, der dafür sorgt, dass Menschen eher nicht einschreiten, wenn noch andere anwesend sind, hat übrigens auch noch eine zweite Seite: Der positive Bystander-Effekt. Urschler sagt: „Wenn ein Mitwisser aktiv wurde, steigen andere oft mit ein. Denn dann brechen die Mechanismen weg, weil jemand das Urteil über die Situation gefällt und ein Handeln eingeleitet hat. Die Bewertungsangst entfällt.“ Der positive Bystander-Effekt besagt also, dass bereits eine einzige Person den Effekt umkehren kann.
Mitwissende sind bei sexualisierter Gewalt die Beteiligten, die mit dem kleinsten Aufwand den größten Unterschied machen können. Was wie eine Bürde klingt, ist vielmehr: eine Chance.
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