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Erfolgreicher Revolutionär oder lethargischer Träumer: Joachim Löws letztes Turnier
194 Spiele, acht Turniere, ein Weltmeistertitel – doch die Fußballeuropameisterschaft könnte entscheidenden, wo Löws Platz in der Sportgeschichte liegt.
Stand:
Manchmal ist Fußball gar kein einfaches Spiel, sondern eine komplizierte und unübersichtliche Versuchsanordnung. So wie an diesem Vormittag Anfang Juni in Seefeld in Tirol, im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft vor der Europameisterschaft. Auf dem Rasen gibt es zu den üblichen Markierungen eines Fußballplatzes gelbe durchgehende und weiß gestrichelte Linien, rote und weiße Stangen, dazu Hütchen in Gelb und Rot, alles sorgsam verteilt, nach einem mutmaßlich exakt berechneten Plan.
Joachim Löw, der Bundestrainer, ist noch nicht zufrieden. Mit Ein-Meter-Schritten misst er Abstände nach. Er tauscht sich mit Marcus Sorg aus, seinem Assistenten, weist mit den Händen hierhin und dorthin. Als alles besprochen ist, gesellt er sich zu seinen Spielern. Und Marcus Sorg setzt die Stangen um.
Im Trainingslager unmittelbar vor einem großen Turnier gewährt Joachim Löw noch einmal einen Blick in den Maschinenraum. Die Fans stehen in Seefeld auf der anderen Seite der Straße hinter blickdichten Plastikplanen und versuchen, trotzdem irgendwas zu erkennen. Aber Journalisten dürfen den Nationalspielern gelegentlich bei ihrer Arbeit zuschauen. Wenn Joachim Löw großzügig ist, auch mal eine Stunde lang, in seltenen Fällen sogar vom Anfang einer Trainingseinheit bis zu deren Ende. In den zehn Tagen in Seefeld ist der Bundestrainer eher großzügig.
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Natürlich weiß Löw, 61, dass aus diesen Beobachtungen ein mediales Bild von ihm entsteht. Früher hat er, wenn die Kameras liefen, gerne den Ball auf seinen Füßen tänzeln lassen. Oder er ist über den Rasen getrippelt und hat den Ball in eines der kleinen Trainings-Tore gehämmert. Schau an, der Jogi. So gelöst, so entspannt. Das Bild hat Löw gefallen.
Eine Ära geht zu Ende
Seit knapp einer Woche, seitdem er mit seiner Mannschaft schließlich das EM-Quartier in Herzogenaurach in Mittelfranken bezogen hat, gibt es so gut wie keine Bilder mehr von Löw. Das Team logiert mitten in der Natur, weiträumig abgesperrt und nahezu vollständig abgeschottet, was auch, aber nicht nur, an Corona liegt. Für Löw geht es jetzt ums große Ganze. Gewissermaßen um das Vermächtnis, das er hinterlassen wird: nach 17 Jahren beim Deutschen Fußball-Bund, zwei davon als Assistent von Jürgen Klinsmann und 15 als alleinverantwortlicher Bundestrainer.
In Seefeld, mit den immer noch schneebeckten Bergen im Hintergrund, ist das Turnier noch weit weg. Die Sonne scheint, es ist schwül. Schon am Morgen kann man riechen, dass es am Nachmittag ein heftiges Gewitter geben wird. Aber Löw hat sich für die lange Hose und den langärmligen Pullover entschieden. Um den Hals trägt er eine Art Schal. Die Trillerpfeife baumelt vor seinem Solarplexus. Nach der Ansprache, zu der er seine Spieler im Kreis um sich versammelt hat, bläst Löw einmal kurz hinein: „Los geht’s“, sagt er.
An diesem Dienstag geht es wirklich los. Für die deutsche Mannschaft beginnt dann mit dem Gruppenspiel gegen Weltmeister Frankreich die Europameisterschaft – und für Löw die letzte Etappe seiner Amtszeit. Wenn alles gut läuft, bleiben ihm noch 27 Tage als Bundestrainer, bis zum EM-Finale am 11. Juli in London. Im ungünstigsten Fall aber kann in neun Tagen, nach dem Gruppenspiel gegen Ungarn, alles vorbei sein.

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So oder so: Für Joachim Löw ist es nur noch eine kurze Strecke im Vergleich zu dem, was hinter ihm liegt: acht Turniere, inklusive des Confed-Cups 2017, 194 Spiele, 123 Siege, 39 Unentschieden, 32 Niederlagen. Mit 139 Nationalspielern und 113 Debütanten, von Malik Fathi im August 2006 bis zu Jamal Musiala im März 2021.
Mit dem Wissen von heute ist es ganz witzig, was der neue Bundestrainer zu Beginn seiner Amtszeit alles gesagt hat. Und wonach er vornehmlich gefragt wurde: woher sein Faible für modische Kleidung komme, zum Beispiel. Oder, warum er nahezu ständig einen Schal trage. Färben Sie eigentlich Ihre Haare? Beim Nachlesen fällt auf, wie defensiv Löw mit diesen Themen umgegangen ist, von denen viele gedacht haben, dass sie ihm unendlich wichtig seien. Wie irritiert er manchmal war.
Im Jahr 2007, auf halber Strecke zwischen der Beförderung zum Chef und seinem ersten Turnier, hat Joachim Löw der deutschen Ausgabe der „Vanity Fair“ ein ausführliches Interview gegeben. Ob Bundestrainer der ultimative Traumjob für ihn sei, ist er damals gefragt worden. „Es macht wahnsinnig viel Spaß, aber man spürt natürlich den enormen Druck“, hat Löw geantwortet. „Auf ewige Zeiten möchte ich diesem Druck auch nicht unterliegen.“ Die Zeitschrift gibt es längst nicht mehr. Joachim Löw ist immer noch Bundestrainer.
Wer sich so lange in diesem Amt gehalten hat, der verdient Anerkennung, vielleicht sogar Bewunderung. Von einer Ära zu sprechen ist durchaus geboten, auch wenn das letzte Kapitel noch geschrieben werden muss. Die Europameisterschaft ist mehr als nur irgendein Kapitel in diesem Buch, das über die Jahre immer dicker geworden ist. Schlussvarianten hätte es einige gegeben. Den Abtritt auf dem Höhepunkt, nach dem WM-Titel 2014, genauso wie ein schmähliches Ende nach dem Debakel vier Jahre später. Löw hat einfach immer weitergemacht.
Die EM entscheidet für Löws Erbe
Ein Turnier noch. Das alles entscheidende. Letztlich ist es das Abschneiden bei der EM, das den Grundton für Löws Geschichte vorgeben wird, und – so unfair das auch sein mag – über seinen Platz in der deutschen Fußballgeschichte entscheidet.
Es geht darum, wie die Nachwelt ihn in Erinnerung behalten wird: als erfolgreichen Bundestrainer, der die Nationalmannschaft aus der Dunkelheit zurück an die internationale Spitze geführt hat und der – abgesehen von dieser einen missratenen WM 2018 – immer oben mitgespielt hat. Oder als jemanden, der – abgesehen von 2014 – stets vor dem Ziel gestrauchelt ist und aus überragenden Möglichkeiten zu wenig gemacht hat. Als die Fortsetzung von Jupp Derwall sozusagen, nur mit besser geschnittenen Anzügen.
Weltmeistertrainer wird er immer bleiben, und doch hat das Bild des Joachim Löw Kratzer bekommen. Vor allem natürlich durch die WM vor drei Jahren, als die Deutschen als Titelverteidiger nicht einmal die Vorrunde überstanden. Aber auch durch seine erratische Personalpolitik in den Jahren danach: Erst wollte Löw keinen Umbruch, dann doch und schließlich doch wieder nicht. Im November ist dann durch das 0 : 6 gegen Spanien zu den Kratzern noch eine fette Beule hinzugekommen.
Danach tauchte Löw erst einmal ab, so wie er das vor Weihnachten immer tut. In der Regel taucht er kurz vor Ostern wieder auf, wenn die nächsten Länderspiele anstehen. In diesem Jahr aber meldete sich Löw schon Anfang März zurück, um zu verkünden, dass er nach der EM als Bundestrainer aufhören werde.
Mitte voriger Woche, auf einer Dachterrasse in Berlins City-West. Der Wettanbieter Interwetten hat seine Werbefigur Lothar Matthäus, Deutschlands Rekordnationalspieler, für eine Presseveranstaltung eingeflogen. Matthäus trägt eine kunstvoll zerrissene schwarze Jeans und ein dunkles Sakko über dem weißen Hemd. Die Sonne brennt und kein Schatten ist in Sicht. Matthäus lässt sich wenig anmerken.
Matthäus und der ein Jahr ältere Löw gehören fußballerisch derselben Generation an. Im November 1979 sind sie unter Berti Vogts einmal zusammen für die deutsche U 21 aufgelaufen, in Tiflis gegen die UdSSR. Matthäus mag Löw, er schätzt seine Arbeit, nennt ihn „ein großes Geschenk für den deutschen Fußball“. Insofern ist es bemerkenswert, was er jetzt noch einmal über das 0 : 6-Debakel gegen Spanien sagt: „Er hat die Mannschaft in diesem Spiel meiner Meinung nach im Stich gelassen.“
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Löw hinterließ an jenem Abend in Sevilla einen bemitleidenswerten Eindruck, wirkte überfordert, wechselte an der Seitenlinie von Teilnahmslosigkeit zu Aktionismus, der sich in wirren Gesten äußerte. Und von Aktionismus zurück in Lethargie.
Es ist nicht ohne Ironie, dass es wohl die Spanier waren, die in Löw den Gedanken an einen vorzeitigen Abschied aus dem Amt ausgelöst haben. La Roja, Spaniens Nationalmannschaft, war für ihn lange der Maßstab: das unerreichbare Vorbild. Die Spanier spielten unwiderstehlich schön, gewannen von 2008 bis 2012 sämtliche internationalen Titel und besiegten auf dem Weg dahin zweimal auch Löws Mannschaft: 2008 im EM-Endspiel und zwei Jahre später im Halbfinale der WM, jeweils mit 1 : 0.
Mit seiner Schwärmerei für die technisch überlegenen Spanier hat sich Löw damals bewusst gegen die im Lande herrschende Fußballtradition gestellt. Er setzte die sogenannten deutschen Tugenden auf den Index, verbot dem Land der kantigen Vorstopper das Grätschen und stellte das Spiel über den Kampf. „Wir wollen unsere Spieler nicht motivieren – wir wollen sie inspirieren“, hat er damals gesagt.
In seinem Wirken für den schönen und guten Fußball war Löw von missionarischem Eifer beseelt. Während er zu taillierten Hemden und babyblauen Pullovern befragt wurde, wollte er lieber über die Ästhetik des Spiels reden und dem rückständigen Land den modernen Fußball erklären. Er ist „kein Mann für die Barrikaden, eher hintergründiger Stratege, Melancholiker, Fachmann, Pädagoge“. So hat ihn „Die Zeit“ im Jahr 2007 beschrieben.
Aus Löws Anfangszeit als Bundestrainer gibt es kein Spiel, das sein Wirken so auf den Punkt gebracht hat wie das WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden im Oktober 2012. Nie lagen Wahn und Witz so nah beieinander wie an jenem Herbstabend im Berliner Olympiastadion. Eine Stunde lang spielt die deutsche Mannschaft, wie es die Spanier nicht schöner hinbekommen hätten. Sie führte 4 : 0. Beim 1 : 4 durch Zlatan Ibrahimovic ahnt noch niemand das Unheil. Kurz darauf folgt das 2 : 4, eine Viertelstunde vor Schluss das 3 : 4 – und schließlich in der Nachspielzeit das 4 : 4.
Als das Spiel anfängt zu kippen, sitzt wenigstens der Bundestrainer sicher: auf einem Tisch, der neben seiner Trainerbank steht. Fast unbeteiligt wirkt er, als gehe ihn das alles nichts an, als könne er von außen sowieso nichts ändern. Die Bilder unterscheiden sich kaum von denen, die acht Jahre später auch beim 0 : 6 gegen Spanien zu sehen sind. Genauso wie die Vorwürfe, die gegen den Bundestrainer immer wieder in Stellung gebracht werden: dass ihm die Wettkampfhärte für die ganz großen Erfolge fehle, dass sein fußballerischer Ansatz womöglich zu akademisch sei – und dass in bestimmten Momenten eben auch mal die gute alte Grätsche ausgepackt werden müsse.
Findet Löw noch ein Mal die Mischung?
Im Grunde geht es darum, die alten deutschen Tugenden aus der Zeit von Berti Vogts mit den neuen der Ära Löw zu versöhnen, Kampf und Schönheit zu vereinen. Einmal ist Löw das beinahe perfekt gelungen. 2014 bei der WM in Brasilien, als der Bundestrainer nicht nur einen titeltauglichen Kader beisammenhatte, sondern der Mannschaft auch die Mentalität vorlebte, die für ein erfolgreiches Abschneiden nötig ist.
Schon in der Vorbereitung hat er damals von den Urgewalten gesprochen, auf die sich sein Team in Brasilien einstellen müsse. Löw, der Goldschmied für das feine Geschmeide, schraubte für die Abwehr eine massive Viererkette zusammen, die ausschließlich aus riesigen Innenverteidigern bestand. Und im Training ließ er Standardsituationen üben, was er bis dahin aus ideologischen Gründen stets abgelehnt hatte. Im Viertelfinale gegen die eigentlich besseren Franzosen siegten die Deutschen 1 : 0 durch ein Tor nach einem Freistoß. Beim 7 : 1 im Halbfinale gegen den Gastgeber war es ein Treffer nach einer Ecke, der den historischen Zusammenbruch der Brasilianer einleitete.

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Löw klingt jetzt wieder ein bisschen so wie damals: Er redet über Zweikämpfe, über Mentalität, über Siegeswillen – und Standards lässt er auch wieder intensiv trainieren. Brasilien ist der Maßstab. Oder die Benchmark, wie das jetzt bei „Die Mannschaft powered by Oliver Bierhoff“ heißt. „Wir müssen auch durch die Hölle gehen, leidensfähig sein, wenn wir was erreichen wollen“, hat Löw vor ein paar Tagen der ARD gesagt.
Nach Brasilien hat der Bundestrainer die Dinge laufen lassen, im Vertrauen auf die Qualität seiner Spieler. Letztlich aber wohl vor allem im Vertrauen auf sich selbst. Irgendwie entrückt wirkte er. Jetzt, kurz vor seiner finalen Mission, scheint sich der erschlaffte Löw noch einmal gestrafft zu haben. „Er ist wieder klarer in seinen Aussagen“, findet Lothar Matthäus.
Keine Sperenzchen im Training, die totale Fokussierung auf das große Ziel, mehr Klarheit in allem. Ilkay Gündogan wird von Löw jetzt korrekterweise Gündohan ausgesprochen. Bei Leroy Sané, den er immer Sahne genannt hat, beschränkt er sich auf den Vornamen, als wolle Löw mit aller Macht verhindern, etwas Falsches zu sagen. Und dass dem Bundestrainer – vermutlich wegen Corona – bei den Pressekonferenzen kein Espresso mehr serviert wird, bedeutet vor allem: Es gibt auch kein Gewese mehr um den Espresso für den Bundestrainer. „Veränderungen im Detail gibt es immer“, hat Löw zu Beginn der Vorbereitung gesagt. „Aber ich werde mich jetzt nicht in einen anderen Menschen oder Trainer wandeln.“
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Welchen Platz wird Joachim Löw in der Geschichte finden? Die meisten Bundestrainer vor ihm haben sich damit zufriedengegeben, mit der Nationalmannschaft die bestehenden Zustände im deutschen Fußball einfach nur abzubilden. Löw hatte den Anspruch, stilbildend zu wirken, den Fußball von oben zu revolutionieren. „Wir wollten eine Fußballkultur entwickeln, andere Spielertypen heranziehen, den Fußball zelebrieren“, hat er gerade der „Zeit“ erzählt. Vermutlich ist ihm das besser gelungen, als seine vielen Kritiker im Land zugeben wollen. In Löws besten Jahren hat die Nationalmannschaft vor allem im Ausland eine bis dahin ungekannte Wertschätzung erfahren.
So wie gerade wieder in Seefeld. Kaum hatten die Deutschen den Ort verlassen, bezog die österreichische Nationalmannschaft dort ihr Quartier für die Europameisterschaft. Sie logiert im selben Hotel, trainiert auf demselben Platz. Im Ort erzählt man sich, die Österreicher hätten gesagt: Wir wollen alles genauso haben wie die Deutschen.
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