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Schulkinder einer fünften Klasse des Kreisgymnasiums in Bad Krozingen

© dpa/Philipp von Ditfurth

Kinder und die Pandemie-Erfahrung: Von der Tugend des Innehaltens

Wir Erwachsenen hinterfragen derzeit vieles – nur Kinder sollen in der Schule funktionieren wie zuvor. Philosophieren statt Mathe aufholen. Ein Plädoyer.

Dr. Alia Mossallam ist eine ägyptische Historikerin, die als EUME Fellow der Alexander von Humboldt-Stiftung am Berliner Forum Transregionale Studien und am Lautarchiv der Humboldt Universität forscht. In Ägypten war sie in Bildungsprogrammen für Kinder engagiert. Übersetzung aus dem Englischen von Alix Winter. Eine englische Version des Textes ist auf dem TRAFO-Blog des Forums zu finden: https:trafo.hypotheses.org.

Am ersten Schultag nach dem Lockdown war meine Tochter in der zweiten Klasse außer sich vor Aufregung. Schon um vier Uhr morgens war sie angezogen und bereit aus dem Haus zu gehen. Wir mussten noch sechs Stunden hinter uns bringen.

Sie las ein weiteres Mal „Lotta-Leben“, zog sich noch zwei Mal um, änderte mehrmals ihre Frisur, wir gingen zum Frühstück nach draußen, machten eine Tour mit dem Fahrrad, bis sie endlich in die Schule gehen konnte.

Dort traf sie ihre buntgekleideten Mitschüler*innen, ihre genauso aufgeregten Lehrer*innen im Schulhof. Dort begannen sie den Tag mit einem Spiel. Jedes Kind konnte sich eine Kreide in seiner Lieblingsfarbe aussuchen, um damit einen Kreis von 1,5 Metern um sich herum zu malen – seine eigene Blase.

Dies war ihr neuer eigener Raum, ein empfindliches, aber schönes Gebilde, das sie bewahren und durch das sie miteinander kommunizieren sollten, ohne dass es zerplatzte.

Brücken bilden ist derzeit nicht erlaubt

Während sie ihre Blasen hübsch ausmalten, hatten meine Tochter und ihre Freundin neben ihr eine wundervolle Idee: Sie bauten eine Brücke zwischen ihren Blasen. Jedes der beiden Kinder malte eine Linie, die von einer zur anderen Blase reichte – bis ihre Lehrerin es bemerkte. Sie bat die Kinder, damit aufzuhören. Brücken zu bilden, konnten sie sich gerade gar nicht erlauben.

Ich konnte mir die Besorgnis der Lehrerin vorstellen: Die Kinder könnten sich berühren, während sie die Brücke malten, und so – in der ersten Stunde und unter ihrer Aufsicht – die wichtigste Voraussetzung für die Wiedereröffnung der Schule unterlaufen.

[Behalten Sie den Überblick über die Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.  ]

Aber ich konnte auch sehen, was meine Tochter machen wollte. Sie stellte genau die Fragen, die wir uns alle zu Beginn der Krise selbst gestellt hatten und die auch die Kanzlerin in ihrer unvergesslichen Rede vom 18. März ansprach: Wie können wir körperlich Abstand halten in Zeiten, in denen wir uns am meisten brauchen?

Welche Wege können wir finden, trotz des Kontaktverbots einander nah zu sein? Wie können wir weiterhin eine Gemeinschaft bilden?

Die Gelegenheit, meiner Tochter und den vielen Fragen, die in den Kinderköpfen schwirrten, Gehör zu verschaffen, ging in dem Bemühen unter, das fragile Gleichgewicht, das wir erreicht hatten, das noch instabile System, in dem wir uns befanden, zu erhalten. Es war keine Zeit für Fragen oder für eine Bestandsaufnahme der Situation. Es galt – mit aller Vorsicht – weiterzumachen.  

 Recht auf Bildung, Recht zum Nachdenken

Seit Beginn der Krise hieß die Vorgabe für die Kinder „weiterzukommen“ und „nicht zurückzubleiben“. Die Lehrer*innen bemühten sich auf verschiedene Weise, die Eltern und Kinder beim Homeschooling zu unterstützen. Der Berliner Senat kündigte Sommerschulen an, um Kinder auf den notwenigen Wissenstand zu bringen.

Doch dem Voranbringen und der Angst vor Rückständen liegt ein lineares Lernkonzept zugrunde, die Annahme eine Aneinanderreihung vieler vorab definierter Stationen. Wir arbeiten hart daran, den Punkt zu erreichen, an dem wir jetzt wären, wenn alles normal weitergegangen wäre.

Frühling in Berlin - Erlebnislernen der Umgebung war eine neue Erfahrung für manche Kinder.
Frühling in Berlin - Erlebnislernen der Umgebung war eine neue Erfahrung für manche Kinder.

© Christoph Soeder/ dpa

Das aber ist nicht möglich, denn wir sind nicht da, wo wir im März waren und wir werden niemals da ankommen, wo wir im Juli hätten sein können. Einfach weil wir – wohl oder übel – ganz woanders sind.

Und wo sind wir? Diese Frage sollten wir stellen. Wenn wir uns als Gemeinschaft begreifen, die erfolgreich eine Pandemie überlebt hat, dann ist uns in gewisser Hinsicht ein neues Leben geschenkt worden.

Was also sollten wir daraus machen? Wie können wir weitermachen auf eine Weise, die dem psychologischen Zustand und dem Gefühlsreichtum oder Stress, die wir erlebt haben, Rechnung trägt und Bedeutung gibt?

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Wir Erwachsene haben uns die notwenigen Fragen gestellt: Wir hinterfragen unsere Berufung, unsere Lebensentscheidungen, unseren Umgang mit der Umwelt und unsere Verhaltensweisen, um das Leben nach Corona zu planen.

Warum gestehen wir den Kindern – der eigentlichen post-Corona-Bevölkerung – nicht dieselben Überlegungen zu? Warum haben wir nicht die Schulcurricula infrage gestellt oder die Auswirkungen des Lockdowns auf unsere Kinder? Warum überdenken wir vor dem Hintergrund der Corona-Erfahrung und der Bedürfnisse der Kinder nicht die Lehrformen?

Was sollen Kinder von der Welt sehen?

Wie für viele andere Eltern während des Lockdowns war für uns die größte Herausforderung, unseren Kindern gleichzeitig gute Lehrer, Eltern und Freunde zu sein. Und natürlich unsere eigene Arbeit gänzlich zurückzustellen.

Nachdem ich zunächst sehr darunter litt, versuchte ich schließlich, mich nicht so sehr als Ersatz für die Lehrer*innen meiner Tochter zu sehen, sondern mich zu fragen, was ich meinen Kindern von der Welt zeigen konnte. Wenn das Ziel war, dass sie lernen und wachsen und nicht nur unter ungünstigen Umständen Aufgaben erledigen sollten, was könnte ich ihnen dann beibringen?

Wenn wir also nicht gerade damit kämpften, die Homeschooling-Aufgaben zu erfüllen, wurde der Lockdown zu einer Reise des Erlebnislernens. Meine Tochter in der zweiten Klasse ist das älteste von drei Kindern und ich bemühte mich, ihr Lernen in Themen zu kleiden, die auch meine jüngeren Kinder interessierten.

Es sollte nach der Corona-Pause nicht nur um den Stoff, sondern auch um die Erfahrungen der Kinder gehen.
Es sollte nach der Corona-Pause nicht nur um den Stoff, sondern auch um die Erfahrungen der Kinder gehen.

© Monika Skolimowska/ dpa

Der Lockdown fiel in die wundervollste Zeit des Jahres: Also erforschten wir für zwei Wochen den Frühling. Wir experimentierten mit Pflanzensamen, beobachteten täglich das Explodieren der Knospen in unserer Nachbarschaft, wir trockneten die ersten Blütenblätter, die zuvor von den ersten Bienen besucht worden waren und tauchten ein in das Erwachen des Lebens um uns herum.

In einer weiteren Woche widmeten wir uns den Vögeln. Wir sahen sie nacheinander auftauchen und versuchten, ihre verschiedenen Stimmen zu erkennen und uns ihre Namen auf Arabisch und Deutsch zu merken. Wir zeichneten, imitierten und lernten über sie.

In einer anderen Woche beschäftigten wir uns mit dem antiken Ägypten: Eine Woche voller Mythen und Geschichten von Göttern und Göttinnen und der Suche nach Gegenständen und dem Lernen von Hieroglyphen. Eine Woche, in der meine Kinder etwas darüber lernen konnten, wo sie herkamen.

Die Köpfe der Kinder waren voller Fragen: Wie viele Muskeln haben wir in unserem Mund? Warum sind alle Propheten Männer? Warum wollen Raupen zu Schmetterlingen werden? Können sie sich nicht einfach bleiben, was sie sind? Oder wollen sie wie ihre Eltern werden?

Das sind nicht nur Kinderfragen. Es sind wissenschaftliche, philosophische Fragen. Es war, als ob sie endlich die Gelegenheit hatten, all die Dinge zu lernen, die sie wissen wollten, und sich mit Muße der Welt um sie herum zu widmen.

Die Lernreisen der meisten Kinder wurden in dieser Zeit erweitert und umfassten eine größere Bandbreite an Wissensformen. Und sie wurden emotional bereichert durch die intensive Zeit mit ihrer Familie. Sie haben gelernt, wie ein Virus wirkt, wie Gesellschaften funktionieren und was kommunale Verantwortung heißt – und sie wurden mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert.

Sie haben auch mehr Zeit zuhause verbracht, als ihnen lieb war und wurden immer und immer wieder daran erinnert, im Park, im Wald oder auf dem Spielplatz keine Freundschaften zu schließen.

Unbändige Sehnsucht nach Kontakt und Spiel

Bei der Wiedereröffnung der Schulen dürsteten sie nach zweierlei: Sie hatten den großen Wunsch und Willen, mehr über diese neu erschlossene Welt zu erfahren, und sie hegten eine unbändige Sehnsucht nach Kontakt und Spiel.

Was sie erwartete, war das Gegenteil: Lehrpläne, die auf Mathematik und Schreibfähigkeit reduziert worden waren (für die Versetzung notwendige Kenntnisse), und die Erwartung an sie, sich mehr denn je gegenüber ihren Mitschüler*innen zurückzunehmen.

Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Erfahrungen der vergangenen Monate auszudrücken, werten wir diese ab. Anstatt ihnen klarzumachen, wie sehr sie gewachsen sind, beharren wir darauf, was sie nicht wissen, was sie vielleicht noch nicht gelernt haben.

Anstatt diese Gelegenheit zu nutzen, ihnen eine Welt nahezubringen, auf deren Gesellschaft, Politik, Umwelt und Wirtschaft sie neugierig geworden sind, erzählen wir ihnen, dass diese Fragen jetzt nicht wichtig seien. „Wir müssen vorankommen“, sagen wir, „im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit sind wir im Rückstand“.

Notgedrungen haben sich Kinder während des Lockdowns mit existentiellen Fragen auseinandersetzen müssen.
Notgedrungen haben sich Kinder während des Lockdowns mit existentiellen Fragen auseinandersetzen müssen.

© Ottmar Winter PNN

Obwohl ich die Zeit für meine Tochter als bereichernd erlebt habe, sah ich sie nun bei ihrer Rückkehr in die Schule leiden. Sie fühlte sich unvorbereitet für die Aufgaben, die ihr gestellt wurden. Und die Unterschiede zwischen den Kindern (besonders in mathematischen Fächern) waren zu groß, als dass die Lehrer*innen sie an den kurzen Schultagen ausgleichen konnten.

An den Tagen, an denen es mir gelang, meine Tochter in die Schule zu schicken, belasteten sie die Aufgaben und die sozialen Einschränkungen stark und ich hatte das Gefühl, als Mutter zu versagen. Wenn ich ihr manchmal die Hausaufgaben ersparte, um die Belastung zu reduzieren, hatte ich das Gefühl, sie nicht genügend in der Schule zu unterstützen.

Schematische Bewertung hebt immer Abweichungen hervor, nicht Gemeinsamkeiten

Wenn das Schulsystem so bleibt, wie es ist, wird es auch weiterhin jedes Kind individuell in seiner Blase abhängig davon bewerten, wie weit es gekommen ist und welche Ressourcen und Fähigkeiten ihm zuhause zur Verfügung stehen. Räume zu schaffen, in denen Lernen über „Unterricht“ hinausgeht, heißt Bedingungen zu schaffen, in denen Kinder sich mit der Welt und miteinander beschäftigen können – mit ihren Körpern, ihrem Geist, ihrer Seele und all ihren Sinnen.

Dies könnte sich in thematischem Lernen, mehr Zeit in der Natur, wissenschaftlichem Experimentieren, Philosophie, mehr Kunst und Bewegung ausdrücken. In dieser Art des Austauschs spielen die  Neugier, die Interessen und die Selbstentfaltung, die in jedem Kind stecken, eine Rolle.

Dagegen werden die „Leistungsskalen“ eines jeden Kindes aufgrund verschiedener Einflüsse beeinträchtigt. Schematische Bewertungsskalen werden immer Abweichungen, nicht Gemeinsamkeiten, hervorheben. Neugier und Lust am Lernen dagegen vereint alle Kinder und durch die Unterrichtspause sind diese sicher verstärkt worden.

Es gibt mehr in der Welt (mehr Wissen) als Lehr- und Arbeitsbücher. Die Kinder wissen das jetzt. Aber wissen wir es? Nur indem wir Räume für Selbstentfaltung und selbstgewählte Beschäftigung schaffen, können wir erfassen, wie weit sie gekommen sind, und sie auf ihrem Weg vorwärts unterstützen. 

Die Tugend des Innehaltens

So weiterzumachen wie bisher, heißt ein Experiment fortzusetzen, das danach fragt, ob „Kinder trotz Stress (oder möglicherwiese Trauma) weiterhin lernen und wachsen“ können. Das Ergebnis dieses Experiments kennen wir wohl schon.

Dagegen ermöglicht uns ein Innehalten und Nachdenken möglicherweise die radikale Veränderung unseres Handelns als Gemeinschaft von Lehrer*innen, Pädagog*innen und Eltern, die dem Wissensdurst  ihrer Kinder vertrauen und um ihre ganzheitliche Entwicklung bemüht sind.

Dafür bedarf es keiner zusätzlichen Kosten, lediglich mehr Raum und Zeit zum Nachdenken und Mitteilen. Das Ergebnis könnten Musik und Kunst sein, die auf die Erfahrungen der letzten Zeit eingehen, das Aufnehmen der beobachtungsbasierten Wissbegierde oder ein Umweltbewusstsein, das auf Erfahrung und Wertschätzung fußt und nicht auf den Sorgen vor möglichen Zukunftskatastrophen. 

Einzig das Wagnis, einmal innezuhalten, wird es ermöglichen, Brücken zu bauen zwischen dem Heute und einer sichereren Zukunft mit vielfältigen Möglichkeiten. A

Auf diese Weise bringen wir unseren Kindern auch bei, dass es Momente im Leben gibt, an denen man in Ehrfurcht innehalten sollte und in denen es sich lohnt, einen Augenblick Luft zu holen und alles zu überdenken, sich zu vergegenwärtigen, wie viel weiter die Welt außerhalb unserer Blase ist.

Alia Mossalam

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