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Das Internet-Video mit dem Schützen vor der McDonald's-Filiale wurde von N24 in Dauerschleife gesendet, teilweise als Splitscreen.

© Tsp

Der Amoklauf von München im TV: Für alle Fälle live dabei – aber womit?

Live-Recherche statt Nachrichten: Wie Thomas Roth, Claus Kleber und Peter Kloeppel einen News-Marathon ohne sicheres Wissen bestreiten.

Berlin - Im deutschen Fernsehen hat am Freitag im Abendprogramm nur ein Thema interessiert: Der Anschlag im Olympia-Einkaufszentrum. Unter den zehn Sendungen mit den meisten Zuschauern waren acht, die über die Ereignisse in der bayerischen Landeshauptstadt berichteten. Die ARD hat an diesem Abend nahezu das komplette Programm über Bord geworfen, um über das Geschehen in München zu informieren. Die auf 75 Minuten ausgeweitete „tagesschau“-Sendung mit Jens Riewa war mit 5,1 Millionen Zuschauern die mit Abstand am meisten gesehene Sendung des Tages. Inklusive aller Dritten und sonstigen Programme wie 3sat oder Phoenix waren es sogar 8,7 Millionen Zuschauer.

Im ZDF lief zwischendurch zwar noch ein „Fall für zwei“, aber von einem normalen Freitag war das Zweite ebenfalls weit entfernt. Nach der regulären „heute“-Sendung wurden gleich mehrere „heute-journal spezial“ ins Programm genommen. Die Ausgabe um kurz vor 22 Uhr war mit knapp vier Millionen Zuschauern die am zweithäufigsten gesehene Sendung am gesamten Freitag. Auch „RTL aktuell“ blieb deutlich länger als gewöhnlich auf Sendung und erreichte damit gut drei Millionen Menschen.

Die großen Sender ARD, ZDF und RTL hatten ihre erfahrensten Moderatoren in den Studios. Thomas Roth moderierte die „tagesthemen“ bis 0.27 Uhr – im Stehen, denn beim Umbau der Studios von ARD-aktuell sind die Sitzgelegenheiten weggefallen. Vor allem in der letzten Stunde suchte Roths Hand häufig eine Unterstützung am Moderationstisch. Inhaltliche Unterstützung bot ihm Georg Mascolo. Der frühere „Spiegel“-Chefredakteur ist jetzt Terrorismusexperte der ARD. Warum immer wieder München, ob bei den Olympischen Spielen von 1972, beim Rohrbombenanschlag in den 1980er Jahren auf das Oktoberfest oder nun dieser blutige Freitag? Das war eine der Fragen, über die Roth mit ihm sprach. Im Zweiten ließ sich Claus Kleber vom ZDF-Terrorismusexperten Elmar Theveßen unter anderem Fragen zum polizeilichen Vorgehen erklären.

Doch selbst die sachkundige Hilfe der Experten konnte vor allem in der Zeit nach 23 Uhr nicht darüber hinweghelfen, dass es mit Ausnahme einer weiteren improvisierten Pressekonferenz der Münchener Polizei so gut wie keine aktuellen Neuigkeiten mehr aus der bayerischen Landeshauptstadt gab. Selbst die Live- Schalten von „ARD-aktuell“ zu Außenreporter Eckhart Querner vom Bayerischen Rundfunk konnten nur noch zeigen, dass der Verkehr auf den Münchener Straßen wieder in Gang gekommen war. An die Stelle der üblichen Nachrichtensendungen war an diesem Abend die Live-Recherche getreten. Wo sonst gut recherchierte News präsentiert werden, waren die Zuschauer live dabei, wie sich Moderatoren und Reporter ein Bild von der unklaren Lage zu machen versuchten.

Bei den Privaten taugte neben n-tv und N24 nur RTL als Informationsquelle

Von den großen Privatsendern, die ihr Geschäft anders als n-tv oder N24 nicht mit Nachrichten machen, taugte am Freitag nur RTL als Informationsquelle – der Sender löste das mit Bravour. Peter Kloeppel, der bereits die Ereignisse am 11. September 2001 in den USA eingeordnet hatte, behielt trotz angespannter Nachrichtenlage die Ruhe und versuchte geduldig, seinen Reportern die relevanten Informationen zu entlocken.

Im „heute-journal spezial“ des ZDF hielt Claus Kleber die Fäden zusammen, so weit dies an diesem Abend überhaupt möglich war. Die ARD hatte anfangs mit Tonstörungen zu kämpfen, beim ZDF brachen mehrfach die Mobiltelefon-Verbindungen nach München ab.

Einzeltäter oder mehrere Täter? Amoklauf oder Terrorakt? Rechtsradikale Motive oder eine Aktion des „Islamischen Staates“? Keine dieser Fragen ließ sich an diesem Abend klären, erst um 1.30 Uhr in der Nacht lichtete sich der Nebel. Als Thomas Roth die „tagesthemen“ um weit nach Mitternacht beendete, stand nur fest, dass die Angst vor solchen Anschlägen nun auch in Deutschland zum Alltag gehören wird.

Beim Umgang mit Material aus dem Internet preschte N24 mit einem Video voran, das einen Mann vor einer McDonald’s-Filiale zeigte, der ohne Vorwarnung auf arglose Passanten zielte und mehrfach seine Pistole abfeuerte. Man sieht, wie Menschen erschreckt die Flucht ergreifen. N24 fror das Bild zwar danach ein, doch die Schüsse und die Schreie der Passanten waren weiterhin zu hören.

Das Video, das später auch andere Sender übernahmen, wurde danach in einer einer Art Dauerschleife gezeigt, mal als Vollbild, mal zusammen mit anderen aktuellen Einspielern. N24 nutzte neben der TV-Übertragung zudem Facebook Live zum Streamen des Programms. Ab 19 Uhr war der N24-Livestream nach Angaben des Senders sogar der meistgesehene Stream weltweit mit bis zu 50 000 gleichzeitigen Nutzern. Insgesamt verfolgten mehr als zehn Millionen Zuschauer die Ereignisse über diesen Facebook-Kanal. Der zu Springers „Welt“- Gruppe gehörende Sender war am Freitag bereits um knapp nach 18.30 Uhr als erster bei Facebook Live auf Sendung. Konkurrent n-tv nutzt diese Form des Live-Streaming nicht, genauso wenig wie das ZDF. In der ARD startete der Facebook-Live-Stream der „tagesschau“ um kurz nach 20 Uhr.

Doch auch Bilder ohne Schüsse können schockieren, das galt insbesondere für die Aufnahmen von abgedeckten Leichen, vor sich noch die Handtasche. Diese Bilder stammten nicht aus dem Internet, sie wurden von den Kameras der TV-Sender eingefangen und verbreitet.

Der gute Gesamteindruck, den die elektronischen Medien dennoch direkt nach dem Anschlag gemacht hatten, wurde am nächsten Morgen zumindest streckenweise revidiert. Die Nachrichtensender n-tv und N24 waren zwar bereits wieder mit Berichten aus München auf Sendung und informierten über den neuesten Stand, nach dem ein einzelner Täter für die Toten von München verantwortlich ist. Anders im öffentlich-rechtlichen Programm: Bei ARD und ZDF laufen am Samstagmorgen traditionell Kinderprogramme, dort wären solche Nachrichten sicherlich unangebracht. Aber auch auf Phoenix und ZDFinfo gab es anders als bei der BBC kein Update per Laufband.

Vor einer Woche, nach dem Attentat von Nizza und dem Putschversuch in der Türkei, wurde von vielen Seiten ein ständiger öffentlich-rechtlicher Nachrichtensender gefordert. ARD und ZDF haben in München gezeigt, dass dies keine Frage eines neuen Kanals ist. München hat aber auch demonstriert, welche Grenzen der Live-Berichterstattung es gibt. Wenn gesicherte Erkenntnisse fehlen und es nichts Neues zu berichten gibt, haben selbst Profis wie Roth, Kleber und Kloeppel keine Chance.

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