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© Picture Alliance/dpa

Italien: Die Fassaden von L’Aquila

Vor acht Monaten bebte hier die Erde. Und Italiens Regierungschef versprach: Bis zum Winter sollte jeder wieder "ein festes Dach über dem Kop" haben. Tatsächlich sind nun alle Zeltstädte weg – und Immobilienspekulanten da.

Der Feuerwehrmann ist hörbar fremd hier. Er gehört zu den Notfalltrupps, die sich im Erdbebengebiet seit acht Monaten abwechseln, und sein Venezianisch klingt viel zu weich für diese raue Berggegend.

„Und Sie bitte, was möchten Sie?“

„Ich habe eine Wohnung in der Altstadt und möchte mir ein paar Sachen holen.“

„Aber alleine dürfen Sie nicht rein, wegen der Einsturzgefahr. Und ich hab gerade keine Begleitmannschaft da.“

„Bitte. Ganz kurz nur.“

„Wie lange brauchen Sie?“

„Zehn Minuten.“

„Das sagen alle.“

„Ich versprech’s Ihnen. Und wenn ich länger brauche, dann sollen Ihre Männer pfeifen. Dann komme ich sofort raus.“

Manuele Morgese ist genervt. Zuerst haben ihn Soldaten an einem der Tore aufgehalten, die im Mittelalter die Stadtgrenze, heute die „Rote Zone“ von L’Aquila markieren; dann ist er eine Viertelstunde herumgekurvt, um jenen Feuerwehrwagen zu finden, in dem es die Passierscheine gibt: „Sie verlegen diese Posten andauernd; immer ist man hier auf der Jagd nach irgendwelchen Dokumenten. Man hat schon gar keine Lust mehr, in seine eigene Wohnung zu gehen; zwei Monate war ich schon nicht mehr dort.“

Doch jetzt steigt Morgese die enge Fortebraccio-Gasse hoch, die älteste Straße L’Aquilas. „Wie hab ich sie geliebt!“, sagt er; jetzt liegt sie voller Schutt und Trümmer. Hier hat Morgese gewohnt, in einem fast 500 Jahre alten Gebäude, bis zu jenem Morgen des 6. April, als die Erde hier wütete – in den Abruzzen, Mittelitalien, es gab 294 Tote – und in 38 Sekunden das Menschenwerk von Jahrhunderten einstürzen ließ.

Wobei: „Einstürzen“ ist zu viel gesagt, und zu wenig auch wieder. 70, 80 Prozent der gotischen, der Renaissance- und Barockfassaden im Zentrum L’Aquilas stehen ja noch; wären da nicht die Schutthaufen, die schweren Stützbalken und diese ganz unstädtische Stille in den Gassen, jeder Besucher würde sich fragen: War da was?

Doch hinter den seltsam standhaften Fassaden im Stadtinnern, wo bis zum 6. April an die 30 000 Leute gelebt haben und wo in den nächsten zehn Jahren, mindestens, kaum einer mehr leben wird … Morgese kann von Glück sagen, dass es sein Haus noch gibt. Vollgepflanzt sind Treppenhäuser, Flure, Innenhof inzwischen mit einem Wald aus Stahlstützen, irgendwie gelingt es Morgese und den Feuerwehrleuten, da durchzuschlüpfen, und als der 34-Jährige seine Wohnung aufschließt, sieht alles aus wie an jenem Morgen danach. Genauso. Nur dass in den acht unbewachten Monaten seither auch noch die Einbrecher da waren.

Der Boden ist übersät mit Büchern, Glasscherben, Videokassetten, Haushaltsgegenständen, mit Putz von der Wand und Steinstaub von allen Seiten. Bilder sind von der Wand gefallen, eine Rotweinflasche beim Torkeln durchs Zimmer zerbrochen; längst ist die Lache zu einem schmutzig braunen Fleck getrocknet.

„Als ich das erste Mal hier drin war, hab ich gezittert“, sagt Morgese – aber sehr fest hört sich seine bühnenstarke Stimme auch jetzt nicht an. „Ich hab damals vor Aufregung gar nicht gewusst, was ich brauche, was ich mitnehmen soll“, sagt er – und verteilt Müllsäcke an die Feuerwehrleute: „Machen Sie sie voll mit Büchern, egal welchen.“ Dann nimmt Morgese wahllos einige Lithografien von der Wand – „die hat mein Vater gemacht“ –, verrammelt die Kommode mit einem Sofa – „gegen die nächsten Einbrecher“ – und schon sind die zehn Minuten vorbei.

Die zahlreichen Schwarzweißfotos lässt Morgese an der Wand. Die braucht er nicht, das sind keine Andenken, sie zeigen sein Leben, das geht weiter, das führt in die Zukunft. Auf den Bildern ist Morgese selbst zu sehen, als Schauspieler auf der Bühne, als Regisseur, als Chef des „Teatro Zeta“. Dieses Experimental- und Studiotheater hat er vor zehn Jahren „aus dem Nichts“ geschaffen.

Heute gehört es zu den „teatri possibili“, einem landesweiten Verbund kreativer, junger Bühnen. Und während das kulturelle Leben in L’Aquila seit dem Beben darniederliegt – das imposante Kommunaltheater etwa, nach Morgeses Geschmack allzu behörden- und beamtenbräsig geführt, erwacht erst allmählich aus der Schockstarre –, produziert das „Teatro Zeta“ weiter. „Mauer gegen Mauer“ beispielsweise heißt das brecht-getönte Stück, das Morgese eigenhändig zum Gedenktag des Berliner Mauerfalls geschrieben hat. Jenes Bauwerk, sagt er, ist nicht mehr. Aber diverse Mauern in unseren Köpfen …

Morgese kurvt aus der Altstadt hinaus, den Berg hoch. Auf dem Weg zu seinem Theater kommt er an der Collemaggio-Basilika vorbei, der bedeutendsten von 99 historischen Kirchen in L’Aquila. So gut wie alle sind zerstört oder unbrauchbar, viele Kunstwerke wurden nur mit Mühe aus dem Schutt gezogen. Und auch die einst kuppelgekrönte Collemaggio, wo der heilige Abruzzen-Papst Coelestin V. sich 1294 krönen ließ, liegt in Trümmern. Das heißt: Viele Trümmer liegen inzwischen draußen, fein säuberlich aufgereiht, nummeriert, Teile jenes gewaltigen Puzzles, aus dem die Basilika in den nächsten Jahren wieder zusammengebaut werden soll.

Aber nicht nur diesen Aufbruch will Morgese zeigen, sondern auch das zerwühlte Kiesfeld vor der Kirche. „Siehst du was?“ Nein, warum? „Eben.“

Bis vor ein paar Tagen war der Platz ein einziger blauer Fleck, eine der 160 Zeltstädte des italienischen Zivilschutzes, in denen nach dem 6. April mehr als 30 000 von gut 60 000 obdachlos Gewordenen Zuflucht gefunden hatten. Bis zum Winter, hatte Regierungschef Silvio Berlusconi versprochen, sollte jeder „ein festes Dach über dem Kopf“ haben. Der Winter kommt früh im Bergland der Abruzzen, und tatsächlich: Alle Zeltstädte sind abgebaut.

Es hat Tränen gegeben und Proteste beim Abschied; wild zusammengewürfelte Notgenossen waren in den acht Monaten Freunde geworden. Und nun sahen sie ihre sozialen Zusammenhänge schon wieder zerrissen: 1250 von ihnen – neu durcheinandergewürfelt – bezogen Quartier in jener Kaserne, in der Berlusconi im Juli auch den G -8-Gipfel veranstaltete, an die 6000 haben Platz gefunden in „provisorischen“ Holzhaussiedlungen oder in den 20 eilends errichteten, ebenso perfekten wie sterilen Neubauvierteln um die Stadt herum. 19 000 Menschen wurden wieder einmal weiterverschickt, die meisten in Hotels an der Adriaküste oder in den Wintersportkolonien der Abruzzen, weitab von Verwandten, vom Arbeits- oder vom Studienplatz. In der Tat: Alle haben ein Dach über dem Kopf. „Zu Hause“ aber sind die allerwenigsten.

Und Manuele Morgese fühlt sich gemobbt. Als er vor fünf Jahren auf dem abgelegenen „Seifenhügel“ einen industriellen Wellblechbau mietete und ihn in Eigenarbeit zum „Teatro Zeta“ umbaute, da wunderten sich die Leute nur, aber keiner wollte was von ihm. Jetzt aber, sagt Morgese, nach dem Beben und der ersten Schock- und Solidaritätswelle, sind in L’Aquila „die Masken gefallen“. Es treten auf: die Spekulanten. Morgeses Grundeigentümer beispielsweise baut das Haus neben dem Theater zu einem Appartementkomplex aus, weil Wohnungen nach dem Beben rar und die Mietpreise weit in die Höhe geschossen sind.

Der Mann baut schwarz, sagt Morgese – und überall stellt man in L’Aquila fest, dass Handwerker für reguläre Instandsetzungen fehlen, für Schwarzbauten aber reichlich zur Verfügung stehen. Jedenfalls soll das bebenverschonte „Teatro Zeta“ ausziehen, und damit die Botschaft auch ankommt, hat der Grundeigentümer die Fläche vor dem Theater durch Bauzäune bereits so eingeengt, dass Morgese sein Auto kaum mehr wenden kann.

Und überhaupt: Wovon er gelebt hat die letzten Monate, weiß Morgese auch nicht so recht. Von den Tourneen höchstens. Das Theater jedenfalls hat wie alle kulturellen Vereinigungen nichts bekommen, nicht einmal die Ausfallzahlungen von 400 Euro monatlich, wie sie der Staat an kommerzielle Geschäfte verteilt hat. Die 5000 Euro, die ihm die Deutsche Schule in Rom gespendet hat, „waren der größte Batzen Geld, den ich bisher gesehen habe“. Aber die Aufführung seines Mauer-Stücks auf der Schulbühne musste Morgese selbst finanzieren; und schon war wieder ein Teil der Spende weg.

Dabei lag in L’Aquila nicht alles am Erdbeben. Der Wirtschaftslage wegen hatten Staat und Stadt schon zuvor viele Zuschüsse gestrichen: „Genau betrachtet, waren in L’Aquila schon vor dem 6. April viele Kultureinrichtungen zusammengebrochen.“ Und das, sagt Morgese, in einer jungen, quirligen Stadt, wo von 73 000 Einwohnern 27 000 Studenten waren.

Die Studenten immerhin sind wieder da. Jedenfalls haben sich zur Verblüffung der Universität knapp 17 000 zum Wintersemester eingeschrieben – „weil dieses Jahr die Studiengebühren erlassen worden sind“, unkt Morgese. Dafür gibt es keine Musiklokale, kaum Bars, keine Kinos. Die meisten Hörsäle sind „provisorische“ Industriebauten. Mit der Mensa hapert es. Und mit Wohnungen? Die meisten Studenten leben gar nicht in L’Aquila, sondern fahren jeden Tag hin und her.

Auf einmal hat es Morgese eilig. Es geht auf 15 Uhr zu, da soll im Theater die Probe für den „Fall Dorian Gray“ beginnen, ein Stück auf den Spuren von Oscar Wilde, mit dem Morgeses Kompanie auch auf Italientournee gehen wird. Aber zuvor setzt er sich noch einmal ins Auto. Morgese will unbedingt zeigen, wie und wo sein Leben in den Abruzzen weitergeht: auf einem Industrie- und Wiesengelände vor der Stadt.

Schon vor dem Beben hat Morgese dort die Ausschreibung gewonnen für einen „Park der Künste“. Das Projekt ist natürlich der Katastrophe zum Opfer gefallen. „Aber dann hab ich mich vor das Kulturministerium gestellt und gesagt, ihr könnt doch nicht der Kultur das Geld wegnehmen und damit die Stadt von ihrer Zukunft abschneiden. Ich hab denen angekündigt, ich bau mein Theater, egal ob mit euch oder ohne euch. Dann haben sie die 400 000 Euro Zuschuss wieder freigegeben. Später hat mich einer vom Ministerium beiseitegenommen und gesagt: Wir wollten ja wirklich nicht zahlen. Aber die Entschlossenheit, mit der Sie hier aufgetreten sind …“

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