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Trügerische Idylle. In solch verträumten Buchten an der türkischen Küste starten Boote mit Flüchtlingen, die auf hoher See von Frachtern übernommen werden – mit ungewissem Schicksal.

© Thomas Seibert

Syrische Flüchtlinge auf illegalem Weg nach Europa: Die „Geisterschiffe“ von Mersin

Bei Nacht und Nebel bringen Menschenhändler syrische Flüchtlinge an der idyllischen türkischen Küste aufs Meer, wo sie von großen Frachtern aufgenommen - und dann ihrem Schicksal überlassen werden. Viele erreichen das europäische Festland nicht.

Hassan schüttelt den Kopf. Eine Reise nach Europa kommt für ihn nicht infrage. „Wo soll ich denn das Geld hernehmen?“ Hassan, ein junger Mann mit dunklem Teint und pechschwarzem Krausbart, floh vor zwei Jahren aus dem syrischen Aleppo in die Türkei und fand Arbeit als Aushilfe in einem Hotel in Kizkalesi, einem Touristenort eine Autostunde westlich der Hafenstadt Mersin. In Kizkalesi leben viele Flüchtlinge aus Syrien. Erst vor zehn Tagen stiegen mehr als hundert von ihnen in einer Bucht in der Nähe von Kizkalesi in ein Fischerboot und fuhren aufs Meer hinaus – mit dem Ziel Italien. Hassan ist nicht mitgefahren. Weil ihm das Geld fehlt – und weil er die weite Reise nach Westen fürchtet. Mehrere Bekannte von ihm wagten vor einiger Zeit die Fahrt. Pro Kopf 5000 Dollar zahlten sie an die Schleuser. Doch ihr Schiff kenterte und alle ertranken.

Auch für die Flüchtlingsgruppe, die neulich bei Kizkalesi ins Boot stieg, wurde nichts aus dem Traum Europa, wenn sie auch mit dem Leben davonkamen. Das Fischerboot brachte 140 Syrer, darunter viele Kinder, aufs Meer hinaus, wo sie auf den Frachter „Burcin“ umsteigen und nach Italien weiterfahren wollten. Das gefährliche Rendezvous auf hoher See scheiterte: Mit Luftunterstützung und einer bewaffneten Eliteeinheit fing die türkische Küstenwache die „Burcin“ ab, auf der sich bereits 333 andere Flüchtlinge befanden. Die Syrer auf dem Fischerboot kamen nicht mehr dazu, auf die „Burcin“ umzusteigen. Ihr Boot wurde von der Küstenwache ans Ufer geleitet, wo alle Insassen festgenommen wurden.

Mersin mit seinem großen Seehafen wird mehr und mehr zu einem Zentrum des Menschenhandels zwischen Krisenregionen wie Syrien und den wohlhabenden Ländern Westeuropas. Die syrische Grenze ist nur 160 Kilometer von Mersin entfernt, und bis vor wenigen Monaten gab es sogar eine Fährverbindung zwischen Mersin und dem syrischen Latakia. Im vergangenen Jahr griffen Polizei und Küstenwache in der Stadt fast 1800 Flüchtlinge auf, die sich nach Europa einschiffen wollten.

Im Mersin kaufen die Schleuserbanden alte Frachter für einige hunderttausend Dollar auf und verlangen von den Flüchtlingen bis zu 8000 Dollar pro Kopf für die Reise nach Westen – bei 300 oder mehr Menschen an Bord ergibt das Millionengewinne. Irgendwann im Verlauf der Reise schaltet die Crew den Autopiloten des Schiffes ein und überlässt die Flüchtlinge ihrem Schicksal – und setzt darauf, dass die Menschen auf dem „Geisterschiff“ von der Besatzung anderer Schiffe oder von der Küstenwache eines europäischen Staates gerettet werden.

Frontex-Experte: Die Mittelmeerküsten sind in einer schweren Krise

Die große Nachfrage mache die Frachtschiff-Methode beim Menschenhandel profitabel, sagt Antonio Saccone, Experte bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Der hohe Aufwand – Aufkauf von Frachtern, Transporte zu den Schiffen in kleineren Booten – zeige, wie mächtig die Menschenhändler inzwischen seien. „Zweifellos befinden sich die Mittelmeerküsten in einer schweren Krise.“

Glasklares Wasser, ein paar Fischerboote, ein Steg am Strand – wie Szenen aus einem Urlaubskatalog wirken die Buchten, von denen aus die Syrer nachts gruppenweise in Fischerbooten zu den Frachtern aufs Meer gebracht werden. Die Küstenwache tue, was sie könne, sagen die türkischen Behörden. In Mersin erzählen sich die Leute allerdings von Gerüchten, wonach die Menschenschmuggler die Behörden schmieren, um beim Transport der Flüchtlinge größtenteils in Ruhe gelassen zu werden.

Kunden haben die Menschenhändler genug, denn syrische Bürgerkriegsopfer voller Hoffnung auf ein besseres Leben gibt es viele in Mersin. „Ich bin erst heute morgen aus Damaskus gekommen“, sagt ein junger Mann, der zusammen mit zwei Bekannten die Hafengegend der Stadt erkundet. Er hat bereits Schleuser bezahlt, die ihn aus der syrischen Hauptstadt und über die türkische Grenze brachten. Jetzt träumt er von der Weiterreise nach Europa. „Ich will einfach nur leben.“

Das Gefühl, mit heiler Haut gerade noch einmal dem Inferno entkommen zu sein, teilt der junge Mann aus Damaskus mit vielen Syrern, die aus der Heimat flohen. Musa al-Itir, 32 und Computerspezialist, entschloss sich im vergangenen Jahr mit seiner damals schwangeren Frau zur Flucht. Zunächst hoffte das Paar auf Schutz innerhalb Syriens, suchte sich als Zufluchtsort aber ausgerechnet die Stadt Rakka aus, die kurz nach der Ankunft der Eheleute von der Dschihadisten-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) überrannt und zu einer Hochburg des vom IS ausgerufenen Kalifats in Syrien und Irak wurde. „Als die IS-Leute kamen, wurde das Leben wirklich hart“, sagt Itir. Zum Druck durch die Islamisten kamen Angriffe der syrischen Luftwaffe auf die Stellungen der Dschihadisten in der Stadt. Mitten im Bürgerkriegschaos brachte Itirs Frau einen Sohn zur Welt – drei Tage nach der Geburt floh die junge Familie in die Türkei.

80 000 Syrer haben in Mersin Zuflucht gesucht

In Mersin sind viele solcher Geschichten zu hören. Rund 80 000 Syrer haben in der Stadt Zuflucht gefunden, das sind etwa zehn Prozent der Stadtbevölkerung. Einige wenige sind reich und kurven in Luxusautos durch die Stadt, doch die meisten sind arm und haben kein Dach über dem Kopf. Insgesamt hat die Türkei inzwischen fast zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland aufgenommen. Die Regierung in Ankara verfolgt eine „Politik der offenen Tür“, die jedem Neuankömmling garantiert, dass er nicht gegen seinen Willen zurückgeschickt wird.

Resat Asan, Vorsitzender der Mittelmeer-Abteilung der Flüchtlingshilfsorganisation Göc-Der in Mersin, kümmert sich um die Neuankömmlinge, besonders um Flüchtlinge aus dem kurdischen Teil Syriens, wie etwa der umkämpften Stadt Kobane. Die Hilfsbereitschaft ist groß. Viele kurdische Bewohner von Mersin sind selbst Vertriebene, die in den 1990er Jahren vor dem Krieg zwischen der Armee und den kurdischen PKK-Rebellen in Ostanatolien an die Südküste flohen.

Viele Einwohner sagen: Die sind so ganz anders als wir

Nicht allen Einwohnern der Stadt sind die Gäste aus dem benachbarten Bürgerkriegsland so willkommen. Ein Geschäftsmann spricht nur hinter vorgehaltener Hand über die Stimmung bei vielen Türken: „Natürlich mussten wir denen irgendwie helfen“, sagt er über die Syrer. „Aber die sind so ganz anders als wir. Auch wir sind Moslems, aber wir laufen nicht mit langen Bärten rum und enthaupten die Leute.“ Der 28-jährige Bilal Salman etwa macht die Syrer dafür verantwortlich, dass er keinen Job bekommt. „Dass die Frauen und Kinder hier sind, kann ich ja noch verstehen“, sagt er. „Aber die Männer? Die sollen daheim bleiben und kämpfen.“

Trotz aller Probleme werden sich die Türken in Mersin mit den Syrern arrangieren müssen – die allermeisten wollen in der Türkei ausharren, bis der Krieg zu Hause vorbei ist. Nicht nur wegen des fehlenden Geldes wollen sie von Europa nichts wissen. „Was soll ich denn da? Meine Heimat ist Kobane“, sagt Nasrin Muslim, eine 23-jährige Krankenschwester aus Nordsyrien, die in einem Armeleuteviertel in Mersin lebt.

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