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Arzt Giancarlo Biazzo (Mitte) im Gemüsegarten mit Giovanni Votano und Sozialarbeiterin Nadia Denisi.

© Dominik Straub

Die Samariter von Arghillà: Freiwillige sorgen für medizinische Grundversorgung in Roma-Ghetto

Der Stadtteil in Reggio Calabria ist eine rechtsfreie Zone. Ehrenamtliche versuchen, die Not zu lindern. Vom Staat erhalten sie keine Hilfe.

Die Behörden hatten für Arghillà einst hochfliegende Pläne gehabt: Das Quartier sollte zum "Beverly Hills" von Reggio Calabria werden, mit Villen, Parks, breiten Boulevards und edlen Restaurants.

Auch Banken, Versicherungen und andere Finanzdienstleister sollten angesiedelt werden, und außerdem ein Campus der Universität. Von der Lage her war die Idee bestechend: Arghillà befindet sich auf einer natürlichen Terrasse am nördlichen Stadtrand von Reggio Calabria mit einem grandiosen Blick auf die Meerenge von Messina, auf das gegenüberliegende Sizilien und auf den derzeit eingeschneiten, rauchenden Ätna.

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Selbst in Italien gibt es nur wenige Orte mit einem derart spektakulären Panorama.

Der Traum ist geplatzt, wie so oft im armen und von Rom vernachlässigten Kalabrien. Statt der Villen wurden Anfang der Siebzigerjahre öde Wohnblocks mit Sozialwohnungen hochgezogen.

Deren Bauqualität war von Anfang an dürftig, und Unterhalt haben die Gebäude in der Folge nie erhalten. Nach etwa 30 Jahren waren die Blocks derart marode, dass die Bewohner von der Stadtregierung von Reggio Calabria umgesiedelt wurden. An ihrer Stelle zogen ab 2001 Angehörige der Roma-Minderheit in die Häuser ein.

In den Straßen türmen sich meterhohe Müllberge

Heute leben etwa tausend Roma-Familien in dem Quartier, was etwa 4.000 Personen entspricht. Wie viele es genau sind, weiss niemand mit Sicherheit: Die wenigsten Roma sind beim Einwohneramt gemeldet, kaum einer bezahlt Strom-, Gas- oder Wasserrechnungen. Neben den Roma leben hier auch noch rund 2.000 weitere Anwohner.

Die meisten der Gebäude sind einsturzgefährdet, in den mit Schlaglöchern übersäten Straßen türmen sich zum Teil meterhohe Müllberge. "Die Situation ist katastrophal", sagt Giancarlo Biazzo. "Die Kinder gehen kaum zur Schule, zwölf- und dreizehnjährige Mädchen werden schwanger, fast alle "ragazzi" rauchen und konsumieren Drogen."

Die meisten Roma-Familien lebten vom bedingungslosen Grundeinkommen, vom Kindergeld und von Kleinkriminalität wie Diebstählen und Prostitution. Die Bewohner werden von den Behörden sich selbst überlassen: "Der Staat hat sich abgemeldet aus Arghillà, man sieht kaum je einen Polizisten oder einen Carabiniere."

Wenn Kalabrien an der Südspitze Italiens - nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial - Peripherie ist, dann ist Arghillà die extreme Peripherie der Peripherie.

Sie sind vom öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen

Giancarlo Biazzo ist pensionierter Arzt und ehemaliger Chef einer psychiatrischen Klinik in Reggio Calabria. Jetzt leitet er einen kleinen, von Freiwilligen getragenen medizinischen Stützpunkt in der Trost- und Gesetzlosigkeit des Roma-Ghettos. Denn für die "Unsichtbaren von Arghillà" existiere auch keine staatliche Gesundheitsversorgung.

"Sie haben in der Regel keine Identitätskarte, keine Rechte, keine Pflichten - und vor allem auch keine staatliche Krankenversicherungskarte. Damit sind sie vom öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen", betont Biazzo. Mit dem "ambulatorio" versuche man, die Situation für die Bewohner etwas zu verbessern, für den abwesenden Staat einzuspringen.

Zusätzlich zu ihrer täglichen Arbeit helfen sie hier

Das "ambulatorio" von Arghillà hatte seine Türen im vergangenen März geöffnet, mitten in der Pandemie. Es befindet sich in einem ehemaligen kommunalen Gemeinschaftszentrum für die Bewohner der Sozialwohnungen, das längst verlassen und dem Verfall überlassen worden war. Jetzt sind die Räume wieder hell und sauber; an den Wänden hängen farbige Bilder und Poster. In der Tagesklinik arbeiten außer Biazzo zehn weitere Ärztinnen und Ärzte, ebenfalls unentgeltlich. Hinzu kommen einige administrative Mitarbeiter, die einen bescheidenen Lohn beziehen. Die meisten Mediziner sind wie Biazzo pensioniert, einige sind noch erwerbstätig und versehen ihren Dienst im "ambulatorio" zusätzlich zu ihrer täglichen Arbeit in einer Klinik oder Privatpraxis.

Sämtliche Leistungen sind kostenlos

Die medizinischen Leistungen decken ein breites Spektrum ab: Im kleinen Gesundheitszentrum arbeiten Internisten, Gastroenterologen, Kardiologen, Psychologen, Kinderärzte; ausserdem gibt es eine Demenz-Sprechstunde, Schmerztherapie und Ernährungsberatung. Sämtliche Leistungen sind kostenlos.

"Oft kommen die Bewohner auch mit nicht-medizinischen Problemen zu uns: Viele können nicht lesen und schreiben und haben Schwierigkeiten mit behördlichen Formularen, die wir dann mit ihnen ausfüllen", sagt Biazzo. Es gebe kaum einen sozialen Notstand oder ein persönliches Problem, mit dem das Zentrum nicht konfrontiert werde.

Die Qualität der medizinischen Leistungen hat sich inzwischen weit über das Ghetto hinaus herumgesprochen: Patienten kommen nun auch aus den "besseren Quartieren" von Reggio Calabria und vereinzelt sogar aus Messina.

Finanziert wird das Projekt durch Spenden - von Patienten, Anwohnern und Bürgerinnen und Bürgern, die das "ambulatorio" im Rahmen der "5 per mille" berücksichtigen: In Italien können fünf Promille der Einkommenssteuer an wohltätige Organisationen statt an den Fiskus überwiesen werden.

Mittlerweile wurde auch ein Gemüsegarten angelegt

Für die Renovierung und Einrichtung des medizinischen Stützpunkts hatte außerdem eine Mailänder Stiftung 50'000 Euro zur Verfügung gestellt. Aber natürlich fehlt das Geld an allen Ecken und Enden - etwa für einen Hauswart, der sich auch um die Grünfläche rund um das "ambulatorio" kümmert. Und so nimmt der 70-jährige Biazzo eben nach Dienstende wenn nötig selber die Motorsense in die Hand, um das wuchernde Grün in Zaum zu halten.

Vor dem Eingang hat Biazzo zusammen mit Giovanni Votano, dem Präsidenten des Quartierkomitees, auch einen Gemüsegarten angelegt und Bäume gepflanzt.

Es geht nicht nur um den Körper, sondern auch um die Seele

In dem Garten können Patienten und ihre Familien unter Anleitung von Votano ihre eigenen Beete kultivieren - Ausdruck des ganzheitlichen Medizinverständnisses, dem sich das Team verpflichtet fühlt. "Wir definieren Gesundheit nicht einfach als Abwesenheit von körperlichen Krankheiten. Unser Anliegen ist das ,benessere', also das Wohlergehen der Menschen. Und dieses hängt auch von der Umwelt und von den sozialen Umständen ab, in denen man lebt", betont Biazzo.

Gartenarbeit und gesundes, frisches Gemüse könne in einem extrem schwierigen sozialen Umfeld wie Arghillà einen Beitrag leisten, das psychische Wohlergehen und damit auch die körperliche Gesundheit zu verbessern.

Der ganzheitlichen Medizin hat sich auch Lino Caserta verschrieben, Leiter und Mitbegründer des Gesundheitszentrums von Pellaro im Süden von Reggio Calabria. Seine Tagesklinik existiert schon seit etwas mehr als zehn Jahren, basiert ebenfalls auf der unentgeltlichen Arbeit der meisten seiner Ärztinnen und Ärzte und ist in diesem Frühling dem "ambulatorio" von Arghillà Pate gestanden.

Sie machen die Arbeit, die der Staat machen müsste

Entstanden ist das Modell der "sozialen Nachbarschaftsmedizin" aus einem Forschungsprojekt über Epidemiologie und Übergewicht, das in Kalabrien - wie in den meisten armen Regionen der Erde - ein großes Gesundheitsproblem darstellt. "Nach einigen Jahren der Forschungen sagten wir uns: Jetzt müssen wir etwas dagegen tun - und so ist unser ,ambulatorio' entstanden", erklärt der Gastroenterologie Caserta.

"Wir machen ganz einfach das, was eigentlich der Staat machen müsste", sagt Caserta. Tatsächlich lassen sich wegen der ineffizienten und von der 'Ndrangheta unterwanderten Staatsmedizin jedes Jahr tausende Kalabrier in anderen Regionen behandeln, und die Regionalregierung bezahlt dafür jährlich 350 Millionen Euro, davon 70 Millionen Euro allein an die reiche Lombardei.

Die Beanstandungen waren aus der Luft gegriffen

Die beiden "ambulatori" machen es besser und günstiger: In Arghillà und Pellaro werden pro Jahr 27.000 Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen - bei einem Gesamtbudget von rund 200.000 Euro. Das sind weniger als acht Euro pro Intervention. Und als Zugabe gibt es im Gesundheitszentrum von Pellaro jeden Sonntag ein Klassikkonzert - für Patienten und Anwohner. Natürlich ebenfalls gratis.

Von den staatlichen Behörden haben die beiden Gesundheitszentren keine Hilfe bekommen - im Gegenteil: "Die Gesundheitsdirektion der Region Kalabrien hat uns sogar einmal für einige Monate geschlossen, wegen angeblich fehlender Bewilligungen", sagt Caserta.

Ein Richter habe dann die Wiederöffnung des Zentrums verfügt: Die Beanstandungen waren aus der Luft gegriffen. "Die inkompetente und mit der 'Ndrangheta verbandelte Politik fühlt sich eben von Initiativen wie der unseren bedroht. Denn wir erinnern die Menschen daran, dass es auch anders geht: innovativ, solidarisch und legal", betont Caserta.

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