zum Hauptinhalt
Wohnmobile irischer Landfahrer stehen am Dienstag auf einem Campingplatz in Eppstein (Hessen).

© dpa

Hessen: Irische Landfahrer hinterlassen Chaos

Jedes Jahr im August erwartet man in Hessen die Durchfahrt der irischen Traveller - Nachfahren von umherziehenden Händlern. Was von der Tradition übrig ist, ist ein Saufgelage.

Jedes Jahr fahren sie durch Hessen. Ihre Vorfahren sollen einst Schmiede, Viehhändler, Weber, Schuhmacher, Scherenschleifer, Schornsteinfeger, Erntearbeiter und Wahrsager gewesen sein. Nein, keine „Zigeuner“, denn so wollen die Traveller aus Irland nicht genannt werden. Heute fahren sie statt Kutschen modernste Wohnmobile, gezogen von Pferdestärken auf vier Rädern. Sie gelten als meist gläubige Katholiken und reisen jährlich von den Britischen Inseln durch Europa – traditionell Mitte August auch durch die Region Rheinland/Hessen.

Traveller, auch bekannt als „Pavees“ oder „Tinker“ (Kesselflicker), sind Nachfahren umherziehender Händler, die früher Irland und Großbritannien und als Hausierer, Kesselflicker und Pferdehändler ihr Brot verdienten. Die Tinker sprechen ihre eigene Sprache, ein Mix aus irisch-gälischen, englischen und romanesischen Begriffen. Nur wenige der heutigen Travellers sollen ein regelmäßiges Einkommen haben; die große Mehrheit lebt offenbar von Unterstützung der Wohlfahrt. Etwa 30.000 der überwiegend streng katholischen Traveller leben bis heute in Irland, einige tausend auch in Nordirland, Großbritannien und den USA. Versuche, sie sesshaft zu machen, sind nach Angaben der Nachrichtenagentur KNA nur bedingt erfolgreich. Das Umherziehen von Ort zu Ort ist Teil ihrer Kultur. Der Großteil der Travellers ist KNA zufolge jünger als 25 Jahre; nur jeder fünfte werde älter als 50 Jahre.

In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland wiederholt Klagen von Anwohnern und Schwierigkeiten mit dem Ordnungsamt - so in Minden, Köln, Bonn, dem niederrheinischen Wallfahrtsort Kevelaer oder Mainz.

Auch in diesem Jahr kam es wieder zu massiven Beschwerden durch Anwohner. Das fahrende Volk hatte sich mit rund 100 Wohnwagen und etwa 600 Männern, Frauen und Kindern auf einer Wiese in Ginsheim-Gustavsburg bei Groß Gerau niedergelassen.

„Wir sind hier, um Sex mit deutschen Frauen zu haben und sämtliches Bier zu trinken“, erzählte ein junger „Pavee“ aus seinem BMW heraus einem Kamerateam. Die Stimmung im Camp schien ausgelassen. „Das hier ist ein riesiger Sex-Kongress“, sagte ein älterer Ire sichtlich angetrunken demselben Kamerateam. Die Bilder zeigten die knapp bekleideten - irischen - Frauen und betrunkene Traveller. Dann zeigten sie den Jungen, wie er die Reifen seines BMWs quietschen ließ.

Der freiwillige Helfer Jochen Schäfers wirft am 15.08.2016 in Ginsheim-Gustavsburg (Hessen) einen Sack Müll in den Container. Mehrere hundert Landfahrer aus Irland hatten hier auf einem Festplatz in Ginsheim-Gustavsburg (Kreis Groß-Gerau) mehrere Tage campiert.
Der freiwillige Helfer Jochen Schäfers wirft am 15.08.2016 in Ginsheim-Gustavsburg (Hessen) einen Sack Müll in den Container. Mehrere hundert Landfahrer aus Irland hatten hier auf einem Festplatz in Ginsheim-Gustavsburg (Kreis Groß-Gerau) mehrere Tage campiert.

© dpa

An einer neben dem Campingplatz gelegenen Tankstelle freute man sich nicht so sehr über den jährlichen Besuch. Natürlich gebe es mehr Einnahmen, aber die Traveller würden auch viel Müll hinterlassen, Eis einfach aus den Kühlregalen nehmen und verzehren, leere Dosen in die Waschstraße werfen und halt einfach viel klauen. Anwohner berichten, ihre privaten Grundstücke würden „als Toiletten missbraucht“. Bereits am Freitag war ein 43-jähriger Ire wegen eines Nazigrußes festgenommen worden. Gegen ihn wird ermittelt.

Ginsheim-Gustavsburgs Bürgermeister Thies Puttins-von Trotha war froh, dass die Traveller wieder weg sind. Für das nächste Jahr wolle er auf Konfrontation gehen: Vielleicht gebe es ja Landwirte, die ihren Mist an den Campingplatz abstellen wollen, sagte er einem Fernsehsender. Auf Facebook sprach er von einem „Ausnahmezustand“. Das Lager der Reisenden in der 16.000 Einwohner zählenden Stadt musste aufgeräumt werden: viel Müll, ein ausrangiertes Fahrrad und ein alter Stuhl, unzählige leere Flaschen und Bierkisten. Es hätte wie nach einem Rockfestival ausgesehen, sagte der Bürgermeister.

Hessen will ein Frühwarnsystem entwickeln

Viele Freiwillige halfen mit, das Chaos wieder zu beseitigen. Ein Einwohner freute sich über den üppigen Pfand. „Das sind bestimmt zehn Euro“, sagte er einer Lokalzeitung. Von Trotha postete Fotos der von Müll befreiten Wiese auf Facebook. Fürs nächste Jahr habe er gelernt, noch mehr kleinere Mülleimer für die Traveller aufzustellen. Die großen Container seien zwar gut genutzt worden, jedoch sehr schnell voll gewesen.

Zudem habe man in diesem Jahr noch Glück gehabt, so der Bürgermeister. Im vergangenen Jahr hätten anliegende Gemeinden etwa mit verseuchten Böden durch Ölwechsel auf offener Fläche zu schaffen gehabt. Wo genau die Traveller campieren, lässt sich nur schwer vorhersagen. „Wir können natürlich nicht jeden Parkplatz absperren. Aber wir werden die Augen aufhalten, den Kontakt zu anderen Kommunen pflegen“. Eine Art Frühwarnsystem soll das sein. In diesem Jahr seien die Traveller früher als erwartet wieder abgereist. Auch, weil sie von der Polizei „auf Schritt und Tritt“ verfolgt wurden, wie der Bürgermeister vermutet. Bei ihrer Abreise warfen sie noch die extra für sie aufgestellten Dixi-Toiletten um.

Immerhin konnte die Stadt einen „vierstelligen Betrag“ von den Travellerfamilien einkassieren. Es seien jedoch keine 10.000 Euro gewesen, wie die Traveller gegenüber den Bürgern geäußert hätten, sagte Puttnins-von Trotha. Das Geld reiche jedenfalls nicht aus, um die Reinigungs- und Einsatzkosten der Polizei zu bezahlen. Wie es in einer Polizeimeldung der Polizei Südhessen hieß, hatte die Stadt Ginsheim-Gustavsburg entschieden, den Travellern die Nutzung des Geländes gegen Zahlung einer Kaution bis Mittwochmorgen zu gestatten.

„Erheblich alkoholisiert und sehr aggressiv"

Auch auf einem Campingplatz in der Nähe des hessischen Hofheims musste die Polizei einschreiten. Die Iren meldeten sich ganz normal als Campingplatzgäste an. Die Beschwerden kamen erst in der Nacht, als sie im benachbarten Kelkheim auf Kneipentour gingen. Die Polizei war vor Ort, um Präsenz zu zeigen, und hielt den Campern eine Ansprache. Diese seien „erheblich alkoholisiert und sehr aggressiv gewesen“. Es gab einige Beschwerden über Sachbeschädigungen und Zechprellereien. Auch Streitigkeiten mit Anwohnern wurden gemeldet.

Die hessische Polizei sagte, bisher seien keine Strafanzeigen eingegangen. Die Wirte und der Betreiber des Campingplatzes würden sich ja sich auch sehr über die Mehreinnahmen freuen. Für die Müllbeseitigung sei der Campingplatzbetreiber zuständig, der mit den Gästen jedes Jahr Vorabkasse vereinbart habe. Campingplatzbetreiber Jörg Steimer zeigte sich gelassen. Er habe schon seit 30 Jahren „das fahrende Volk zu Gast“, sagte er. Bislang habe es nie größere Probleme gegeben. Schwarze Schafe gebe es wie überall, seine Erfahrungen mit den Travellern seien aber positiv.

Im Mai hatte der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (ECSR) Irland mangelhafte Vorkehrungen für Traveller vorgeworfen; die Regierung in Dublin verletze damit die Europäische Sozialcharta. Das European Roma Rights Centre und die Irische Vereinigung der Traveller hatten 2013 beim Europarat Beschwerde eingereicht. Jüngsten Erhebungen des irischen Umweltministeriums zufolge lebten 2015 mehr als 530 Traveller-Familien auf illegalen Stellplätzen. 2013 waren es 361, im folgenden Jahr 445 Familien.

Wohin genau die Landfahrer von Hessen aus hingefahren sind, ist nicht bekannt. Die Polizei sagte, sie hätten sich auf den Autobahnen verteilt und seien vermutlich auf dem „Heimweg“ – gemeint sind die Britischen Inseln. Nächstes Jahr kommen sie wieder nach Hessen. (mit dpa)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false