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Panorama: Im Schlaf überrascht

Bei dem Erdbeben im Südosten der Türkei stürzt ein Schulheim ein. 200 Kinder werden vermisst, Eltern und Helfer graben mit bloßen Händen

„Wer hat die Schule kaputtgemacht?", fragte der kleine Veysel, als er dieAugen wieder aufschlug. Rund acht Stunden nach dem Erdbeben im südosttürkischen Bingöl wurde der Zwölfjährige aus den Trümmern des Schulheims gezogen, in dessen Schlafsaal er mit rund 200 Kameraden geschlafen hatte. „Wer hat das denn getan?“, fragte Veysel noch einmal, bevor ihm seine Schulkameraden einfielen. „Ihr müsst auch meine Freunde retten, sie warten auf Hilfe“, flehte er die Sanitäter an, die ihn verarzteten. Fieberhaft gruben Soldaten und zivile Helfer auch zwölf Stunden nach dem Beben in den Trümmern des Schulheimes noch immer nach mehr als hundert vermissten Schülern des staatlichen Grundschulheims Celtiksuyu, dessen dreistöckiger Schlaftrakt bei dem Beben um halb vier Uhr morgens eingestürzt war und die schlafenden Kinder bei lebendigem Leibe begraben hatte.

Furchtbare Szenen spielten sich rings um den Trümmerhaufen ab, der von dem Schlafsaal übrig blieb. Vor Angst und Schmerz halb wahnsinnige Eltern versuchten, den Geröllhaufen zu stürmen, um mit eigenen Händen nach ihren Kindern zu graben. Soldaten bildeten eine Kette, um sie daran zu hindern. Jedesmal, wenn ein Kind aus einer Öffnung zwischen den Betonplatten gezogen wurde, stürmten die Angehörigen vorwärts, um einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen. Schreiend brachen Männer und Frauen zusammen, wenn ihre Hoffnungen sich wieder als vergeblich erwiesen hatten, zerrten sich an den Haaren und heulten ihren Schmerz heraus. Wie ein Wunder wirkte es angesichts der schweren Betonplatten, dass überhaupt jemand darunter überleben konnte - und es waren nicht einmal wenige. Mehr als 80 Kinder wurden bis zum Nachmittag lebend aus den Trümmern gezogen – manche in Schlafanzügen, andere nackt, manche ohnmächtig und andere bei vollem Bewusstsein. Mindestens 50 weitere Kinder seien unter den Trümmern noch am Leben, schätzte ein Rettungsarbeiter am Nachmittag. Da waren die Schüler schon seit zwölf Stunden verschüttet, eingesperrt in der Dunkelheit. Dem verstörten Gesicht eines kleinen Jungen im blauen Schlafanzug, der schon nach sechs Stunden geborgen werden konnte, sah man deutlich an, dass diese Stunden ihn nie verlassen werden. Auch 25 Kinderleichen wurden bis zum Nachmittag gefunden, ein Lehrer starb auf dem Transport ins Krankenhaus. In der nahen Provinzstadt Bingöl stieg die Opferbilanz ebenfalls stündlich an; mindestens 100 Tote zählten die Krankenhäuser, und da waren noch längst nicht alle Opfer ausgegraben.

Mehrere Wohnhäuser in der Stadt stürzten bei dem nächtlichen Beben ein – darunter die Häuser des Bauunternehmers und des Bauamts-Leiters, die für die offenbar schlampige Bauweise der Schule in Celtiksuyu zuständig sind. „Einer Bebenstärke von 6,4 auf der Richterskala müssten im Erdbebenland Türkei alle Bauten ohne weiteres widerstehen können“, empörte sich ein Bauingenieur im türkischen Fernsehen. Schließlich sind Beben dieser Stärke in der Türkei fast an der Tagesordnung, wie auch die Erdbebenwarte in Istanbul wieder unterstrich. Bingöl selbst wurde schon vor 30 Jahren von einem Beben der Stärke 6,5 heimgesucht. Damals starben fast tausend Menschen, doch die Lehren wurden daraus ebenso wenig gezogen wie aus der Erdbebenkatastrophe am Marmara-Meer vor dreieinhalb Jahren, bei der mindestens 20 000 Menschen getötet wurden. „Der Staat schaufelt unsere Gräber“, schleuderten wütende Einwohner den ersten Ministern entgegen, die aus Ankara am Unglücksort eintrafen. Ausgerechnet die Schulen erweisen sich immer wieder als schwächste Bauten, wenn in der Türkei die Erde bebt.

Erst vor drei Monaten stürzte bei einem Beben der Stärke 6,5 der Speisesaal eines Schulheims in der Provinz Tunceli ein, die unmittelbar an Bingöl grenzt. Das Schulheim war ein Neubau und erst im vergangenen Jahr eröffnet worden. Auch das Schulheim in Celtiksuyu war neu. Erst im Herbst 1999 war es eröffnet worden, und die damit verbundenen Hoffnungen waren groß. Bingöl zählt nicht nur zu den ärmsten Regionen der Türkei, die Provinz wurde auch 15 Jahre lang von dem Krieg zwischen den kurdischen PKK-Rebellen und der türkischen Armee gebeutelt, der 1999 endete. Viele Dörfer haben seither keine eigenen Schulen mehr.

Mit den Grundschulheimen sollte diese Lücke geschlossen werden. Was bei Kriegsende mit so viel Hoffnung begann, endete nun in einer Tragödie – und darüber tröstete die Überlebenden auch die Tatsache nicht hinweg, dass diesmal zumindest die Rettungs- und Hilfsarbeiten zügig und effizient anliefen. „Wir müssen endlich davon wegkommen, immer nur die Schäden zu bewältigen, und mit der Vorbeugung beginnen“, forderte der Chef der türkischen Ingenieurskammer. Die Lehren müssten beherzigt und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden, stimmte auch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Unglücksort zu. Doch das haben die Türken schon zu oft gehört, als dass sie daran glauben könnten. Denn die nächste Erdbeben-Tragödie kommt bestimmt.

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