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Türkei: Massaker in Anatolien: Motiv Massenmord

So viele Menschen wie möglich töten, damit niemand übrig bleibt, der Rache nehmen kann – das war nach Aussagen eines Tatverdächtigen das Motiv hinter der auch für türkische Familienfehden ungewöhnlichen Brutalität bei dem Massaker in Südostanatolien.

Die Hausarbeit rettete Hülya Celebi das Leben. Das 15-jährige Mädchen konnte am Montagabend nicht zur Hochzeitsfeier gehen, die in ihrem südostanatolischen Heimatdorf Bilge anstand: Sie musste Käse zubereiten. Hülya blieb allein im Haus zurück und dachte sich nichts dabei, als sie draußen Schüsse hörte. In ländlichen Gegenden der Türkei ist es üblich, bei Hochzeiten mit scharfen Waffen in die Luft zu ballern. Als Hülya kurz darauf dann doch aus dem Haus ging, sah sie einen vermummten Mann, der sofort das Feuer auf sie eröffnete. Sie warf sich zu Boden und überlebte - doch ihre Eltern und neun weitere Verwandte waren unter den 44 Todesopfern des Massakers.

Dass Hülya noch lebt, war in den Plänen der mutmaßlichen Täter offenbar nicht vorgesehen. Die Angreifer, die dem selben kurdischen Clan der Celebis angehören wie Hülya und die meisten Opfer, wollten eine gesamte Sippe innerhalb des Clans auslöschen. Niemand sollte übrig bleiben, der sich später im Rahmen einer neuen Blutfehde rächen könnte. Motiv Massenmord. "Das ist nicht leicht zu verstehen", sagte Innenminister Besir Atalay.

14-Jähriger unter den Tatverdächtigen

Der Angriff im Dorf, eines der schlimmsten Verbrechen in der Türkei überhaupt, sollte demnach auch nicht das Ende der Gewalt sein. "Wir wollten auch keine von denen überleben lassen, die außerhalb des Dorfes wohnen", sagte ein Tatverdächtiger laut Zeitungsberichten nach seiner Festnahme in einem ersten Verhör aus. Deshalb wurden auch Kleinkinder und hochschwangere Frauen erbarmungslos niedergemäht. Vewandte der mutmaßlichen Angreifer stützten diese Version mit ihren eigenen Aussagen. Das zuständige Gericht erließ am Mittwoch acht Haftbefehle. Unter den Verdächtigen ist ein erst 14-jähriger Junge - und alle tragen den Familiennamen Celebi.

Zwischen zwei Teilen des Celebi-Clans gab es bereits seit Jahren Spannungen, die durch eine Vergewaltigung einer Frau durch den Mann aus einem anderen Familienzweig kürzlich eskalierten. So wurde der frühere Bürgermeister von Bilge, Cemil Celebi, aufgefordert, als Wiedergutmachung seine Tochter Sevgi einem Mann aus dem von der Vergewaltigung betroffenen Familienzweig zur Frau zu geben. Doch Celebi wollte Sevgi mit Habip Ari verheiraten, einem Vetter der Braut aus einem anderen Familienteil. Das brachte das Fass zum Überlaufen.

Debatte über Dorfschützer

Während Polizei und Staatsanwaltschaft die Beweismittel zusammentrugen - in dem Haus, in dem die Hochzeitsgäste erschossen wurden, sollen in jeder Wand 70 bis 80 Kugeln gesteckt haben - und die Anklage vorbereiteten, brach in der türkischen Öffentlichkeit eine Debatte über die so genannten Dorfschützer los, eine Ankara-treue Kurdenmiliz, die mit staatlicher Ausrüstung gegen die PKK-Rebellen kämpft und der die mutmaßlichen Mörder von Bilge angehörten. "Die Morde wurden mit staatlichen Waffen verübt", kommentierten mehrere Zeitungen am Mittwoch.

Forderungen nach einer Auflösung der Dorfschützer gibt es schon lange. Schließlich hält dieses System mehrere zehntausend Mann ständig unter Waffen - und schafft damit einen starken Anreiz, den Kurdenkonflikt am Köcheln zu halten und nicht friedlich zu beenden. Doch eine Abschaffung wäre nicht einfach. Der magere Sold der Dorfschützer ist für ganze Familien in Dörfern wie Bilge, wo alle Männer bei der Miliz sind, oft die einzige Einnahmequelle. Der lange Kurdenkrieg hat die traditionelle Landwirtschaft zerstört, und industrielle Arbeitsplätze gibt es in der Region ohnehin nicht. Deshalb dürfte das System auch nach dem Massaker von Bilge weiter bestand haben.

Das lässt befürchten, dass das Blutbad vom Montag nicht das letzte gewesen sein wird. Schließlich gibt es auch im Celebi-Clan noch viele bewaffnete Dorfschützer, die jetzt möglicherweise auf Vergeltung sinnen. Das glaubt auch einer der Tatverdächtigen. "Wenn es Überlebende gibt, werden die versuchen, sich an unseren Familien zu rächen", sagte der Mann im Verhör. "So geht das immer weiter."

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