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Berlins Queerbeauftragter Alfonso Pantisano: „Das Haus der queeren Community steht in Flammen“
Die Diskussionen um die Regenbogenflagge, die steigende Gewalt, rechte Bedrohungen: Queerfeindlichkeit trägt unterschiedlichste Masken, schreibt Alfonso Pantisano anlässlich des Berliner CSD – und, warum Sichtbarkeit so wichtig ist.
Stand:
Ich bin wütend. Ich bin wütend, weil wir zusehen müssen, wie alles, was wir uns erkämpft haben, gerade angezündet wird. Weil wir uns nicht nach vorne bewegen, sondern rückwärts. Weil wir im Jahr 2025 immer noch darüber streiten müssen, ob queeren Menschen die gleichen Rechte zustehen – oder nicht.
Ich bin wütend, weil Demokratien beginnen, uns zu verraten. Und weil sie die Errungenschaften unserer Community niederbrennen – Stück für Stück, Recht für Recht, Leben für Leben.
Das Haus der queeren Community steht in Flammen. Während die Wände brennen – während queere Menschen beleidigt, bedroht, zusammengeschlagen werden – während queere Jugendliche sich in ihren Kinderzimmern aus Verzweiflung ritzen, weil ihnen täglich gesagt wird: „Du bist falsch. Du bist eine Schande. Du bist nicht wert.“ Während all das passiert, da schauen viele weg. Oder schlimmer: Sie lächeln uns hämisch an und gießen weiteres Öl ins Feuer.
Die Bundestagspräsidentin verbannt die Regenbogenflagge vom Dach des Bundestags. Die Bundesbildungsministerin schafft in Schulen die inklusive Sprache ab. Die Bundestagspräsidentin verbietet den queeren Beschäftigten der Bundestagsverwaltung, sichtbar als solche beim Berliner CSD teilzunehmen. Die Bundestagspräsidentin schickt die Bundestagspolizei durch die Büros der Abgeordneten und lässt alle Regenbogenfahnen abnehmen, die von irgendeinem Fenster aus nur ansatzweise sichtbar sind. Bundeskanzler Merz vergleicht unsere Community mit einem Zirkus – als wären wir dressierte Zirkuspferde. Oder gar Freaks.
Diese Politik, diese Sprache – das ist Gewalt an queeren Menschen. Und Gewalt nimmt zu, jeden Tag. Vor allem junge Männer schlagen zu. Sie kommen aus Deutschland und aus allen möglichen Ländern der Welt. Und sie haben alle möglichen Götter im Kopf.
Aber machen wir uns nichts vor: Wer Queerfeindlichkeit mit Rassismus beantwortet, hat nichts verstanden. Denn nein – der radikale Islam und die Migrant*innen sind nicht unser einziges Problem. Auch in anderen Kirchen, in Unternehmen, in Parlamenten wird ausgegrenzt, diskriminiert, gemobbt, gehasst. Jeden Tag.
CSDs werden landauf, landab von Rechtsradikalen bedroht. Bei der jüngsten Marzahn-Pride haben 1100 Menschen für Vielfalt demonstriert – und sie mussten von 1100 Polizist*innen beschützt werden. Eins zu eins. Ich glaube, das sagt alles. In Berlin wurden letztes Jahr fast 700 queerfeindliche Straftaten registriert – so viele wie nie.
Wir reden also nicht über abstrakte Angst – sondern über unsere Körper und unsere Würde –, die auf unseren Straßen, in unseren Bussen, Bahnen, auf der Arbeit, in Vereinen und Schulen angegriffen werden – morgens, mittags, abends, nachts.
Unsere Jugend ist in diesen Tagen sehr verwundet. Viele wissen nicht, wie sie mit dieser Ablehnung umgehen sollen, die für sie neu ist: mit dieser Angst vor ihrer Zukunft. Dabei hatten wir ihnen doch versprochen, dass es besser wird!
Viele queere Jugendclubs in Berlin kämpfen ums Überleben. Workshops, Beratungen, Begegnungsräume drohen zu verschwinden. Wenn wir diese Angebote verlieren, verlieren wir unsere Zukunft. Und wir verlieren womöglich sogar Menschenleben. Das können wir doch nicht allen Ernstes zulassen.
Queerfeindlichkeit trägt unterschiedlichste Masken – und einige davon tragen Maßanzug oder ein Mandat.
Alfonso Pantisano
Queerfeindlichkeit trägt unterschiedlichste Masken – und einige davon tragen Maßanzug oder ein Mandat. Oder haben wir das schon verdrängt?
70 Prozent aller queeren Menschen in Deutschland sind am Arbeitsplatz nicht geoutet. Sie müssen sich verstecken – jeden Tag. Weil sie Angst haben. Weil sie wissen: Ein falsches Wort, ein falscher Blick – und die Karriereleiter, auf der wir stehen, wird umgekippt.
Gewalt von vielen Seiten
Diese Gewalt kommt nicht nur aus der Ferne. Sie kommt auch von unseren Kolleg*innen, von unseren Nachbar*innen, von Politiker*innen, die immer beteuern: „Ich hab’ ja nix gegen Schwule, aber …“ Aber was?
Währenddessen steht der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, öffentlich auf einer rechts-alternativen Plattform und behauptet, queere Menschen würden „anderen ihre sexuelle Orientierung aufdrängen“. Er warnt vor einem „Kniefall vor der Regenbogenflagge“ und spricht von einer „aggressiven Forderung nach permanenter Sichtbarkeit“.

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Was hier passiert, ist keine Sorge um Neutralität. Es ist ein Angriff auf Realität. Wenn ein schwuler Mann erzählt, dass er mit seinem Partner essen war, hören manche Menschen nicht „Abendessen“. Sie hören „Sex“. Sie hören „Analverkehr“. Nicht, weil es gesagt wurde – sondern weil ihre eigenen Vorurteile lauter sind als unsere Worte.
Was heute als „zu viel“ queer gilt, ist in Wahrheit immer noch zu wenig Schutz.
Alfonso Pantisano
Dabei ist Sichtbarkeit keine Ideologie. Sie ist Überleben. Was heute als „zu viel“ queer gilt, ist in Wahrheit immer noch zu wenig Schutz. Denn Unsichtbarkeit ist keine neutrale Alternative – sie ist ein Risiko. Sie bedeutet, dass queere Jugendliche in ländlichen Regionen sich für „falsch“ halten und sich das Leben nehmen. Diese Unsichtbarkeit bedeutet auch, dass trans Frauen auf der Straße attackiert werden – und dann unterstellt wird, sie hätten provoziert. Dass queere Senior*innen in Pflegeeinrichtungen wieder verstummen – aus Angst, wie früher wieder schlecht behandelt zu werden.
Wenn staatliche Gebäude Regenbogenflaggen hissen, ist das kein Kniefall vor dem Zeitgeist – sondern ein Aufstehen für das Grundgesetz. Denn diese Flagge steht nicht für eine Mode. Sie steht für ein Versprechen: Dass dieser Staat alle Menschen schützen muss. Nicht nur die Mehrheit, auch die Minderheit.
Was viele nicht wissen oder gar nicht wahrhaben wollen: Diese Verachtung, diese Angst, diese Gewalt – sie ist nicht neu. Queere Menschen kennen sie schon sehr lange. Und sie hat uns nie zerstört. Ganz im Gegenteil: Sie hat queere Menschen stärker gemacht. Und näher zusammengebracht.
Queere Menschen in Berlin müssen wieder kämpfen
Unsere Leute haben für uns auf den Straßen gekämpft – von Berlin bis New York. Viele von uns kämpfen gerade irgendwo in der Welt – jeden Tag. Und jetzt merken wir auch hier in Deutschland, auch hier in Berlin: Auch wir müssen wieder kämpfen.
Wir haben uns nie unterkriegen lassen – nicht vom Paragrafen 175, nicht von den Nazis, nicht von konservativer Verachtung, nicht von rechter Hetze, nicht von der Hetze all derer, die meinen, für irgendeinen Gott sprechen zu wollen. Das Gift der Fanatiker ist immer das gleiche – ob es aus der Moschee kommt oder vom Altar. Gefährlich sind sie beide.
Und deswegen sage ich klipp und klar: Wir kämpfen weiter. Wir haben uns die Straßen unserer Stadt zurückerobert. Wir haben uns das Recht erstritten, zu lieben und zu sein, wie wir sind.
Wenn sie jetzt unsere Fahnen verbieten, dann lassen wir sie uns notfalls auf der Brust tätowieren.
Alfonso Pantisano
Wir haben uns Sichtbarkeit und Selbstbestimmung erkämpft – mit Lippenstift, Perücken und Stöckelschuhen, mit Lederchaps und Hankycodes, mit unserer Liebe Hand in Hand, mit unserer Regenbogenfahne in der Hand, mit unseren Babys im Kinderwagen, mit Tränen, mit Wunden, mit Blut – und immer mit Würde und mit Stolz!
Wenn sie jetzt unsere Fahnen verbieten, dann lassen wir sie uns notfalls auf der Brust tätowieren. Wenn sie uns die Sprache nehmen, dann schreien wir unsere Forderungen zum Himmel hoch. Wenn sie uns aus der Mitte der Gesellschaft drängen wollen – dann rücken wir enger zusammen – und bilden die queere Mitte.
800.000 Berliner*innen gehören dem Bi+-Spektrum an
Denn wir sind viele! Allein in Berlin sind wir über eine Million stark! 800.000 Berliner*innen gehören dem Bi+-Spektrum an, weitere 400.000 von uns sind Lesben und Schwule, weitere 100.000 sind trans, intergeschlechtliche und nicht-binäre Freund*innen!
Wir sind deutsch und wir sind international. Wir sind hier geboren, wir sind hierhergezogen, wir mussten hierher fliehen. Wir sind jung, wir sind alt. Wir leben ohne und mit sichtbarer und unsichtbarer Behinderung. Wir sind wohlhabend und wir sind arm. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Und manche von uns sind obdachlos. Wir sind Single, verliebt, verpartnert, verheiratet. Wir sind geschieden und wir sind verwitwet. Wir sind Regenbogenfamilien – und unsere Kinder, sind wie alle anderen Kinder auch, auch Kinder dieses Landes.
Sichtbarkeit. Wir reden immer über Sichtbarkeit. Aber: So schwer es ist, draußen nicht gesehen zu werden, umso unerträglicher ist es, drinnen nicht gesehen zu werden.

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Die Spaltungen in unserer eigenen Community machen mich fassungslos. Wie oft stellen wir uns gegenseitig infrage? Wie oft sagen wir einander: „Du gehörst nicht wirklich dazu“?
Wie oft zählen wir ab, wer „wirklich betroffen“ ist – statt zu fragen: Was kann ich für Dich tun? Wie oft schweigen wir, wenn Queers of Color über Rassismus, wenn Jüdinnen und Juden über Antisemitismus sprechen? Wenn Queers mit Behinderung keinen Platz auf unseren Partys, in unseren Räumen finden? Wenn trans Jugendliche, wenn Bisexuelle sich nicht trauen, zu uns zu kommen, weil wir sie schlicht nicht ernst nehmen und sie sich immer wieder erklären müssen, wer sie wirklich sind?
Queeres Leben ist kein Hochglanz-Poster für die Innenstadt
Wir sagen, wir stehen für Vielfalt – aber leben wir sie wirklich? Oder nur dann, wenn sie uns nicht herausfordert? Vielfalt ist keine Einheitsgröße. Und queeres Leben ist kein Hochglanz-Poster für die Innenstadt. Ja, all das ist manchmal kompliziert, widersprüchlich, unbequem. Aber es ist doch immer wertvoll!
Eine Bitte an unsere Verbündeten: Schaut nicht weg, auch nicht, wenn ihr selbst nicht betroffen seid. Denn was heute queere Menschen trifft – kann morgen alle treffen. Das Haus der queeren Community steht in Flammen. Wenn wir nicht zusammen beim Löschen mithelfen, dann wird das Feuer auf die Nachbarhäuser übergreifen, also vielleicht auch auf euer Haus oder auf das eurer Kinder.
Denn eins wird immer klarer: Demokratie stirbt nicht auf einmal. Demokratie stirbt in Etappen. Erst stirbt ein Wort. Dann ein Recht. Dann ein Mensch. Und wir kennen das von früher: Wer Minderheiten zum Schweigen bringen will, hat es auf die Demokratie abgesehen.
Wer uns die Sichtbarkeit nehmen will, will, dass wir verschwinden.
Alfonso Pantisano
Aber das werden wir nicht wieder zulassen. Nicht, solange wir mutig, wachsam und laut bleiben. Für uns. Für die, die nicht mehr hier sind. Und für all die queeren Kinder, die auf eine Stimme warten, die ihnen sagt: „Du bist wunderschön, so wie du bist. Du bist großartig, so wie du bist. Und du bist richtig, so wie du bist.“
Lasst euch nicht einreden, dass wir zu laut sind. Wir waren nie laut genug, um wirklich gehört zu werden. Unsere Existenz ist kein Trend. Sie ist Realität. Unsere Sichtbarkeit ist kein Angriff. Sie ist eine Lebensversicherung. Und wer uns die Sichtbarkeit nehmen will, will, dass wir verschwinden. Aber wir waren nie still. Und wir werden es nie sein.
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