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Michael Stütz ist in diesem Jahr erstmals alleiniger Panorama-Chef.

© Ali Ghandtschi

Queere Filme bei der Berlinale 2020: „In Zeiten wie diesen können wir uns nicht zurücklehnen“

Warum schwule Sexfantasien politisch sind und die selbstgefilmten Gender-Entwürfe queerer Kids die Sehgewohnheiten herausfordern. Ein Gespräch mit Panorama-Chef Michael Stütz.

Die Berlinale hat eine neue Leitung. Wie erleben Sie Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek in Bezug auf queere Themen, sind sie da aufgeschlossen?
Absolut. Ich habe mich von Beginn an voll unterstützt gefühlt – auch was den Teddy betrifft. Ohnehin ist hier im Haus allen klar, wie wichtig das queere Element für das Festival ist. Es ist nicht nur so ein lasches „Das ist schon okay, dass es das gibt“, sondern es besteht ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass es der Berlinale guttut und ein Alleinstellungsmerkmal ist. In allen Sektionen herrscht ein selbstverständlicher Umgang. Ich laufe ja nicht hier rum und bedrohe die Kolleg*innen queere Filme zu zeigen (lacht).

Wie kommen die queeren Filme ins Programm der Berlinale?
Wir bekommen sehr viele Einreichungen von Filmemacher*innen, die wir sichten. Außerdem fahren wir auf Festivals und schauen bei bestimmten Filminstituten, was es Neues gibt. Das ist ein großer Oraganismus, zu dem auch Scouts in aller Welt gehören und die Gremiumsmitglieder der Berlinale-Leitung.

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Was erwartet uns in diesem Jahr an queeren Filmen?
Insgesamt werden 20 Langfilme, acht Kurzfilme und drei Serien dabei sein. Im Panorama, der Heimat der queeren Filme, sind sie wie immer besonders stark vertreten. So zeigen wie allein zehn Spiel- und Dokumentarfilme, von insgesamt 36 Filmen. Wir eröffnen auch gleich mit einem lesbischen Film: „Las Mil y Una“ von der argentinischen Regisseurin Clarisa Navas, der sich an ein größeres Publikum richtet, dabei aber durchaus herausfordernd ist: Eine Gruppe queerer Kids schafft sich in einem Sozialbauviertel utopische Räume, sie werden aber immer wieder von der harten Realität eingeholt – unterstützt werden sie so gut es geht von Müttern, Tanten, Omas - ein empowerndes Matriarchat völlig ohne väterliche Instanz.

Lässt sie eine Richtung erkennen, in die sich das queere Kino derzeit entwickelt?
Es ist ein sehr junges kämpferisches Kino. Und oft geht das auch mit ungewöhnlichen Formen einher, wie wir das im letzten Jahr schon mit „Searching Eva“ hatten und jetzt etwa bei der Dokumentation „Always Amber“. Hier kommunizieren der Inhalt und der Stil sehr gut miteinander.  Die jungen Filmemacherinnen porträtiert zwei anfangs 16-jährige non-binäre bzw. trans Jugendliche, Amber und Sebastian, die oft selbst die Kamera führen. Es geht um die Kreation von einem Selbst, das eben kein von der Gesellschaft vorgegebenes ist, sondern ein selbstentworfenes

Wie sieht es in den anderen Sektionen mit Queerem aus?
Da haben wir zum Beispiel „Kokon“ von Leonie Krippendorff, mit dem die Generation eröffnet. Der Coming-out- und Coming-of-Age-Film spielt in der Gegend um das Kottbusser Tor und erzählt von einem Mädchen, das sich in ein anderes Mädchen verliebt. Dabei werden auch Klassen- und Zugehörigkeitsfragen thematisiert.  Ebenfalls in der Generation läuft Gil Baronis Debütspielfilm „Alice Júnior“, in dem es um ein trans Mädchen an einer brasilianischen Schule geht. Der Wettbewerb hat einen schwulen Beitrag: „Rizi - Days“ vom taiwanesischen Regisseur Tsai Ming-Liang.

Die queeren Filme gehen ins Rennen um den Teddy, der wieder in der Volksbühne verliehen wird. Gibt es da etwas Neues?
Ja, wir vergeben zum ersten Mal den Teddy Aktivist Award, der mit 5000 Euro dotiert werden. Den bekommt eine Gruppe von Aktivist*innen, die sich auf ungeheuer mutige Weise für verfolgte Homo- und Transsexuelle in Tschetschenien einsetzt. Sie werden in der Panorama-Doku „Welcome to Chechnya“ vorgestellt. Außerdem gibt es bei der Teddy-Gala eine neue Moderatorin. Das macht diesmal die Aktivistin, Kabarettistin, Sängerin und Autorin Annie Heger.

Seit einiger Zeit gibt eine Zunahme von queeren Figuren und Themen in Filmen und Serien ohne, dass das im Zentrum steht. Läuft das irgendwann darauf hinaus, dass es keine explizit queeren Filme mehr gibt? Braucht man sie vielleicht gar nicht mehr braucht?
Es gibt diese Entwicklung, aber wenn ich mir diesen Jahrgang anschaue, sehe ich doch einen sehr starken Impetus, sich Räume und Utopien zu schaffen und diese in einer feindlichen Umwelt auch zu verteidigen. Das sieht man etwa in einem Film wie „Vento Seco“ des brasilianischen Regisseurs von Daniel Nolasco, der von hypermaskulinen Sexfantasien erfüllt ist. Gerade durch diese Explizitheit ist er eben auch sehr politisch – in Brasilien wir der Film auf keinen Fall laufen. Wir leben in einer Zeit, in der man sich nicht zurücklehnen kann. Auch die queeren Festivals sind weiter wichtig als Schutz- und Möglichkeitsraum, aus dem man inspiriert heraustritt. So schnell wir das queere Kino also sicher nicht überflüssig sein.

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