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Protest. Die „Lesbenfront“ 1977 in Zürich. Frauen werden in der historischen Forschung oft noch marginalisiert.

© picture alliance / ullstein bild

Zehn Jahre Hirschfeld-Stiftung: „Nicht vergessen, was lesbischen Frauen passierte“

Zehn Jahre Hirschfeld-Stiftung: Ein Gespräch mit Vorstand Jörg Litwinschuh-Barthel über Lücken der queeren Geschichte, Verfolgungsopfer und Homosexualität im Fußball.

Jörg Litwinschuh-Barthel ist Antidiskriminierungsexperte und leitet die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld seit ihrer Gründung 2011 als hauptamtlicher Vorstand. Jetzt scheidet er aus dem Amt aus. Zum Abschied und zum zehnjährigen Jubiläum der Stiftung zieht der Medienwissenschaftler im Interview Bilanz.

Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ist vor zehn Jahren als erste vom Bund getragene Stiftung in Deutschland angetreten, Bildungs- und Forschungsarbeit zu queeren Menschen zu machen. Wenn Sie auf die zehn Jahre zurückblicken: Was war für Sie als Vorstand der Höhepunkt?
Der Höhepunkt war, dass ich das Institut für Zeitgeschichte München (IfZ) gewinnen konnte, mit uns die Geschichte der Verfolgung queerer Menschen langfristig zu erforschen. Das ist ganz, ganz wichtig, einen so einflussreichen und einen so konservativen Player zu gewinnen.

Für das Thema hat das eine große Wirkmacht in der Wissenschaft. Früher wurde Forscherinnen und Forschern, die sich damit beschäftigen, schnell der Stempel aufgedrückt, sie würden es nur wegen der „eigenen Betroffenheit“ machen. Das war ja an sich schon diskriminierend.

Und was war der Tiefpunkt?
Es ist uns nicht gelungen, das Transsexuellengesetz abzuschaffen. Natürlich sind wir eine Stiftung, kein politischer Akteur im Bundestag. Aber wer unsere Arbeit kennt, weiß, dass wir hinter den Kulissen dazu beigetragen haben, dass der missglückte Referentenentwurf des Justiz- und des Innenministeriums zurückgezogen wurde, weil er von Unwissenheit über Trans* nur so strotzte. Wobei wir uninformierte Politiker*innen in fast allen Fraktionen haben. Ernüchternd, dass man in der Hauptsache so gar nicht die Expertise unserer Stiftung annehmen wollte.

Lassen Sie uns auf das Thema queere Geschichte zurückkommen. Welche Lücken sehen Sie in der Forschung?
Die Aufarbeitung der homosexuellen Verfolgung ist immer noch ein Desiderat. Man darf nicht vergessen, dass im Zusammenhang mit dem Paragrafen 175 StGB viele Akten vernichtet worden sind. Also muss man viel intensiver in Archiven suchen.

Jörg Litwinschuh-Barthel, hauptamtlicher Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.
Jörg Litwinschuh-Barthel, hauptamtlicher Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld.

© BMH | Sabine Hauf

Diese Forschung ist in der wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung zudem ganz stark von der Verfolgung schwuler Männer geprägt. Man darf nicht vergessen ebenfalls zu fragen, was mit Frauen und was in der frühen Bundesrepublik passierte. Uns ist zum Beispiel gelungen, ein Projekt in Rheinland-Pfalz zu realisieren, um explizit Lesben-Geschichte in einem großen, katholisch geprägten Flächenland zu untersuchen. Dabei kam heraus, dass lesbischen Frauen, die sich haben scheiden lassen, ihre Kinder entzogen wurden.

Wenn es um die Geschichte marginalisierter Gruppen geht, müssen Historiker*innen oft mit Selbstzeugnissen arbeiten. Diese sind aber wiederum rar, gerade weil die betreffenden Personen unsichtbar gemacht wurden. Die Stiftung baut ein „Archiv der anderen Erinnerungen“ auf. Geht das schnell genug vor dem Hintergrund, dass viele Zeitzeugen auch aus den frühen Jahren der Bundesrepublik inzwischen hochbetagt sind?
Wir sind sehr glücklich, dass uns bis zum Ende des Jahres über 80 Lesben, Schwule und auch die ersten trans Menschen ihre Lebensgeschichte erzählt haben werden. Als das Archiv bei uns gegründet wurde, hat sich kaum jemand getraut, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen.

Viele waren auch enttäuscht und wütend auf den Staat, der sie kriminalisiert hatte, so dass sie zunächst gesagt haben: Warum sollen wir für eine staatsnahe Stiftung unsere Geschichte erzählen? Inzwischen ist die Warteschlange so lang, dass wir das gar nicht abgearbeitet bekommen. Wir bräuchten wesentlich mehr Geld, um alle diese Interviews schnell führen zu können.

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Was sind die größten Schwierigkeiten bei dem Aufbau eines solchen Archivs?
Es ist sehr aufwändig, diese Menschen zu begleiten. Das ist nicht negativ gemeint. Wenn man das wirklich ernst nimmt, kann man nicht einfach ein Interview führen und dann die Leute damit alleine lassen. Es kommen manchmal Emotionen hoch, Wut, Trauer. Daher möchten wir mit diesen Menschen weiter in Kontakt bleiben, sie weiter betreuen. Und dann muss man sich Gedanken über die digitale Aufbereitung machen.

Was gibt es da für Hürden?
Ein Beispiel: Man muss sich eine schlaue Verschlagwortung überlegen. Was könnte für die Wissenschaft und die Medien der Zukunft interessant sein? Blickt man heute auf Zeitzeugen-Interviews der letzten Jahrzehnte zurück, haben die zum Teil ganz andere Schlagworte als heute. Da gab es zum Beispiel das Wort queer nicht. Oder: Wie kann man Dinge sammeln, die man in der Zukunft für digitale oder physische Ausstellung benötigen könnte? Bilder, Lebensläufe und all das, was queere Lebensgeschichte ausmacht.

Ein großes Thema in den vergangenen Jahren waren Rehabilitation und Entschädigung homo- und bisexueller Männer, die nach 1949 nach dem Paragrafen 175 verurteilt wurden. Auch die Stiftung geht davon aus, dass Tausende einen Anspruch auf Entschädigung hätten. Einen Antrag haben aber nur wenige Hundert gestellt. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Wir haben mit ganz großem Aufwand versucht hochzurechnen, wie viele Zeitzeugen noch leben könnten. Wir kamen auf 5000 Überlebende, die Zahl ist seriös. Es haben aber in der Tat nicht einmal 200 einen Antrag auf Entschädigung gestellt.

Ich glaube, die Regierung hat unterschätzt, wie aufwändig es ist, diese hochbetagten Menschen zu erreichen: weil sie mit dem Staat abgeschlossen haben, einsam zu Hause sind, weil sie vielleicht gar kein schwules Netzwerk haben, in einer Senioreneinrichtung leben und dort nicht geoutet sind.

Hatten Sie auf die Probleme hingewiesen?
Ja, wir hatten gesagt, dass es eine sehr aufwändige Medienkampagne bräuchte. Warum nicht in der Apothekenumschau und Seniorenmedien inserieren, warum nicht direkt in Pflegeheime gehen?

Die Frist, binnen derer Anträge gestellt werden konnte, beträgt fünf Jahre. Sie läuft bald ab. Würde es helfen, die Frist auf zehn Jahre zu verlängern?
Bei dem hohen Alter der Betroffenen bezweifele ich, ob eine Verlängerung viel helfen würde. Man sollte daraus aber lernen, wenn es jetzt um die Entschädigung homosexueller Angehöriger der Bundeswehr und der ehemaligen Volksarmee geht. Diese zu erreichen, wird noch schwieriger sein.

Sollten lesbische Frauen entschädigt werden, denen Kinder weggenommen wurden?
Wir müssen jetzt bundesweit erforschen, ob lesbischen Frauen systematisch die Kinder entzogen worden sind. Und ja – dann müssen diese Frauen entschädigt werden. Auch ihre Kinder sollten gefragt werden, was das mit ihnen gemacht hat. Es wird weitere Entschädigungsforderungen geben, etwa wegen der Verstümmelung intersexueller Kinder durch Operationen oder der Folgen des Transsexuellengesetzes. Ich hoffe, dass sich die neue Bundesregierung diesen Themen stellt.

Die Stiftung engagiert sich auch gesellschaftspolitisch, etwa mit dem Projekt Fußball für Vielfalt gemeinsam mit der Uni Vechta. Gerade beim Thema Sport und LGBT: Sind Sie manchmal frustriert, wie wenig es da in Deutschland vorangeht?
Es geht nur in kleinen Schritten voran, das muss man ganz offen sagen. Wenn man auf die Sportarten wie Fußball schaut, die sehr heteronormativ geprägt sind, gibt es da keinen großen Unterschied zu anderen Ländern. Ich habe immer dafür geworben, weiter daran zu arbeiten.

Zu Beginn der Stiftung sind wir persönlich in einzelnen Landesverbänden des DFB vorstellig geworden. Oft habe ich damals gehört: Es gibt keine Schwulen bei uns im Verband, und deshalb können wir uns damit nicht beschäftigen.

Fans im Fußball sind weiter als Manager und andere Funktionäre, sagt Litwinschuh-Barthel.
Fans im Fußball sind weiter als Manager und andere Funktionäre, sagt Litwinschuh-Barthel.

© IMAGO

Wie haben Sie reagiert?
Wir waren höflich, haben aber gesagt: Damit bestätigen Sie das Problem, dass es im Fußball gibt: Heterosexualität ist immer noch der Markenkern. Denn natürlich gibt es im Profi- und im Amateurbereich schwule, lesbische, trans und intersexuelle Spielerinnen und Spieler. Aber man muss offen sagen: Bis heute ist es nicht gelungen, alle 36 Profiklubs der Ersten und Zweiten Bundesliga mit einer grundlegenden Schulung zu versorgen.

Welche Vereine sind noch nicht versorgt?
Wir haben 27 Clubs geschafft, also 75 Prozent. Einige Vereine sind sehr fortschrittlich, Hertha BSC etwa oder der 1. FC Köln. Andere sagen, es ist zu viel für uns, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Das finde ich immerhin ehrlicher als zu behaupten „Bei uns gibt es keine Homosexuellen“.

Viele Sportler*innen in anderen Disziplinen werden von einer Welle der Empathie getragen, wenn sie ihr Coming Out verkünden. Ist denn zu vermuten, dass das im Fußball so komplett anders wäre?
Ich glaube nicht. Die Fans sind wirklich weiter, auch die Ultras, mit denen wir gesprochen haben, so wenig ich Ultras schönreden will. Die wirkliche Hürde sind die Manager der Profis. Ich habe mit einigen gesprochen, die schwule Spieler betreuen. Die Manager haben Angst, dass der Marktwert ihres Spielers sinken könnte oder Sponsoren abspringen.

Welches Thema ist in Zusammenhang mit LGBTIs gesellschaftlich Ihrer Wahrnehmung nach unterrepräsentiert?
Zum einen wird viel zu wenig gesehen, wie oft queere Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen schwer erkranken. Der Gesellschaft ist nicht klar, dass es beim Thema Gleichstellung und Gleichberechtigung nicht damit getan ist, dass queere Erwachsene sich entscheiden können zu heiraten. Und das andere wichtige Thema, um das wir uns seit Jahren kümmern, sind queere Geflüchtete. Das sehe ich auch zwiespältig.

Warum?
Unser Kuratorium wollte, dass sich unsere Stiftung mit dem Thema beschäftigt. Das finde ich wichtig und richtig. Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat uns für diese Aufgabe dann aber nicht mit den nötigen personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet, das ist auch eine Form der Missachtung des wichtigen Anliegens. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat dann dankenswerterweise unser Konzept als Modellprojekt eingestuft und einige Jahre gefördert. Und auch unsere queere Community ist zum Teil überfordert und in manchen Fällen ein bisschen widerwillig.

Was meinen Sie damit?
Es sind viele selbstbewusste queere Geflüchtete nach Deutschland gekommen, die zurecht sagen: Wir wollen hier nicht nur einfach Bittsteller sein. Wir haben Ideen, sind ausgebildet, wir wollen Teilhabe. Das ist großartig, genau das fördert unser Stiftungsprojekt. Auch in der Community zeigte sich dann aber leider bei einigen, dass sie Migration und Einwanderung als Einbahnstraße sehen, dass sich Geflüchtete bei uns „anpassen“ müssten. Über die eigenen Ausgrenzungen müsste die Community viel mehr diskutieren.

Sie haben die Ressourcen der Stiftung mehrfach angesprochen. Die Stiftung finanziert sich einerseits aus den Zinsen aus ihrem Stiftungskapital und bekommt zudem inzwischen zusätzlich eine institutionelle Staatsförderung von bis zu 700 000 Euro im Jahr. Reicht das?
Es gibt quasi Nullzinsen, das muss man immer bedenken. Ohne eine bessere Ausstattung werden wir die ambitionierten Ziele nicht erreichen können, das ist ganz klar. Die institutionelle Förderung des Bundes müsste aus meiner Sicht bei weit über eine Million Euro jährlich liegen.

Die Stiftung macht Bildungs- und Forschungsarbeit, ist aber beim Justizministerium angesiedelt. Behindert das im Alltag die Arbeit?
Dass die Stiftung in den ersten zehn Jahren beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) angesiedelt war, war die richtige Entscheidung. Wenn in den kommenden Jahren die rechtliche Gleichstellung erreicht ist, muss die gesellschaftliche Gleichstellung über Bildung und Forschung erzielt werden.

Und deshalb würde ich es begrüßen, wenn die nächste Bundesregierung die Hirschfeld-Stiftung am Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ansiedelt, weil dort mehr Querschnittsaufgaben und Zusammenarbeit auf inhaltlicher Ebene möglich sind. Und das will ich auch ganz offen sagen: Natürlich hat so ein riesiges Haus wie das BMBF ganz andere finanzielle Mittel zur Verfügung. Das alles sage ich nach zehn Jahren sehr guter, vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem BMJV, die unheimlich viel vorangebracht haben.

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