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© dpa

Weißrussland: Die Herrschaft der Bisons

Im Osten Weißrusslands darf Natur Natur sein. Über 400 Pilzarten und seltene Tiere gibt es im Berezinsky-Reservat.

Im Innern des Waldes ist es schattig und angenehm kühl. Mitten hindurch verläuft ein Weg, bedeckt von Kiefernnadeln und Blättern. Zwischen den dicken Stämmen der jahrhundertealten Eichen wachsen Brombeeren und Haselnüsse. Viktor Rovdo bleibt stehen, und lächelt versonnen. Er trägt ein kurzärmeliges Hemd und darüber eine Weste. In seinen löchrigen, grauen Mokassins ist der 48-jährige Fremdenführer vorhin seelenruhig durch schlammige, pechschwarze Erde gewatet, und selbst den Angriff der Mücken auf seine Unterarme hat er stoisch hingenommen. Nun deutet er auf eine Fichte im dichten Wald, wo Moos wuchert und alle paar Meter ein umgestürzter Baum liegt. „Die ist schon fast vollständig von Pilzen bedeckt, bald wird sie verschwunden sein“, sagt er – mit einer Gelassenheit, die so gut in diese Gegend passt.

Denn so war es hier, im weißrussischen Berezinsky Reservat, etwa 100 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Minsk, schon immer: Die Dinge kommen – und sie gehen wieder. Was bleibt, ist einzig die Natur der Südtaiga, sind Wälder, Sümpfe, Seen – und natürlich die Berezina, jener Fluss, der sich im Zickzack durch die Landschaft schlängelt und dem Park seinen Namen gibt. Als Anfang der 40er Jahre die Wehrmacht auf ihrem Weg Richtung Moskau in den Dörfern der Umgebung wütete, kämpften die Partisanen in diesem urwüchsigen Terrain, gruben Höhlen und hausten in ihnen. Die deutschen Soldaten kamen – aber am Ende verschwanden auch sie wieder.

„Hier gibt es viele Stellen, auf die noch nie ein Mensch einen Fuß gesetzt hat“, sagt Fremdenführer Viktor. „Große Teile des Berezinsky Parks befinden sich unter der Herrschaft von Bären, Bisons und Luchsen.“ 336 Tierarten, auch Elche und Biber, haben Biologen in dem Reservat gezählt – und mehr als 2000 verschiedene Pflanzen, darunter 463 Pilzarten. „Viele sind anderswo vom Aussterben bedroht“, sagt Viktor.

Im Zentrum des Berezinsky bleibt die Natur heute komplett sich selbst überlassen. Über 85 000 Hektar umfasst das Reservat insgesamt. Das ist so groß wie Berlin. Schon 1925 stellte die Sowjetunion, zu der Weißrussland damals gehörte, das Gebiet unter Naturschutz, seit 1979 ist es offiziell internationales Biosphärenreservat – eine Attraktion für alle, die suchen, was es in Europa kaum mehr gibt und schon gar nicht in dieser Größe und mit dieser Artenvielfalt: wahrhaft unberührte Landschaft.

Touristen trifft man hier selten. Doch die weißrussische Regierung hat erkannt, dass man mit dieser Ursprünglichkeit Besucher ins Land locken kann. Ein Drittel der weißrussischen Fahne ist grün, so wie ein Drittel des Landes von Wald bedeckt wird – darauf verweisen hier viele stolz. Und auch im Westen Weißrusslands gibt es ein riesiges Naturschutzgebiet: Der Nationalpark Beloweshskaja Pustscha ist genauso urwüchsig wie der im Osten gelegene Berezinsky, aber sogar noch größer. Er erstreckt sich, über die Grenze hinweg, bis ins Nachbarland Polen.

In den Städten hat der Zweite Weltkrieg, bei dem ein Viertel der weißrussischen Bevölkerung starb, Narben hinterlassen. Das Stadtbild von Minsk wird heute von stalinistischen Boulevards und Plattenbauten dominiert. Ähnlich ist es auch in Wizebsk, einer Stadt mit 340 000 Einwohnern in der Nähe des Berezinsky Reservats. Dort hat man sich nach der Perestroika daran erinnert, Heimatort von Marc Chagall zu sein. „Zu Sowjetzeiten galt er offiziell als französischer Maler. Denn er war Emigrant, Jude und außerdem hat er nicht im Stil des sozialistischen Realismus gemalt“, erzählt Ludmila Khmelnitskaya, Direktorin des Chagall-Museums bei einem Rundgang durchs Haus, an dessen Wänden Fotos aus der Jugendzeit des Malers hängen. Das Museum aus rotem Klinkerstein wirkt innen wie ein Wohnhaus vom Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Küche stehen Teller und Teekessel auf den Regalen. „Wir haben das alles mithilfe von Chagalls Erinnerungen rekonstruiert“, sagt Khmelnitskaya. Denn das Elternhaus des Malers wurde – wie so vieles – größtenteils im Krieg zerstört.

Überall im Land erinnern Mahnmale und Plakate an den „Großen Vaterländischen Krieg“, die Opfer und den Sieg über Nazi-Deutschland, der am Ende errungen werden konnte. Auffällig ist auch die irritierende Kombination aus prachtvoll restaurierten orthodoxen Kirchen und überlebensgroßen Lenin-Statuen, die man häufig sieht.

Präsident Alexander Lukaschenko, oft als „letzter Diktator Europas“ bezeichnet, hat sich nur halbherzig vom sowjetischen Erbe verabschiedet. Er ist schon seit 1994 an der Macht und verfolgt die Opposition erbarmungslos. Im Jahr 2004 ließ Lukaschenko per Volksabstimmung die Verfassung ändern, um ein drittes Mal für das Präsidentenamt kandidieren zu können. Bei seiner Wiederwahl zwei Jahre später soll es nach Meinung der USA und der EU nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.

Doch das autoritär geführte Regime muss nicht gegen einen Besuch in Weißrussland sprechen. Wer in einem privat geführten Restaurant isst oder in einem nicht-staatlichen Gästehaus unterkommt, unterstützt vor allem die Besitzer. Wichtiger noch ist, dass die Menschen sehr interessiert am Kontakt mit Westlern zu sein scheinen. In Wizebsk etwa fragt eine blonde Frau im geblümten Rock freudestrahlend: „Kann mein Sohn ein wenig Englisch mit Ihnen üben? Es passiert nicht oft, dass wir bei uns Ausländer treffen.“

Das Land funktioniert zwar größtenteils noch nach den Regeln der Planwirtschaft, in Minsk haben aber längst McDonald’s-Restaurants eröffnet, und im ganzen Land verkaufen die Läden westliche Produkte. Wer will, kann sich zum Beispiel auch einen Mietwagen leihen. Dennoch ist der touristische Standard eher niedrig – gerade von den Hotels sollte man nicht zuviel erwarten: In einem funktioniert der Fahrstuhl nicht und man muss in den fünften Stock laufen, in einem anderen fehlen Vorhänge an den Fenstern.

Im Berezinsky Reservat kann man für die Unterkunft Holzhäuser mieten, die im traditionellen Stil errichtet wurden – oft mitten im Wald oder am Ufer traumhafter Seen. Das zentrale Serguch Hotel ist dagegen ein schmuckloser Betonneubau, der sich dafür aber gleich neben dem parkeigenen Naturkundemuseum befindet. Von dort starten auch die Touren mit Fremdenführer Viktor Rovdo. Die mehrstündige Wanderung kostet umgerechnet neun Euro und bietet eine Einführung in Flora und Fauna. Es gibt auch Touren mit Experten für Ornithologie – schließlich leben 230 unterschiedliche Vogelarten im Berezinsky, darunter seltene wie Schwarzstörche, Seeadler, Auerhähne und Eisvögel.

„Ins Kerngebiet des Reservats dürfen Besucher nur mit einem Führer“, erklärt Viktor. „Dort ist auch die Jagd und das Abholzen von Bäumen verboten.“ An den Parkgrenzen gibt es jedoch zwei abgesteckte Gebiete, in denen Hirsche oder Wildschweine gschossen werden dürfen.

Den Wildtieren des Parks, die tief in den Wäldern frei leben, kommt man entweder auf speziellen „wildlife tours“ näher. Oder in dem kleinen Zoo, in den Viktor die Besucher zu Beginn seiner Tour führt. In einem Gehege sitzt ein Wolfspaar mit seinen beiden Jungen, im Käfig nebenan hockt Masha, ein 27 Jahre alter Braunbär (einer von 30 im Reservat), der sich von dem Fremdenführer durch die Gitterstangen mit Kaugummis füttern lässt. Viktor scheint gut mit den Tieren auszukommen. „Ja, manchmal sogar mehr als das“, sagt er. „Ein Schwan hier glaubt, ich sei sein Partner. Er verhält sich, nun ja, interessant.“

Dabei arbeitet Viktor erst seit ein paar Monaten im Park. Eigentlich stamme er aus der Nähe von Minsk und sei Theaterregisseur. „Mit ein paar Schauspielern bereite ich gerade ein Stück vor, das ich draußen im Park aufführen möchte“, erzählt er – und gibt dann eine Kostprobe. Auf einem Steg inmitten von Sumpfland, aus dem kniehohe Birken ragen, stellt er den Zyklus des Lebens dar: Er geht in die Knie, rankt sich wie eine Pflanze nach oben, zeigt pantomimisch, wie sich zwei Menschen lieben, wie ein Kind geboren wird, wie es wächst, wie es sich in einen Erwachsenen und schließlich in einen Greis verwandelt. Dann sinkt er in sich zusammen – und das kleine Stück endet, wie es begann. „Mit jedem Tag hier spüre ich mehr, dass ich ein Teil der Natur bin“, sagt er.

Und dann fährt Viktor seine Besucher zu einem See, der in der Nachmittagssonne glänzt. Obwohl so groß wie der Wannsee, ist er beinahe menschenleer. Auf einem Steg verspeist eine Familie ihre mitgebrachten Brote, der Vater in kurzen Hosen und einer Militaryjacke grüßt: „Strastwuitje!“ Im Schilf singt ein Drosselrohrsänger. Viktor steigt voran ins Boot, befestigt einen Wurm am Haken und wirft die Angel aus. Ein Seeadler fliegt krächzend übers Wasser. Viktor lehnt sich im Boot zurück und schaut in die Ferne. Und dann ist es still, ganz und gar still.

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