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Neue, alte Heimat. Eine Innenansichten aus dem Haus der Familie Tucholski.

© Barbara Camilla Tucholski

Zuhause: Rückkehr ins Luftschloss

Von Ost nach West floh die Familie Tucholski, die kleine Barbara träumte jahrelang vom Haus ihrer Kindheit. Als sie heimkehrte nach Vorpommern, schuf die Künstlerin ein Museum für ihre Erinnerungen.

Stand:

Wer in Loitz ein Schloss sucht, wird enttäuscht. Da ist kein Schloss. Da ist nur eine graue Hausfassade, die man hässlich nennen müsste, wenn es hinter ihr nicht so schön wäre. Barbara Camilla Tucholski öffnet die Tür, eine jung gebliebene Frau in den Sechzigern, sie breitet die Arme aus und sagt: „Willkommen im Schloss meiner Erinnerung!“

Loitz liegt an der Peene, ungefähr da, wo sich die Landstriche Mecklenburg und Vorpommern zum silbenreichsten Bundesland der Republik verbünden. Außerhalb von Loitz weiß man wenig über Loitz, meist nicht einmal, dass es „Lötz“ heißt, mit langem „ö“, die 4000 Einwohner legen Wert darauf. Es gibt eine schicke, EU-sanierte Hafenmole in Loitz und sonst nicht viel. Früher stand hier noch ein Schloss, das sehr groß gewesen sein soll, größer sogar als das Schloss in der Landeshauptstadt Schwerin, auch darauf legt man Wert als Loitzer. Das Schloss schleiften dann leider die Schweden.

Barbara Camilla Tucholski, bildende Künstlerin, geboren in Loitz und trotz abweichendem Endvokal weitläufig verwandt mit Kurt Tucholsky, besuchte einst nach langer Abwesenheit das Städtchen, in dem ihre Kindheit begonnen und geendet hatte. Sie suchte ein Schloss und fand keins, obwohl sie schwören konnte, dass da eins sein musste – als Kind hatte sie doch darin gelebt! Kann nicht sein, sagten die Loitzer – Schloss gibt’s hier keins, schon drei Jahrhunderte nicht mehr. Nun war Frau Tucholski zwar lange weg gewesen, aber so lange nun auch nicht. Was also war das für ein Schloss in ihrem Kopf?

Rückblende. 1953. Barbara ist sechs und ihr Papa der König von Loitz. Herr Tucholski, gelernter Konditor, geborener Gastwirt, begnadeter Unterhalter, betreibt Loitzens angesagtestes Tanzlokal. Das Haus, in dem die Familie auch wohnt, ist weitläufig: eine Gaststätte, mehrere Fremdenzimmer, ein riesiger Ballsaal. Das Städtchen ist voller Ausflügler, selbst von Berlin her zieht es die Menschen an die Peene, wo man rudern und reiten und tanzen kann, Letzteres vorzugsweise bei Tucholskis. Der Patron ist ein einfallsreicher Mann, er holt die große weite Welt ins kleine Loitz, veranstaltet Petersburger Schlittenfahrten, Hawaii-Bälle, andalusische Nächte. „Damals“, flüstert Frau Tucholski verschwörerisch, „nannte man Loitz gerne Klein-Paris.“

In ihrer Erinnerung ist die Kindheit ein einziges Fest, voller Stimmengewirr und Gläsergeklirr. Still war das Haus nur, wenn Barbara morgens früh nach einem Tanzvergnügen erwachte, alle anderen schliefen dann noch, nur ein Mädchen und sein Hündchen stromerten durch den verwaisten Ballsaal, beschnupperten Sektgläser, jagten Luftballons übers Parkett, spielten Tauziehen mit Girlanden.

All das endete 1953. Da bekam der Vater Wind davon, dass den Gastwirten der umliegenden Städte ihre Lokale abgenommen wurden, der Deutsche Gewerkschaftsbund requirierte Ferienheime für erholungsbedürftige Arbeiter und Bauern. Herr Tucholski rechnete sich schlechte Chancen aus. Sein Vater hatte noch den Titel „Kaiserlicher Hof- und Küchenkünstler“ geführt, er kam aus guter Familie, oder aus schlechter, je nach Klassenstandpunkt. Herr Tucholski beschloss, lieber freiwillig das Feld zu räumen. Nach einer letzten Ballnacht schleuste er seine Familie über Berlin in die BRD, erst dort eröffnete er dem Töchterchen, dass kein Weg zurück nach Loitz führte. Barbara weinte mehr Tränen, als Tropfen in die Peene passen. „Schnappi!“, schluchzte sie. Ihr Hündchen war daheim geblieben. Sie sah es nie wieder.

Nie? Nun ja, im Traum natürlich schon. Während die Tucholskis von Berlin über Emden, Hamburg, Bocholt und Gelsenkirchen nach Lünen in Westfalen drifteten und Barbara acht Mal die Schule wechselte, träumte sie von Loitz. Oder von dem, was sie mit der Zeit dafür hielt. Unter den mitgenommenen Familienhabseligkeiten war eine alte, gezeichnete Postkarte, auf der sich das alte, von den Schweden zerstörte Schloss über der Stadtsilhouette erhob. In Barbaras Traumwelt verschmolz das Postkartenschloss allmählich mit dem elterlichen Tanzlokal, in dessen Sälen sie nachts nach Schnappi suchte. Einmal begegnete ihr im Traum eine Königin, die wohnte im Schloss, wie Königinnen es tun. Majestät, hörte Barbara sich fragen – euer Schloss ist so groß, könnt ihr nicht mein Hündchen bei euch aufnehmen? Die Königin nickte huldvoll. Schnappi hatte ein neues Zuhause. Die Träume hörten auf.

So also kam es, dass Barbara Tucholski eines Tages in Loitz ein Schloss suchte, das es gar nicht gab. Die Enttäuschung verflog schnell, als sie das elterliche Haus betrat und die Zimmerfluchten ihrer Kindheitsträume erkannte. Frau Tucholski schritt durch das Haus, das jahrzehntelang als Mädchenpensionat eines benachbarten Internats genutzt worden war, sie klopfte auf Sperrholzmöbel, streichelte Synthetikgardinen. Unter einer dicken Schicht Realsozialismus spürte sie die Textur ihrer Kindheit, es war alles noch da: die gefleckten Tapeten im Ballsaal, im Flur der Kreis an der Decke, wo die alte Lampe gewesen war, darunter ein Fußboden wie aus geflochtenen Steinen, im Garten die Pappeln, deren Blätter das Sonnenlicht siebten.

Es fügte sich, dass das Haus nach all den Jahren immer noch im Besitz der Familie war, eine Tante des Vaters war in Loitz geblieben, sie hatte die Gaststätte notgedrungen vermietet, aber nie aufgegeben. Als Barbara Camilla Tucholski nach der Wende Loitz besuchte, war das Mädchenpensionat aufgelöst, das Haus ungenutzt. Die Künstlerin widmete es um, sie machte es zum „Schloss ihrer Erinnerung“. Die Spanplattenmöbel ließ sie stehen, die Synthetikgardinen hängen. Dazwischen aber fügte sie kleine Fremdkörper ein, die wie Schnitzeljagdspuren von den ehemaligen Bewohnern des Hauses erzählen. Im Muster der Tapeten verbergen sich jetzt Kindheitsfotos der kleinen Barbara, an den Wänden hängen perspektivisch verzerrte Zimmeransichten, die den Innenraum so spiegeln, wie ein Kind ihn sehen könnte.

Zusammen mit ihrem Bruder Peter, ebenfalls Künstler, hat Frau Tucholski in Loitz einen Kunstverein gegründet, der gleich neben dem örtlichen Discounter residiert, in einer riesigen Halle werden dort Werke ostdeutscher Künstler ausgestellt. Die Tucholskis riefen außerdem ein zweijährig stattfindendes Kunstfestival ins Leben, die „Peeneaale“, geschrieben mit zwei „a“, weil in der Peene Aale schwimmen. Wenn die Aale zum Laichen an ihren Geburtsort zurückkehren, legen sie Hunderte von Kilometern zurück, „das kam mir vertraut vor“, sagt lächelnd Frau Tucholski, die zum Lächeln allen Grund hat. Sie hat ein Luftschloss verloren und ein Luftschloss gewonnen. Die Summe ist null, sie ist quitt mit der Welt.

Im Rahmen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern spielt am Donnerstag, 4. 8., um 19.30 Uhr der Violinist Daniel Hope mit dem David Orlowsky Trio im Ballsaal Tucholski, Lange Straße 41, Loitz. Näheres unter www.festspiele-mv.de sowie www.ballsaal-tucholski.de.

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