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Sexualisierte Gewalt gegen Frauen: Wenn die Beweise fehlen und nur das Trauma bleibt
Vor Gericht haben Betroffene meist keine Chance. Hier berichten drei Frauen über den Umgang mit einem Verbrechen, das oft fast unmöglich nachzuweisen ist.
Stand:
Warnung: Dieser Text enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt, die retraumatisierend wirken können.
Sarina, 34, Sozialpädagogin
„Als wir uns kennengelernt haben, war ich 14 und wurde in der Schule gemobbt. Er war 15 und sehr beliebt. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, ich sei nicht gut genug und müsse alles tun, damit er mich nicht verlässt, weil ich sonst niemand anderen mehr finden würde. Er selbst hat das auch gesagt und gemeint, er könne ja jede haben. Wenn ich nicht gemacht habe, was er wollte, hat er mich angemotzt oder wochenlang ignoriert. Meinen Freund:innen sollte ich nichts von unseren Problemen erzählen.
Als ich 24 war, sind wir zusammengezogen, als ich 25 war, haben wir geheiratet. Ich wollte ihn damit an mich binden. Etwa um diese Zeit müssen die Vergewaltigungen begonnen haben. Wir hatten keine Romantik, haben uns nie geküsst, hatten keine Dates. Wir haben zusammengewohnt, gegessen und uns gestritten. Aber abends, als wir schlafen gingen, wusste ich immer, er will Sex. Spätestens, wenn zwei, maximal drei Tage um waren, ging es wieder los.
Wenn ich gesagt habe, ich möchte nicht, hat er mich so lange gedrängt, bis ich aufgegeben und es über mich ergehen lassen habe. Ich habe mich in die Bettdecke so eingerollt, dass er nicht gut an mich rankommt, aber er hat mich trotzdem nicht schlafen lassen. Hat mich an den Brüsten berührt und zwischen den Beinen. Hat mir auch gesagt: „Wenn du jetzt nicht mit mir schläfst, schlaf ich mit einer anderen.“ Er hat mich nie geschlagen, aber seine Stimme wurde immer aggressiver. Mein Körper war wie gelähmt. Ich hatte Angst. Ich habe meistens nachgegeben, meinen Kopf zur Seite gedreht – und habe versucht, an etwas anderes zu denken, bis es vorbei ist.
An den Abenden, wo ich mutig war, habe ich gesagt: „Nein, ich will das nicht. Bitte hör auf. Lass mich.“ Er hat es ignoriert. Ich glaube, ich habe auch mal versucht, ihn mit der Hand wegzustoßen, wahrscheinlich hat er das gar nicht bemerkt. Ich habe immer wieder geweint dabei, weil es so schlimm war für mich und auch, weil ich solche Schmerzen hatte. Da hat er mir ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, um mein weinendes Gesicht nicht sehen zu müssen – und weitergemacht.“
7.723 Frauen wurden 2020 in Deutschland vergewaltigt. 688 allein in Berlin. So steht es in der Polizeilichen Kriminalstatistik – aber mit der Realität hat das wenig zu tun. Die Zahlen bilden lediglich die bei der Polizei erfassten Straftaten ab. Das Hellfeld. Aus Mangel an Beweisen zeigen aber nur fünf bis 15 Prozent der Betroffenen die Taten an. Von hundert Frauen, die vergewaltigt werden, erlebt nur etwa eine einzige eine Verurteilung.
Viele sprechen nicht einmal über das, was ihnen passiert ist. Auch Sarina hat das lange nicht getan. Diese Frauen tauchen in keiner Statistik auf, aber leiden oft jahrzehntelang unter traumatischen Folgen. In Deutschland ist jede dritte Frau von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen – und die Zahlen gehen nicht zurück. Es ist ein bekanntes Phänomen und eines der größten strukturellen Probleme in unserer Gesellschaft.
Doch noch immer denken die meisten Menschen, in ihrem Umfeld passiere das nicht – und liegen damit falsch. Sexualisierte Gewalt gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass jede:r im eigenen Freundeskreis Betroffene hat, ist sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass man davon weiß, weil die Betroffene davon erzählt, eher gering.
Je näher sich Täter und Opfer sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass das Opfer darüber spricht oder sogar den Täter anzeigt
Monika Schröttle, Sozialwissenschaftlerin
Deshalb, um das Unverständliche verständlich zu machen, schreiben wir hier die Erlebnisse von Sarina, Lena und Hanna auf. Ihre Namen haben wir geändert. Ihre Geschichten sind echt. Und sie sind keine Einzelfälle.
Vergewaltigungen passieren vor allem im Nahfeld, das heißt Täter und Opfer kennen sich. Es ist der Onkel, der Trainer, in den meisten Fällen der eigene Partner oder Expartner. „Je näher sich Täter und Opfer sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass das Opfer darüber spricht oder sogar den Täter anzeigt“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle, die seit vielen Jahren Studien zu Gewalt gegen Frauen durchführt.
Gerade dadurch, dass sie den Täter kennen und der vielleicht auch noch vom Umfeld gekannt und respektiert wird, seien Betroffene oft verschämt und verunsichert. „Das macht es für sie viel schwieriger, die Erfahrungen als Verbrechen einzuordnen, als wenn es der plötzliche Übergriff eines Fremden ist“, sagt Schröttle.
Sarina hat mehrere Jahre gebraucht, um ihren Mann zu verlassen und auszuziehen.
Sarina
„Ich bin erst für drei Monate zu meinen Eltern gegangen und danach in eine eigene Wohnung gezogen. Da kam der Zusammenbruch. Es war ein Sonntagabend und ich war gerade dabei, den Boden in meiner Wohnung zu wischen. Mein Ex-Mann hatte sich auch darüber beschwert, ich würde das nicht gut genug machen. In diesem Moment dachte ich mir: „Wen interessiert es denn jetzt, ob der Boden sauber ist? Das ist doch meine Sache.“ Ich bin zusammengebrochen, konnte nicht mehr aufstehen und habe nur noch geweint. Am nächsten Morgen, als ich zur Arbeit gehen wollte, kam ich nicht aus dem Bett.
Ich bin zu meiner Hausärztin gefahren, die mich insgesamt vier Monate lang krankgeschrieben hat. Zwei Mal habe ich bei der Rentenversicherung eine Kostenübernahme für eine stationäre Therapie beantragt, zwei Mal wurde ich abgelehnt, mit der Begründung, mein Fall sei nicht schlimm genug. Dabei hatte ich durch die Vergewaltigungen eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, die zu dieser Zeit immer wieder zu Panikattacken, Flashbacks und depressiven Stimmungen führte.
Bei Panikattacken zu Hause bekam ich oft heftiges Nasenbluten und hatte Heulkrämpfe. Meistens habe ich mich dann in den Türrahmen auf den Boden gesetzt, um mich mit den Beinen gegen die Wand zu drücken und mit diesem Druck meinen Körper wieder zu spüren. Am schlimmsten war für mich der Kontrollverlust, dass ich mich habe bestimmen lassen und es nicht geschafft habe, mich zu wehren. Noch immer kann ich mit Kontrollverlust und Ungerechtigkeit nur schwer umgehen.
Heute geht es mir besser. Mit meinem Ex-Mann habe ich seit dem Auszug keinen Kontakt mehr und er hat auch keine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Als ich die Scheidung einreichte, hat mein Anwalt mir davon abgeraten, ihn anzuzeigen, weil ich sowieso verlieren würde und die psychische Belastung sehr hoch sei. Der Gedanke, vor Gericht zu verlieren und damit bestätigt zu bekommen, dass man mir nicht glaubt, dass er mich vergewaltigt hat, ist für mich zu schlimm.“
Betroffene Frauen wissen, wie schlecht ihre Chancen vor Gericht sind. Dort steht am Ende oft Aussage gegen Aussage und entschieden wird im Zweifel für den Angeklagten. Die Berliner Strafrechtsanwältin Christina Clemm schreibt in ihrem Buch „AktenEinsicht“, die meisten Betroffenen würden erst dann reden – und vermutlich eine Anzeige in Betracht ziehen –, wenn der Leidensdruck zu groß würde. Wenn sie Angst um ihr Leben hätten, ihre Kinder schützen wollten oder verhindern wollten, dass andere Frauen geschädigt werden.
Ab dem Gang zur Polizei müssen die Frauen davon ausgehen, dass sie in Situationen geraten, die für sie retraumatisierend sein können und damit der Heilung im Weg stehen
Carola Klein, Beratungsstelle LARA
Bei LARA, der Berliner Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen, wird Betroffenen weder zu einer Anzeige geraten noch davon abgeraten. Aber sie werden in jedem Fall darüber informiert, welche Folgen dieser Schritt für sie haben kann. „Ab dem Gang zur Polizei müssen die Frauen davon ausgehen, dass sie in Situationen geraten, die für sie retraumatisierend sein können und damit der Heilung im Weg stehen“, sagt Carola Klein, die bei LARA für Beratung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist.
Bei der Polizei kann es vorkommen, dass Polizist:innen, die die Anzeige aufnehmen, nicht für das Thema sensibilisiert sind. Betroffene hören dann Sätze wie: „Na ja, aber es war ja ihr Partner, mit dem sie zusammenwohnen, und er hat keine Gewalt angewendet. Dann kann es ja nicht so schlimm gewesen sein.“ Selbst wenn die Betroffenen dort gute Erfahrungen machen, ist die Situation für viele belastend. Denn in mehr als der Hälfte der Fälle wird das Verfahren mehrere Monate nach der Anzeige eingestellt.
Lena, 33, Angestellte
„Ich habe lange mit mir gehadert, weil ich seinen guten Ruf nicht kaputt machen wollte. Er hat doch Kinder. Aber drei Monate nach der Tat habe ich ihn angezeigt. Ein halbes Jahr lang geschah nichts. Dann bekam ich einen Brief, dass das Verfahren eingestellt wurde, weil es keine Beweise gibt und ich Erinnerungslücken habe. Meine Anwältin hat Einspruch eingelegt. Daraufhin wurden meine beiden Freund:innen, die an dem Abend dabei waren, als Zeug:innen befragt. Da sie von der Tat nichts mitbekommen hatten, wurde das Verfahren zum zweiten Mal eingestellt. Zu keinem Zeitpunkt musste der Täter bei der Polizei aussagen. Das ist so frustrierend.
Ein paar Monate vor der Tat hatten wir kurz mal was miteinander, aber ich habe für mich nach ein paar Wochen gemerkt, dass es nicht passt. Ich war 31, er Mitte 40 und der Barkeeper der Bar, zu der ich mit meinen Freund:innen oft nach dem Sport gegangen bin. Nach einem schönen und langen Abend mit Freund:innen in der Bar waren er und ich allein, weil ich noch bezahlen musste, und ich habe mich schon nicht mehr gut gefühlt. Das Letzte, woran ich mich klar erinnern kann, ist, dass ich ihm die Scheine auf den Tisch gelegt habe.
Ich weiß nicht, was in den Stunden danach passiert ist. Ich erinnere nur einzelne Bilder von Momenten, in denen ich die Situation realisiert habe, aber nicht mehr reagieren konnte. Ich habe ein verschwommenes Bild davon, wie er mir die Schuhe auszieht. Ein anderes, wie ich an einem Tisch lehne, er sich über mich beugt und mich küsst. Ich glaube, dass wir Sex hatten, aber ich war nicht mehr dabei. Ich war in einem dunklen Loch. Ich war erst wieder bei vollem Bewusstsein, als ich nach ein paar Stunden die Bar verlassen habe.
Zu Hause war mir unfassbar schlecht und ich hatte starke Kopfschmerzen. Ich dachte, das lag am Alkohol. Zwei Tage später habe ich ihm geschrieben, was das in der Nacht gewesen sei, und er meinte, etwas umständlich formuliert, dass wir Sex hatten und dass ich mehrmals eingeschlafen sei.
Ich kann nicht beweisen, dass das K.-o.-Tropfen waren, da ich es zu spät realisiert habe, um es noch nachweisen lassen zu können. Ich bin mir sehr sicher, wegen meiner körperlichen und psychischen Folgen. Aber dass ich nie hundert Prozent sicher sein kann, macht es noch schlimmer. Ich habe immer wieder Zweifel und gebe mir selbst die Schuld, weil ich getrunken hatte. Der Gedanke, dass ich etwas im Getränk hatte und er mich damit auch hätte umbringen können, macht mich fertig.“
Da bei Lena, wie bei so vielen anderen auch, das Verfahren eingestellt wurde, kam es nie zu einer Gerichtsverhandlung. In den Fällen, wo es dazu kommt, müssen Betroffene oft stundenlang die intimsten Fragen beantworten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie vor mehreren Menschen erklären müssen, welche Sexualpraktiken sie normalerweise ausleben und wann der Täter bei der Tat welche Stelle wie berührt hat.
Die Prozesse ziehen sich oft über mehrere Jahre und nur etwa zehn Prozent der Angeklagten werden verurteilt. „Die Regel ist, dass anzeigenden Frauen nicht geglaubt wird, dass sie einen Spießrutenlauf vor sich haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende eines Verfahrens ein weiteres Mal Missachtung erfahren haben, leider größer ist, als dass am Ende ein Vergewaltiger angemessen bestraft wird“, schreibt die Anwältin Christina Clemm.
Es gibt zu wenig Wissen über das Ausmaß, Täterstrukturen, Traumatisierung und sonstige Folgen der Taten
Christina Clemm, Strafrechtsanwältin
Ganz ersparen könne man den Prozess den Betroffenen nicht. Wichtig sei aber, die Verfahren schneller zu beenden. „Wir bräuchten viel mehr Kapazitäten dafür bei den Ermittlungsbehörden und in der Justiz und bessere Ausbildung und Fortbildung. Es gibt zu wenig Wissen über das Ausmaß, Täterstrukturen, Traumatisierung und sonstige Folgen der Taten.“
Da nur eine von hundert Frauen eine Verurteilung erlebt, fehlt anderen Betroffenen eine Anerkennung ihres Leides. Viele denken, sie hätten nicht das Recht, darüber zu sprechen, und holen sich deshalb erst nach mehreren Jahren Leidensdruck Hilfe. Dabei wäre es gut, wenn sie innerhalb weniger Wochen qualifizierte niedrigschwellige Unterstützung bekommen, sagt Carola Klein von der Beratungsstelle LARA. Dadurch ließe sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) am einfachsten vermeiden. Denn diese könne entstehen, wenn der erlebte Übergriff nicht richtig eingeordnet und als traumatisches Erlebnis im Notfallsystem des Gehirns abgespeichert wird.
Lena
„Mein ganzes Leben hat sich verändert. Ich war vorher furchtlos, offen, habe meine Hobbys geliebt. In den Wochen nach der Tat war ich wie in einer Schwebe. Auf Fotos sehe ich teilnahmslos aus. Als hätte ich meine Identität verloren. Heute versuche ich nur noch zu funktionieren, bin emotional abgestumpft. Ich weine nicht mehr. Ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung, Schlafstörungen und Depressionen. Da ich keinen Therapieplatz finde, nehme ich Antidepressiva, um funktionieren zu können.
Ich habe psychosomatische Folgen wie starke Schmerzen in den Händen, die von der inneren Anspannung kommen, und Tinnitus. Den Sport habe ich aufgegeben. Es gibt Tage, an denen ist mir schon der Abwasch zu viel. Vorm Schlafengehen schaue ich unterm Bett und in meinem Schrank, ob da jemand ist. Es macht mich wütend, dass der Täter damit so lange nach der Tat immer noch über meinen Körper bestimmt.“
Eine PTBS kann für Betroffene sehr belastend sein, während sie von außen kaum zu sehen ist. Die Frauen kämpfen einen inneren Kampf gegen sich selbst. Dabei kann die PTBS unter anderem durch Traumatherapien sehr gut behandelt werden. Doch hier ist schon das nächste Problem. Zwar übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für eine entsprechende Psychotherapie – aber einen Platz zu finden, ist fast unmöglich.
Opfer telefonieren sich oft monatelang durch zahlreiche Listen von Psychotherapeut:innen, nur um immer wieder zu hören, es gebe keine Kapazitäten und auch keine Wartelistenplätze mehr. Das führt dazu, dass selbst manche der bemühtesten Betroffenen irgendwann aufgeben.
Die Folgen für Betroffene sind weniger schlimm, wenn sie frühzeitig über das Erlebte sprechen und Unterstützung erfahren. Damit das passiert, braucht es aber ein gesellschaftliches Klima, in dem sie sich sicher fühlen, von ihren Erlebnissen zu berichten. Bei dem sie davon ausgehen können, dass ihnen geglaubt wird. Und dazu kann jede:r Einzelne beitragen.
Es ist gut, wenn Männer zeigen, dass sie darüber nachdenken, sich selbst hinterfragen und ihren eigenen Standpunkt verändern
Monika Schröttle, Sozialwissenschaftlerin
Betroffene müssen sich im Freundeskreis und am Arbeitsplatz schon bei vermeintlichen Kleinigkeiten ernst genommen fühlen. Sie brauchen Menschen, egal ob Männer oder Frauen, die zuhören und empathisch und sensibel reagieren, ohne nachzubohren. Auch dann, wenn sie das Ausmaß der Situation nicht verstehen können.
Die Expertin Monika Schröttle sagt: „Es ist gut, wenn Männer zeigen, dass sie darüber nachdenken, sich selbst hinterfragen und ihren eigenen Standpunkt verändern. Es hilft, wenn Frauen sich untereinander und auch mit Männern über das austauschen, was sie an sexueller Belästigung oder auch schlimmeren Übergriffen erlebt haben, und sie sich gemeinsam für neue gewaltfreie Geschlechterbeziehungen einsetzen.“
Oft sei es so, dass wenn eine Frau zu erzählen beginne, andere plötzlich auch berichten oder erst realisieren, was sie selbst erlebt haben und vielleicht noch verarbeiten müssen. Aber sie werden sich nur öffnen, wenn sie davon ausgehen können, dass sie sich nicht im Umfeld oder in den Medien dafür rechtfertigen müssen, was sie am Tattag anhatten oder wie gut sie den Täter kannten.
Leider erleben Betroffene statt Solidarität häufig „Victim Blaming“. Wird etwa ein prominenter Fall sexualisierter Gewalt bekannt, wird in den (sozialen) Medien oft dem Opfer unterstellt, es wolle nur von den Anschuldigungen profitieren. Dabei sind Falschbeschuldigungen in Deutschland strafbar. Die Anwältin Christina Clemm schreibt, tatsächlich gebe es keine wissenschaftlich fundierten Zahlen, die beweisen, dass Frauen überproportional Sexualdelikte oder Partnerschaftsgewalt falsch anzeigen. „Es gibt kaum einen anderen Deliktsbereich, in dem auf die ein oder andere Weise den Opfern direkt oder indirekt eine Mitschuld für die Tat zugeschrieben wird“, schreibt sie.
Bei Hanna war das Victim Blaming besonders schlimm, weil der Täter das Umfeld manipulierte. Auch dieses Täterverhalten ist kein Einzelfall.
Hanna, 35, arbeitssuchend
„An einem Wochenende sind wir für ein wichtiges Turnier mit der Prellball-Mannschaft in einen anderen Ort gefahren. Das ging zwei Tage lang und wir haben in Schlafsäcken in der Sporthalle übernachtet. Auf der einen Seite die Spieler:innen, auf der anderen die Trainer:innen. In der einen Nacht hat unser Hilfstrainer meinen Schlafsack gepackt und mich in dem Schlafsack auf die Trainerseite gezogen. Das haben Leute gesehen, aber niemand hat was gesagt. Er war etwa 28, ich 13. Als ich auf der Seite der Trainer:innen lag, hat er angefangen, in meinen Schlafsack reinzufassen und mich zu berühren. Ich habe ihm gesagt, dass mir das unangenehm ist, bin aufgestanden und aus der Halle rausgerannt. Aber er kam mir hinterher.
Vor der Halle hat er mich festgehalten und gewürgt. Es war zehn Uhr abends, stockdunkel, keine anderen Menschen mehr draußen. Er hat mich in die Dusche der Sporthalle gezerrt und dort vergewaltigt.
Am nächsten Tag konnte ich nicht mehr essen, kaum sprechen, habe nur noch geweint. Ich konnte mich im Spiel nicht mehr konzentrieren, habe einen Ball ins Gesicht bekommen. Alle haben gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Aber niemand hat gefragt. Der Haupttrainer, ein etwa 45-jähriger Mann, meinte nur zu mir, ich müsse an diesem wichtigen Spieltag nicht spielen.
Nach dem Turnier hat der Täter mich nach Hause gefahren. Er hat mich extra zur Tür gebracht, um sich noch nett mit meiner Mutter zu unterhalten. Er ist ein guter Schauspieler. Meine Mutter sagt, als ich dort ankam, hätte ich die Sportsachen in die Ecke geworfen und eine halbe Stunde lang geduscht. Sie sagt auch, als ich dort ankam, sah ich aus, als wäre jemand gestorben.
Es ist auch etwas in mir gestorben, denn ab diesem Tag war ich eine andere Person. Ich habe kaum noch gelacht oder geweint, ich habe nicht mehr gekämpft. Ich war nur noch da. Ich konnte nicht mehr schlafen, weil ich Albträume hatte, nicht mehr zur Schule gehen, weil ich Panikattacken bekam. Ich habe keine Freundinnen mehr getroffen, bin wegen Kleinigkeiten ausgerastet. Ich musste vom Gymnasium auf die Hauptschule wechseln. Meine Mutter sagt, ich sei wie ein Geist gewesen.
Erst nach einem Jahr habe ich mich meinen Eltern anvertraut. Ich glaube, sie sind daran zerbrochen, dass sie mich nicht beschützen konnten. Mein Vater hat nur noch wenig geredet, meine Mutter ist fast verzweifelt. Sie ist mit mir zum Psychologen gegangen, aber der konnte mir nicht helfen. Posttraumatische Belastungsstörungen waren damals noch nicht so bekannt, schon gar nicht in unserem kleinen Dorf. Außerdem haben wir uns an einen Frauenhilfeverein gewandt und eine Anzeige aufgegeben. Aber damit wurde alles nur noch schlimmer.
Dadurch wurde im Dorf bekannt, dass ich den Täter wegen Vergewaltigung angezeigt habe, und er hat sich gewehrt. Er hat alle manipuliert. Er hat gesagt, ich hätte mir das ausgedacht. Die Leute haben ihm geglaubt. Seine Mutter hat ihm ein Alibi besorgt und sie haben mich wegen Verleumdung angezeigt. Daraufhin haben wir meine Anzeige zurückgezogen. Dabei hatte ich sie nur aufgegeben, weil ich andere Mädchen vor ihm schützen wollte. Ich glaube, er ist heute noch in dem Verein.
Nachdem er so schlecht über mich redete, wurde ich in der Schule und im Dorf schlimm gemobbt. Sie haben gesagt, ich sei eine Schlampe, die was vom Trainer wollte. Ich glaube, sie wollten mich in den Suizid drängen. Bis heute leide ich unter den psychischen Folgen der Tat so sehr, dass ich arbeitsunfähig bin.
Erst 14 Jahre nach der Vergewaltigung, als ich nach Berlin gezogen bin und dort zum ersten Mal eine Traumatherapie begonnen habe, wurde ich verstanden. Die Therapeutin hat gesagt, meine Posttraumatische Belastungsstörung wäre weniger schlimm, wenn das Umfeld anders reagiert hätte. Wenn die Mitwissenden die Wahrheit gesagt hätten. Wenn die Lehrkräfte geschult gewesen wären und meine Panikattacken verstanden hätten. Wenn der Haupttrainer Verantwortung übernommen hätte. Wenn man mir geglaubt hätte.“
Von Frauen wird kulturell immer noch erwartet, dass sie keinen Ärger machen. Sind sie berechtigt wütend, heißt es „lächle doch mal“ oder „sei nicht so zickig“. Margarete Stokowski schreibt in „Die letzten Tage des Patriarchats“, solange die Worte und auch die Widerworte von Frauen nicht mit exakt demselben Respekt bedacht würden wie die eines Mannes, so lange werde es immer wieder Täter wie Harvey Weinstein geben können, jenen Hollywood-Produzenten, der über Jahre seine Machtposition nutzte, um sexuell übergriffig zu werden.
Dass Frauen weniger geglaubt wird, zeigt sich auch bei den seltenen Fällen, in denen Männer von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Monika Schröttle sagt: „Als die Missbrauchsvorfälle in der katholischen Kirche bekannt wurden, wurde den Männern nicht unterstellt, sie hätten sich das ausgedacht oder würden übertreiben. Zumindest nicht in dem Maße, in dem Frauen das täglich erleben.“
Bis ich Mitte 20 war, hatte ich keine Ahnung, ab wann etwas ein Übergriff ist, den man sich nicht gefallen lassen muss
Margarete Stokowski, Autorin
Die Situation würde sich schon allein dadurch verbessern, dass Menschen genügend über das Thema informiert sind. „Bis ich Mitte 20 war, hatte ich keine Ahnung, ab wann etwas ein Übergriff ist, den man sich nicht gefallen lassen muss“, schreibt Stokowski. Das ist nicht ungewöhnlich, da sexueller Konsens noch immer selten in Schulen oder Familien diskutiert wird. Frauen realisieren oft erst nach Jahren, dass das, was ihnen widerfahren ist, auch unter den Begriff Vergewaltigung fällt.
Abgesehen von in Deutschland strafrechtlich relevanten Übergriffen lassen sich Frauen, vor allem junge Frauen, auch zu Geschlechtsverkehr drängen, den sie nicht möchten. Auch dadurch können Traumafolgestörungen entstehen. Carola Klein sagt, manchmal seien die Symptome in diesen Fällen sogar sehr stark, da die Frauen zusätzliche Schuld- und Schamgefühle hätten, weil sie nicht widersprochen und sich der Situation nicht selbst entzogen hätten. In Schweden gilt seit 2018 die „Ja heißt Ja“-Gesetzgebung. Sie legt fest, dass beide Partner:innen klar erkennbar mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden sein müssen. Passivität soll damit nicht als stilles Einverständnis interpretiert werden können. Auch in Deutschland gibt es Forderungen nach einer entsprechenden Gesetzesanpassung.
Unabhängig von Gesetzen können potenzielle Opfer lernen, Grenzen zu setzen, und potenzielle Täter, sensibel darauf zu achten, ob die Sexpartnerin das in diesem Moment auch wirklich möchte. „In anderen Situationen gehen wir, wenn es uns unangenehm ist. Aber beim Sex ist es noch immer so, dass sich viele Frauen nicht trauen zu gehen, wenn sie ab einem Punkt nicht mehr wollen“, erklärt Carola Klein.
Frauen, die einmal einen sexuellen Übergriff erleben mussten, werden oft noch mal Opfer, da Täter ihre Unsicherheit, Grenzen zu setzen und sich zu wehren, wahrnehmen und ausnutzen. Außerdem ist eine Folge von sexualisierter Gewalt, dass Opfer teilweise in ähnlichen Situationen „erstarren“. Der Körper springt in einen Bedrohungsnotfallmodus, um eine sehr belastende Situation auszuhalten, und die Betroffene kann nicht mehr aktiv handeln. Besonders gefährdet, Opfer von Vergewaltigungen zu werden, sind deshalb Frauen, die schon einmal sexualisierte Gewalt erlebten, oder Frauen, die mehrfach marginalisiert sind, weil sie zum Beispiel Geflüchtete sind, homosexuell leben oder eine Behinderung haben.
Zwei von drei Frauen, die hier ihre Geschichte erzählen, wurden mehrfach Opfer. Bei Lena war es zwei Jahre nach der Tat, bei der sie mutmaßlich mit K.-o.-Tropfen betäubt wurde.
Lena
„Als Corona-Lockdown und Ausgangssperre war, habe ich mich mit einem Bekannten bei ihm zu Hause getroffen statt wie sonst in einer Pizzeria. Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich dorthin gegangen bin. Wir haben viel geredet, aber er hat auch ein paarmal versucht, mich zu küssen. Ich habe deutlich gesagt, dass ich das nicht möchte, und er hat aufgehört. Wir haben uns verquatscht und da die Ausgangssperre schon begonnen hatte, meinte er, ich kann bei ihm übernachten. Ich habe mich darauf eingelassen, aber als ich in seinem Bett lag, zwischen ihm und der Wand, konnte ich nicht einschlafen.
Ich habe mich deshalb noch mitten in der Nacht entschieden, zu gehen. Dafür musste ich über ihn drüberklettern, und als ich das gemacht habe, hat er mich festgehalten und zu sich gezogen. Dann habe ich dissoziiert, bin erstarrt. Meine Psyche ist in den Überlebensmodus gefallen. Ich weiß, dass er mir meine Unterwäsche ausgezogen hat, und ich weiß, dass er in mir drin war. Ich habe mich nicht mehr bewegt. Nach ein paar Minuten habe ich ihn stöhnen gehört, und durch dieses Geräusch, das mich sehr geekelt hat, war ich auf einmal psychisch wieder da. Ich habe gesagt: „Hör auf, ich will das nicht“, habe mich angezogen und bin gegangen.
Ich habe ihn nicht angezeigt, weil ich wusste, was bei einer Anzeige passiert. Nichts. Ich dachte auch, dass mir mein Umfeld nicht glaubt, wenn ich noch von einem zweiten Übergriff erzähle. Jeden Tag wünsche ich mir, dass ich aufwache und die beiden Taten nur ein böser Traum waren. Dass mein Leben wieder wird wie früher. Aber es wird nie wieder so sein. Nie wieder so unbeschwert. Nie wieder so frei.“
Lena war mit dem Wissen, was ihr passiert ist, allein. Aber oft, wie zum Beispiel bei Hanna, gibt es Mitwisser:innen. Lehrer:innen, andere Mädchen im Sportverein, Geschwister, Nachbar:innen. Sie sehen, dass der Trainer immer das eine Mädchen mit dem Auto nach Hause fährt, dass der Lehrer eine Schülerin oft „zufällig“ berührt. Um einschreiten zu können, müssten sie wissen, wen sie ansprechen können. Handeln sie nicht, verschlimmern sie das Trauma. Auch nichtwissende Mitmenschen spielen eine entscheidende Rolle. Um Opfer ernst nehmen zu können, müssen sie wissen, dass sexualisierte Gewalt häufig im sozialen Nahraum passiert – dass sie wirklich überall vorkommt, auch bei Männern, die sie nie für Täter halten würden.
Die Berliner Beratungsstelle LARA öffnet ausdrücklich die Türen für alle Frauen, die fühlen, dass sie einen Übergriff erlebt haben. Ganz egal, ob der strafrechtlich relevant ist oder nicht. Etwa die Hälfte der Betroffenen, die zu ihnen kommen, hat vor Kurzem sexualisierte Gewalt erlebt. Bei der anderen Hälfte ist es meist schon mehrere Jahre her. „Aber es ist nie zu spät, sich Hilfe zu holen“, sagt Carola Klein. Auch Jahrzehnte später noch könnten Traumafolgen erfolgreich geheilt werden.
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