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Altlasten. Bis zu 15 Jahre kann der Rückbau des Kraftwerks in Biblis dauern.

© picture alliance / dpa

Was der Atomausstieg für Biblis bedeutet: Strahlende Vergangenheit

Das Kernkraftwerk hat sie reich gemacht – und abhängig. Mit dem deutschen Atomausstieg begann der Abstieg der Gemeinde Biblis. Geblieben sind Stolz und Ratlosigkeit.

Die Folgen dessen, was hier geschehen ist, sind auf den ersten Blick schwer auszumachen. Hinter dem kugelrunden Reaktorgebäude, im Maschinenhaus von Block A, rattert ein gewaltiger Generator. Draußen neben der Halle, im Umspannwerk des Kraftwerks, summt und knistert der Strom in den Trafos. Ein paar Arbeiter mit Helmen und Schutzbrillen eilen vorüber, als sei alles wie immer. „Sie können hier draußen nicht erkennen, dass der Leistungsbetrieb Vergangenheit ist“, sagt Reinhold Gispert, Betriebsratschef im AKW Biblis. Ein Großteil der Stammbelegschaft sei weiterhin nötig, um die Anlage mit ihren abklingenden Brennelementen zu überwachen, notwendige Inspektionen zu machen und den Rückbau zu planen, erklärt der Betriebsratschef. „Der große Unterschied ist, dass der Strom seit dem 18. März 2011 nicht mehr aus dem Kraftwerk ins Netz fließt, sondern aus dem Netz ins Kraftwerk.“ An jenem Freitagabend ereignete sich das, was viele Bibliser „die Katastrophe nach der Katastrophe“ nennen.

Eine Woche nach dem Reaktorunglück in Fukushima verlangte das hessische Umweltministerium von dem Betreiber RWE Power, das Atomkraftwerk Biblis abzuschalten. Die Bundesregierung hatte nach dem Atomunfall in Japan eilig ein Atommoratorium beschlossen. Alle deutschen Atomkraftwerke sollten auf ihre Sicherheit hin überprüft, die ältesten sieben Reaktoren sogar vorübergehend stillgelegt werden. Keiner dieser alten Reaktoren wurde nach der ursprünglich geplanten Auszeit von drei Monaten wieder hochgefahren. So begann der deutsche Atomausstieg. Und der Abstieg der Gemeinde Biblis.

Das AKW in Biblis deckte 60 Prozent des hessischen Strombedarfs

Als die Brennstäbe in den Blöcken A und B noch Strom erzeugten, arbeiteten im Atomkraftwerk mehr als 700 Beschäftigte in Festanstellung. Weitere 300 Mitarbeiter waren für Fremdfirmen tätig. Wenn einmal im Jahr im Kraftwerk für drei Monate die große Revision anstand, kamen zusätzlich 1500 Monteure und Sachverständige nach Biblis. In Spitzenzeiten arbeiteten 2500 Menschen in den Anlagen mit den maximal 2500 Megawatt Leistung – ausreichend, um 60 Prozent des hessischen Strombedarfs zu decken.

Für die 9000 Einwohner der Gemeinde war das ein gutes Geschäft. Bäcker, Restaurants, Friseure und Hotels lebten gut vom Geld der Arbeiter, wahrscheinlich besser als in jeder anderen Gemeinde dieser Größe. Es ist kein Geheimnis, dass auch viele Familien in Biblis mitverdienten, indem sie den Gastarbeitern schwarz ein Bett vermieteten. Die örtlichen Sportvereine wurden stets großzügig von RWE bedacht, die Gemeinde bekam von ihrem größten Arbeitgeber neben den Gewerbesteuereinnahmen traditionell eine jährliche Spende von bis zu einer halben Million Euro. Es heißt, RWE habe mit den beiden Reaktorblöcken von Biblis täglich eine Million Euro Gewinn gemacht.

Seit der endgültigen Stilllegung des Atomkraftwerks ist es mit all der Herrlichkeit vorbei. Der Stromkonzern RWE plant den Rückbau der Anlage und macht in Biblis längst Millionenverluste. Als Erstes mussten die Mitarbeiter der Fremdfirmen gehen, Beschäftigung gibt es heute nur noch für 20 von ihnen. Große Revisionen finden nicht mehr statt. Die Stammbelegschaft ist bereits auf 450 reduziert worden, bis Ende des Jahres werden noch einmal 50 ihren Arbeitsplatz verlieren.

Anders als auf dem Gelände des Kraftwerks sind die Auswirkungen im Rest von Biblis deutlich zu sehen. Zimmer in Hotels und Gasthöfen bleiben leer, weil sich Monteure nicht einfach durch Touristen ersetzen lassen, wenn in der Nachbarschaft ein Atommeiler steht. Mehrere Bäckereien haben dichtgemacht, ebenso ein Modehaus. Einige, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, sind weggezogen.

Bürgermeister Felix Kusicka musste bereits Kindergartengebühren und den Grundsteuerhebesatz erhöhen, um den Haushalt auszugleichen.
Bürgermeister Felix Kusicka musste bereits Kindergartengebühren und den Grundsteuerhebesatz erhöhen, um den Haushalt auszugleichen.

© Arne Bensiek

„Wir befinden uns noch immer im freien Fall“, sagt Bürgermeister Felix Kusicka. Seit diesem Frühjahr ist der parteilose Maschinenbauingenieur im Amt. Kusicka ist 51, ein großer Mann mit Schnauzer und einer ruhigen Stimme, der sich von seiner undankbaren Aufgabe nicht die Laune verderben lässt. Auf der Fensterbank seines holzvertäfelten Amtszimmers stehen Miniaturen von orangefarbenen Müllwagen und Kehrmaschinen – Erinnerungen an seine Zeit als Chef der Darmstädter Müllabfuhr. Jetzt räumt er eben hier auf.

„Die Gemeinde hat in den RWE-Jahren über ihre Verhältnisse gelebt“, urteilt der Bürgermeister. Um den Haushalt auszugleichen, müsse die Gemeinde im kommenden Jahr vier Millionen Euro Schulden aufnehmen. Biblis war lange Zeit eine reiche Kommune, dreieinhalb Jahre nach der Abschaltung des Atomkraftwerks ist der Ort ein roter Punkt auf der Karte der strukturschwachen Regionen. Und damit allein in Südhessen.

Mit Hilfe vom Land Hessen kann Biblis nicht rechnen

Kusicka hat bereits die Kindergartenbeiträge um die Hälfte angehoben und den Grundsteuerhebesatz von 230 auf 275 Prozent erhöht. Die Friedhofsgebühren sind gestiegen. „Wir werden noch an einigen Schrauben drehen müssen“, sagt er und weiß doch am besten, dass auch das niemals reichen wird.

Draußen vor dem Rathaus ist Biblis’ Vergangenheit in Bronze gegossen. Eine Bäuerin reicht einem Kind einen Korb voller Gurken. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert war die ländliche Gemeinde für ihre Gurken bekannt, über Jahrzehnte. Nach der Inbetriebnahme des Kraftwerks 1975 erlebte sie einen rasanten Strukturwandel. Genauso erging es anderen kleinen AKW-Standorten wie Grundremmingen im bayrischen Schwaben oder Brokdorf in Schleswig-Holstein. Viele Ingenieure und Industriekaufleute leben heute in Biblis. Genau deshalb möchte Bürgermeister Kusicka zukünftig Unternehmen aus der Energiewirtschaft anlocken. Seine Gemeinde werde dafür EU-Fördermittel beantragen.

Mit Entschädigungen vom Land Hessen oder von RWE könne Biblis indes nicht rechnen, auch wenn das Bundesverwaltungsgericht das Stilllegungsprozedere für unrechtmäßig erklärt hat. Das hessische Umweltministerium hatte RWE seinerzeit keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und die Entscheidung durch diesen Formfehler angreifbar gemacht. Sollte der Energiekonzern mit seiner gerade eingereichten Zivilklage gegen Bund und Land Erfolg haben und die erwarteten 200 Millionen Euro Schadensersatz zugesprochen bekommen, dürfte RWE diese Einnahmen gegen seine immensen Verluste rechnen. Mit einem Bruchteil dieses Steuergeldes hätte man Biblis erfolgreich beim Strukturwandel helfen können.

Biblis erfindet sich neu - mit einer Broschüre

Altlasten. Bis zu 15 Jahre kann der Rückbau des Kraftwerks in Biblis dauern.
Altlasten. Bis zu 15 Jahre kann der Rückbau des Kraftwerks in Biblis dauern.

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„Dass es mit Atomkraft in Deutschland irgendwann zu Ende geht, war absehbar“, sagt ein RWE-Sprecher. Darauf hätten sich die AKW-Standorte einstellen müssen. „Zugegebenermaßen ist die Unmittelbarkeit der Stilllegung für Biblis ein schweres Los.“ Dennoch möchte RWE lieber keine Aussage darüber treffen, ob es sich auch zukünftig noch Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinde leisten will.

In ihrer Ratlosigkeit versucht sich die Gemeinde neu zu erfinden. Für eine entsprechende Imagekampagne gab es vom Land Hessen und dem Kreis Bergstraße immerhin 150 000 Euro an Fördermitteln. In Absprache mit Gemeindevertretern erfand eine Dortmunder Beratungsfirma das neue Biblis und verkaufte es in einer neunseitigen Broschüre. Das Kraftwerk sei Geschichte, heißt es darin so lapidar, als lasse sich Biblis’ Atomkraft-Stigma einfach wegwischen, als seien die Reaktoren schon zurückgebaut und die strahlenden Brennstäbe nicht mehr da. Die Bilder zeigen Kinder beim Fußballspielen, eine Familie in ihrem Garten oder eine Mutter beim Einkaufen. Alles erscheint so willkürlich, so austauschbar, dass nach dem Durchblättern nicht klar ist, was das neue Biblis eigentlich von anderen Gemeinden unterscheidet.

"Wir bringen es nicht fertig uns zu verkaufen"

Dabei erstreckt sich zwischen Rathaus und Atomkraftwerk eine Seenlandschaft samt Badesee, auf dem an diesem sonnigen Tag einige Windsurfer unterwegs sind. Zwei Autominuten weiter, im Ortsteil Wattenheim, liegt ein bestens gepflegter Golfplatz mit 27 Löchern. Auf dem gut gefüllten Parkplatz stehen Autos aus Frankfurt, Mainz, Mannheim oder Stuttgart. Im Jägersburger Wald, der noch auf der Gemarkung von Biblis liegt, steht mit dem Jägerhof ein imposante Reitanlage im Fachwerkstil. Sogar aus dem Ausland sind Gäste angereist. Doch davon ist in der Broschüre über das neue Biblis nichts zu sehen.

„Wir haben hier lauter Perlen um den Schornstein herum und bringen es nicht fertig, uns zu verkaufen“, schimpft Motelbetreiber Peter Fischer in breitem Hessisch. Die Auslastung seiner 20 Zimmer und Appartements sei mit der Stilllegung des Atomkraftwerks von 100 auf 60 Prozent gesunken. Dass es ihn nicht schlimmer erwischt habe, verdanke er der guten Lage seines „Route 44“ direkt an der Bundesstraße. Da schon lange keine Monteure mehr kommen, wollte Fischer reagieren und weitere Appartements bauen, um zukünftig ganze Busreisegruppen unterbringen zu können. „Für Ausflüge nach Worms oder in den Odenwald liegt Biblis ideal“, sagt Fischer. Die Gemeinde habe ihn jedoch nicht finanziell unterstützen wollen, also habe er seine Pläne verworfen. Das einst so verwöhnte Biblis tut sich noch immer schwer damit, seinen Stolz aufzugeben und Kompromisse einzugehen.

Biblis wird Zwischenlager

Auch Franz Jäger musste das feststellen, mit 75 Arbeitnehmern der zweitgrößte Arbeitgeber im Ort nach RWE. Der 63-jährige Unternehmer wollte die Produktion seiner Fensterfirma ausbauen und dafür eine Reihe von benachbarten Schrebergärten aufkaufen. Die Gemeinde habe sich nicht bewegt, auch nicht, als er drohte, Biblis zu verlassen. „Die dachten, ich bluffe“, sagt Jäger.

Als die Gemeinde irgendwann seinen Ernst erkannte, hatte sich Jäger bereits entnervt entschieden, in die Nachbargemeinde Groß-Rohrheim umzuziehen. Der neue Firmensitz ist schon gebaut. Wieder gehen 30 Millionen Euro Umsatz verloren. Immerhin: Den alten Firmensitz übernimmt Jägers Sohn Sascha. So bleiben Biblis von einst 75 Arbeitsplätzen zumindest 20 erhalten.

Auf dem Gelände des Atomkraftwerks ist Reinhold Gispert neben einem Bagger stehen geblieben. „Wir bauen hier eine neue Schutzwand für unser Standortzwischenlager“, erklärt der Betriebsratschef. In der weißen Halle neben dem Bagger lagern Castorbehälter mit ausgebrannten Brennstäben. Während die Kollegen von Gispert den Rückbau des Atomkraftwerks planen, wird hier aufgebaut. „Da es in Deutschland auf absehbare Zeit wohl kein Endlager für hochradioaktiven Müll geben wird, werden wir die Castoren mit unseren Brennstäben weiterhin hier lagern müssen“, sagt Gispert. So wie an allen anderen AKW-Standorten auch.

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