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Aggressiv und unkontrolliert – bin das noch ich?: Eine Demenz kann auch die Persönlichkeit verändern
Mit einer Demenz verbinden die meisten Menschen vor allem Vergesslichkeit. Doch die Krankheit kann auch noch andere Auswirkungen haben – bis hin zu Gewalt.

Stand:
Der Mann im Altenheim war sehr hinfällig. Wegen einer Infektion war ich als hausärztlicher Notarzt gerufen worden. Vor der Untersuchung warnte mich eine der Altenpflegerinnen: „Vorsicht, er boxt!“ Das klang skurril.
Aber beim Blutdruckmessen ballte er sehr schnell die Faust und versuchte, zuzuschlagen. Sein Tempo war leicht erklärbar: Er war ehemaliger Profiboxer (ein „Kampfbild“ hing über dem Bett). Seine Aggression auch: Er litt seit Jahren unter Alzheimer.
Das „normale“ Verhalten ist ein fein ausbalanciertes Gleichgewicht zwischen zahlreichen Zentren im Gehirn.
Magnus Heier, Kolumnist
Vergleichbare Beobachtungen machen Angehörige, Schwestern und Pfleger bei dementen Patienten häufig: Das Gehirn verändert sich, das Verhalten auch. Oft entgleitet eine Aggressivität, die die Patienten bisher kontrollieren konnten. Oft entsteht sie bei Menschen, deren Persönlichkeit früher überhaupt nicht aggressiv war.
Das „normale“ Verhalten eines Menschen ist ein fein ausbalanciertes Gleichgewicht zwischen zahlreichen Zentren im Gehirn. Wenn Teile des Gehirns geschädigt werden, verändert sich die Persönlichkeit.
Es gibt das Beispiel eines Mannes, der plötzlich pädophiles Verhalten gegenüber den eigenen Kindern zeigte. Das war nicht er, das war seine Krankheit: Die Ursache war ein Tumor im rechten Stirnhirn – nach der Operation war er wieder „der alte“.
Schon kleine Veränderungen im Kopf können die Persönlichkeit verändern. Oft drastisch. Umso mehr Erkrankungen, die das ganze Gehirn betreffen – wie bei Alzheimer oder anderen Demenzformen. Für die Kranken ist es vor allem am Anfang besonders schlimm: Sie können ihre Affekte nicht mehr kontrollieren – sie erkennen sich selbst nicht wieder.
Angehörige müssen lernen, dass auch Persönlichkeitsveränderungen Teil der Krankheit sein können. Das zu akzeptieren und mit den kranken Angehörigen trotzdem liebevoll umzugehen, fordert übermenschliche Geduld. Und ist oft nur mit Hilfe zu leisten. Die Pflegerinnen des alten Boxers verhielten sich vorbildlich. Und das tun Tausende von Pflegerinnen und Pflegern, Tausende von Angehörigen tagtäglich. Meist unbemerkt, in aller Stille. Man sollte es öfter würdigen!
Alle bisher erschienenen Folgen der Kolumne „Im weißen Kittel“ finden Sie auf der Übersichtsseite.
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