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Antibiotika-Verbrauch steigt um fast ein Fünftel: Im Saarland wird am großzügigsten verordnet
In Deutschland werden wieder mehr Antibiotika verschrieben als vor der Coronapandemie. Experten sind besorgt, denn der Zuwachs betrifft auch Reserveantibiotika für den Notfall.
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Der Antibiotika-Verbrauch in Deutschland ist erstmals wieder über das Niveau vor der Coronapandemie gestiegen. Das ist einer aktuellen Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zu entnehmen, die auf Basis der Arzneimittelverordnungsdaten aller GKV-Versicherten erstellt wurde.
Demnach wurden im Jahr 2023 insgesamt 36,1 Millionen Packungen Antibiotika im Wert von 792,1 Millionen Euro abgerechnet. Das entspricht einem Anstieg um 18,4 Prozent binnen eines Jahres. 2022 lag die Verordnungsmenge noch bei 30,5 Millionen. Im Vergleich zum Vor-Pandemie-Jahr 2019 – mit 34 Millionen Packungen – betrug der Anstieg 6,1 Prozent.
Beunruhigend ist vor allem, dass sich mit den gestiegenen Verordnungsmengen auch die Zahl der verschriebenen Reserveantibiotika wieder erhöht hat. Ihr Anteil liegt zwar seit 2020 relativ konstant bei 43,4 Prozent – und vorher war er, mit bis zu 56,6 Prozent im Jahr 2015, deutlich höher. In absoluten Zahlen ist bei diesen tunlichst vorsichtig einzusetzenden Medikamenten jedoch nach einem Rückgang in den Coronajahren nun wieder ein ähnliches Niveau wie 2019 erreicht.
Gefahr von zunehmenden Resistenzen
Der neuerliche Verordnungsanstieg von Antibiotika der Reserve sei besorgniserregend, sagte WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. Er könne „die Gefahr von Resistenzen weiter verschärfen, was gerade im Falle von lebensbedrohlichen Erkrankungen dramatische Auswirkungen hätte“.
Da Antibiotikaresistenzen keine Mensch-Tier-Unterscheidung kennen, brauchen wir eine konsequente Reduktion des Antibiotikaeinsatzes nicht nur beim Tier, sondern auch beim Menschen.
Helmut Schröder, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO)
Reserveantibiotika sind eine der letzten Therapieoptionen, wenn herkömmliche Antibiotika nicht mehr wirken – was eigentlich eine strenge Indikation mit dem Nachweis eines multiresistenten Erregers voraussetzt. 2023 wurden dennoch 15,7 Millionen Verordnungen registriert, im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg um 21 Prozent. Dies deute darauf hin, so Schröder, „dass ihr zurückhaltender Einsatz noch nicht konsequent genug gelingt“.
Hinzu kommt: In Deutschland werden laut WIdO vergleichsweise häufig Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone verordnet, die mit erhöhten Risiken für Patienten verbunden sind. Für die 3,3 Millionen im Jahr 2018 mit Fluorchinolonen behandelten Patienten in Deutschland sei damit zu rechnen, dass mehr als 40.000 Patienten von Nebenwirkungen wie einer Schädigung des Nervensystems, einem Sehnenriss oder einer Schädigung der Hauptschlagader betroffen waren, hieß es in einer seinerzeit erstellten Studie.
Wegen ihrer hohen Risiken wurden diese Antibiotika seit April 2019 in Deutschland in der systemischen Anwendung eingeschränkt. Aktuellen WIdO-Erhebungen zufolge stieg die Zahl der verordneten Tagesdosen zu Lasten der GKV jedoch wieder: von 12,84 Millionen im Jahr 2022 auf 13,24 Millionen im Jahr 2023.
In Mecklenburg-Vorpommern werden am meisten Reserveantibiotika verschrieben
Interessant ist, dass es bei den Verordnungsmengen in Deutschland enorme regionale Unterschiede gibt – und zwar sowohl bei den „normalen“ Antibiotika als auch bei denen der Reserve.
Im Gesamtschnitt entfielen im Jahr 2023 auf 1000 GKV-Versicherte 486 Antibiotika-Verordnungen. Spitzenreiter war das Saarland mit 539, gefolgt von Rheinland-Pfalz (510) und dem KV-Bereich Westfalen-Lippe (499). Die größte Zurückhaltung zeigten Ärzte in Hamburg mit lediglich 328 Verordnungen pro 1000 Versicherte. Auf den weiteren Plätzen rangieren Brandenburg (337), Thüringen (344), Sachsen (346), Berlin (362) und Mecklenburg-Vorpommern (370).
Bei den Reserveantibiotika indessen lag Mecklenburg-Vorpommern ganz vorn (53,4 Prozent), auf den geringsten Verordnungsanteil kam mit großem Abstand der Stadtstaat Bremen (33,3 Prozent).
Institutsleiter Schröder verwies zwar darauf, dass bei diesen Vergleichen die regional unterschiedliche Alters- und Geschlechtsstruktur der Versicherten sowie deren Morbidität unberücksichtigt geblieben sei. Gleichwohl sollten „diese teils drastischen regionalen Unterschiede“ aus seiner Sicht „Anlass sein, regionale Verschreibungsgewohnheiten kritisch zu hinterfragen“.
In der Nutztierhaltung geht der Gebrauch von Antibiotika zurück
Aus der Tierhaltung immerhin gibt es positive Nachrichten. Hier sei der Antibiotikaverbrauch weiterhin rückläufig, heißt es in der WIdO-Analyse. Das ist nicht unwesentlich angesichts der Tatsache, dass durch die dort verwendeten Medikamente das Problem der Resistenzbildung über die Aufnahme der Wirkstoffe in Fleisch oder Grundwasser auch bei Menschen verstärkt wird.
Dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zufolge wurden 2023 an Tierärztinnen und Tierärzte insgesamt 529 Tonnen Antibiotika abgegeben – ein Rückgang um elf Tonnen beziehungsweise 2,1 Prozent. Laut WIdO ist das der niedrigste Wert seit Beginn der Erfassung im Jahr 2011. Maßgeblich dazu beigetragen habe eine Anpassung im Tierarzneimittelgesetz, wonach der Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung auf das „therapeutisch unverzichtbare Mindestmaß“ reduziert werden soll.
In der Tiermedizin sei die abgegebene Antibiotikamenge in den vergangenen zehn Jahren um 57,3 Prozent zurückgegangen (2014: 1238 Tonnen), rechnete das AOK-Institut vor. In der Humanmedizin dagegen betrage das Minus lediglich 8,7 Prozent (2014: 39,6 Millionen Verordnungen).
„Da Antibiotikaresistenzen keine Mensch-Tier-Unterscheidung kennen, brauchen wir eine konsequente Reduktion des Antibiotikaeinsatzes nicht nur beim Tier, sondern auch beim Menschen“, sagte Schröder.
Pipeline an neuen Antibiotika „ausgetrocknet“
Besondere Brisanz hat das Thema auch deshalb, weil es sich in den vergangenen zehn Jahren bei insgesamt 367 neu auf den Markt gebrachten Wirkstoffen nur in acht Fällen um Antibiotika gehandelt habe, heißt es in der Analyse.
Mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungsgesetz gibt es zwar seit Juni 2023 finanzielle Anreize für die Entwicklung neuer antibiotischer Wirkstoffe – und bereits im Jahr 2018 wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis zu 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um in einem Zeitraum von zehn Jahren unter anderem die Entwicklung neuer Antibiotika zu fördern.
Doch beim WIdO sind sie skeptisch. Es bleibe „abzuwarten, ob diese Incentives wirklich zur Entwicklung neuer antibiotischer Arzneimittel beitragen“, sagte Geschäftsführer Schröder. Der erneute Anstieg der Verordnungen von Antibiotika und Reserveantibiotika sowie die „ausgetrocknete Pipeline neuer antibiotischer Wirkstoffe in den letzten Jahren“ machten jedenfalls den „regulatorischen Handlungsbedarf“ deutlich.
Aus der Sicht des Wissenschaftlers sollte einerseits „ein indikationsgerechter und zurückhaltender Gebrauch angemahnt werden“. Andererseits könne öffentlich finanzierte Forschungsförderung „zum gewünschten Ergebnis führen“.
Nach Schätzungen des Instituts für Health Metrics und Evaluation beläuft sich die Zahl der Todesfälle durch Folgen von Antibiotika-Resistenzen weltweit jährlich auf 1,3 Millionen Menschen. Für Deutschland werden 9700 Opfer pro Jahr angegeben.
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