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Menschen mit Long Covid leiden unter anderem unter starker, anhaltender Schwäche und Erschöpfung. (Archivbild)

© Sebastian Gollnow/dpa

Die 60-Milliarden-Krankheit: Warum es richtig ist, die Kosten von Long Covid akribisch vorzurechnen

Eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass ME/CFS die Gesellschaft teuer zu stehen kommt. Diese Rechnung ist längst überfällig in einer Gesellschaft, die ihre Aufmerksamkeit durchökonomisiert.

Ingo Bach
Ein Kommentar von Ingo Bach

Stand:

Wer immer vor rund 55 Jahren den Begriff „Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom“ (ME/CFS) für diese schwere Erkrankung erfunden hat: Er oder sie hat den Betroffenen, die langanhaltend an zum Teil schweren Einschränkungen leiden, damit einen Bärendienst erwiesen.

Denn mit dem nur in der Fachwelt verständlichen Namen wurde die Krankheit verbannt in einen begrenzten Zirkel von wenigen Ärzten, die sich damit auskannten, und Betroffenen, die allein in Deutschland Hunderttausende zählen, die sich aber nicht verstanden fühlten. Wir sind nicht einfach nur erschöpft, klagten viele, wir sind schwer krank. Die öffentliche Aufmerksamkeit und das Mitgefühl, die über den Strom von Forschungsgeldern und Investitionen in Krankenhäuser und Arztpraxen entscheiden, fehlten über Jahrzehnte.

Doch seit einiger Zeit ändert sich etwas, erst langsam, dann immer schneller. Zum einen durch den Druck der schieren Zahlen. Denn nach einer Infektion mit dem Coronavirus wurden immer mehr Patienten nicht wieder gesund, obwohl die akute Erkrankung längst vorbei ist. Sie leiden weiter unter körperlicher Schwäche, Atemproblemen oder kognitiven Einschränkungen.

Die schwerste Form der Long Covid genannten chronischen Krankheit ist ME/CFS. Die Patienten klagen dann über eine extreme körperliche Schwäche und Empfindlichkeit gegenüber äußerlichen Reizen, die ihr Aktivitätsniveau praktisch auf null bringt. Sie liegen in abgedunkelten Zimmern im Bett.

Ein weiterer Grund für das wachsende Problembewusstsein ist der öffentliche Druck vor allem von Angehörigen der Erkrankten, die Liegend- oder Rollstuhldemos organisieren.

Doch das, was unsere rationale Aufmerksamkeitsökonomie am meisten triggert, fehlte noch: eine Rechnung, die akribisch auflistet, was die Gesellschaft finanziell durch die Erkrankung verliert. Diese Lücke wurde jetzt geschlossen. Forschende haben ausgerechnet, dass Long Covid und ME/CFS die Gesellschaft mehr als 60 Milliarden Euro pro Jahr kosten würden.

Fehlende Therapiemöglichkeiten erhöhen die Folgekosten

Junge Menschen könnten ihre Ausbildung durch die Erkrankung oft nicht mehr fortsetzen. Angehörige übernähmen einen Großteil der Versorgung unter großer Belastung, so die ME/CFS Research Foundation, die Co-Autorin der Studie ist. Auf gesellschaftlicher Ebene entstünden erhebliche Kosten: für medizinische Versorgung, Pflege, Arbeitsausfälle, Sozialleistungen und entgangene Steuereinnahmen. Auch Unternehmen erlitten so Produktivitäts- und Kaufkraftverluste.

Es mag möglich sein, über die genaue Zahl der Erkrankten oder die Gewichtung dieser oder jener Größe in der Berechnung wissenschaftlich zu streiten. Die Studie ist noch nicht unabhängig von Fachkolleginnen und -kollegen geprüft. Aber das ändert nichts an ihrer Grundaussage: Die vielen Betroffenen und die Folgen der Erkrankung kosten viel Geld. Die Versorgung ist noch nicht adäquat, die fehlenden Therapiemöglichkeiten erhöhen die Folgekosten immer weiter.

All die Bemühungen, die Wahrnehmung der Erkrankung mit dem schwer auszusprechenden Namen zu ändern, haben bereits zu spürbaren Änderungen geführt: Es wird viel geforscht, an neuen Therapien und für eine bessere Versorgung. Allein vom bis vor Kurzem SPD-geführten Bundesgesundheitsministerium kamen 150 Millionen Euro für die Versorgungsforschung. Das seinerzeit von der FDP verantwortete Bundesforschungsministerium ließ 50 Millionen Euro springen, um Therapiestudien zu fördern. Es steht auch mehr Geld für die behandelnden Ärzte zur Verfügung. Das Interesse an Weiterbildungen, um die Erkrankung richtig diagnostizieren und behandeln zu können, habe deutlich zugenommen, heißt es aus Universitätskliniken.

Die jetzt vorgelegte Studie wird den Druck weiter erhöhen, lässt sich jetzt doch belegen, dass diese Millionen noch in einem deutlichen Missverhältnis zu den Kosten stehen. Erschütternd aber ist, dass es eine solche groß angelegte Untersuchung mit einer detaillierten Kostenaufstellung braucht, um die Aufmerksamkeit und ja, auch das Mitgefühl mit den Betroffenen, zu steigern.

Und noch etwas spielt bei dieser Entwicklung eine Rolle: der Name Long Covid für die chronischen Folgen einer Corona-Infektion. Der Begriff bringt auf den Punkt, worum es geht, verständlich und einprägsam. Er wurde von keinem Wissenschaftler oder Arzt geprägt, sondern von einer Patientin. Und er fand Eingang in die wissenschaftliche Nomenklatur, als einer von sehr wenigen Namen, die Patienten einer Krankheit gaben. Vielleicht sollte das der Maßstab für eine bessere Fachsprache sein.

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