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Eine halbjährliche Spritze schützt vor HIV: „Lenacapavir ist der Gamechanger im Kampf gegen Aids“
Wie wirkt die Spritze, ist sie gut verträglich und wann kommt sie nach Deutschland? Fragen und Antworten zu dem neuen Wirkstoff zur HIV-Prophylaxe, auf den viele Experten große Hoffnungen setzen
Stand:
Eine halbjährliche Impfung mit dem Medikament Lenacapavir schützt effektiv vor einer Infektion mit HIV. Das bestätigen wie berichtet Daten der zulassungsrelevanten Phase-3-Studie „Purpose 2“, die im „New England Journal of Medicine“ („NEJM“) vorgestellt werden. Als Depotspritze bewahrt Lenacapavir anhaltend vor einer Ansteckung mit HIV, alle sechs Monate ist eine Auffrischung vorgesehen.
In zwei Studien mit unterschiedlichen Teilnehmergruppen wurde untersucht, wie effektiv Lenacapavir eine HIV-Infektion verhindern kann. Die Ergebnisse der Studien namens Purpose-1 und -2 fielen so positiv aus, dass Expertinnen und Experten inzwischen schon von einem Gamechanger im Kampf gegen die weltweite HIV-Epidemie sprechen. Neuinfektionen mit HIV konnten während der Laufzeit der Studien zu nahezu 100 Prozent verhindert werden. Wir beantworten die wichtigsten Fragen rund um das vielversprechende Instrument zur HIV-Vorsorge.
Wie wirkt Lenacapavir?
Lenacapavir ist als Medikament zur Therapie einer bestehenden Infektion in Europa schon seit 2022 zugelassen, aber in Deutschland nicht auf dem Markt. Der Wirkstoff ist ein sogenannter Kapsid-Inhibitor. Er hemmt ein bestimmtes Protein – das Kapsid – in der Hülle des HI-Virus, das es braucht, um sich zu vermehren.
Vor allem in den Schleimhäuten muss das Medikament vorhanden sein, um als Barriere wirken zu können.
Clara Lehmann, Infektionsforscherin
Damit sei Lenacapavir das erste Medikament einer neuen Wirkstoffklasse zur Behandlung einer HIV-Infektion, sagte Clara Lehmann, Leiterin des Infektionsschutzzentrums, der Infektionsambulanz sowie der Post-Covid-Ambulanz an der Universitätsklinik Köln bei einem Online-Briefing des Science Media Centers (SMC). Es werde bei Patienten in Kombination mit anderen HIV-Medikamenten eingesetzt. „Es gibt unterschiedliche Formulierungen, wo man das einmal täglich nimmt oder einmal in der Woche oder auch alle sechs Monate.“
Wie wird Lenacapavir in der Prophylaxe gegen eine HIV-Infektion angewendet?
Den Teilnehmenden der beiden Purpose-Studien wurde halbjährlich ein Depot des Medikamentes unter die Haut injiziert. Das Depot gibt nach und nach den Wirkstoff frei, so dass dessen Konzentration im Blut und auf den Schleimhäuten über ein halbes Jahr so hoch bleibt, dass es die Vermehrung von HI-Viren unterdrückt.
„Die Formulierung dieser Substanz ist so elegant, dass man sechs Monate einen ausreichenden Medikamentenspiegel im Blut, aber vor allen Dingen auch an den Schleimhäuten erreicht“, sagt Clara Lehmann. „Das ist extrem wichtig, weil an den Schleimhäuten die Infektionen stattfinden. Dort muss das Medikament vorhanden sein, um als Barriere wirken zu können.“
Eine Spritze, die zweimal jährlich injiziert wird, ist sehr viel komfortabler, als wenn man täglich die Tabletten einnehmen muss.
Astrid Berner-Rodoreda, Gesundheitswissenschaftlerin
Ist das der Gamechanger im Kampf gegen HIV?
Anders als bei der medikamentösen Therapie von bereits mit HIV infizierten Menschen habe man in der Prävention bisher keine großen Fortschritte gemacht, sagt Astrid Berner-Rodoreda, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heidelberg Institute of Global Health des Universitätsklinikums Heidelberg. „Wenn wir bis 2030 die Aids-Epidemie beenden wollen, dann müssten wir die Neuinfektionen in der Welt auf 370.000 im kommenden Jahr senken. Wir hatten aber immer noch Neuinfektionen von 1,3 Millionen.“
Schon allein deshalb sei Lenacapavir ein echter Gamechanger im Kampf gegen HIV und Aids. Diese Prophylaxe-Methode werde besser akzeptiert als die bisherigen Praktiken zum Schutz vor einer Infektion. „Eine Spritze, die zweimal jährlich injiziert wird, ist sehr viel komfortabler, als wenn man täglich die Tabletten einnehmen muss.“
Alles, was eine Infektion verhindert, ist ein Fortschritt im Kampf gegen HIV und Aids.
Christian Gaebler, Immunologe
Ähnlich beeindruckt zeigt sich Clara Lehmann: „Ich finde es einfach toll, dass es solche Entwicklungen gibt.“ Das gebe ihr sehr viel Zuversicht in der HIV-Forschung für eine Therapie, die in Richtung Heilung gehe.
Auch der Berliner HIV-Experte Christian Gaebler sieht die Ergebnisse der Studien zu Lenacapavir positiv. „Alles, was eine Infektion verhindert, ist ein Fortschritt im Kampf gegen HIV und Aids“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe Translationale Immunologie viraler Infektionen der Charité dem Tagesspiegel. „Und wenn es das so beeindruckend effektiv tut, wie Lenacapavir, kann man durchaus von einem Gamechanger sprechen.“
Hat es Nachteile, dass das Medikament einen so langen Zeitraum im Körper aktiv bleibt?
Die beiden Studien hätten eine gute Verträglichkeit des Wirkstoffes belegt, heißt es vom Hersteller Gilead. Ob das auf Dauer so bleibe, sei aber noch unklar, sagt Infektionsforscherin Clara Lehmann: „Die Studie war relativ kurz, wir wissen nicht, wie sich das langfristig weiterentwickeln wird.“
Dass der Wirkstoffspiegel über lange Zeit auf hohem Niveau bleibe, sei kein Nachteil, sondern genau so gewollt, sagt Charité-Experte Gaebler. „Das ist ja auch das Ziel, wenn man täglich Tabletten einnehmen muss.“ Insofern sollte die Verträglichkeit durch die langanhaltende Anwesenheit des Wirkstoffes im Körper ähnlich sein, egal ob man täglich Wirkstoff zuführt oder über ein halbjährlich zu erneuerndes Depot.

© imago/studiomolekuul
Das wesentlichere Problem sei, ob HIV gegen den Wirkstoff resistent werden könnte. Diese Gefahr besteht bei Medikamenten, die im Körper lange gegen dort vorhandene Krankheitserreger aktiv bleiben. Doch beim Einsatz von Lenacapavir zur Infektionsprophylaxe sei diese erstmal gering, sagt Max von Kleist, Leiter der Forschungsgruppe „Mathematics for Data Science“ an der Freie Universität Berlin „Wenn eine Infektion verhindert wird, kann auch keine Resistenz entstehen.“
Aber das Risiko wachse, wenn man die Prophylaxe mit Lenacapavir beenden will. „Sobald eine Person damit aufhört, ist der Wirkstoff noch ein Jahr im Blut nachweisbar“, sagte von Kleist dem SMC. Dessen Konzentration geht jedoch kontinuierlich zurück, wenn der Schutz nicht aufgefrischt wird. Sinkt der Spiegel des Wirkstoffs im Körper unter einen Wert, der nicht mehr komplett vor einer Infektion schützt, könnten einige Viren in den Körper gelangen und dort unter dem Selektionsdruck resistent werden.
„Um das zu verhindern, müssten Personen, die mit Lenacapavir aufhören, zur Prophylaxe für ein Jahr das Medikament Truvada nehmen“, sagt von Kleist. Truvada ist zur HIV-Prophylaxe – die sogenannte Prep – zugelassen. Die Tablette muss dafür täglich geschluckt werden. Sie kann aber kurzfristig ohne die Gefahr einer Resistenzbildung abgesetzt werden. „Truvada ist nach einer Woche raus aus dem Körper“, sagt von Kleist.
Das lang wirksame Lenacapavir ist im Prinzip ein Ersatz der Impfung.
Max von Kleist, Daten-Experte
Was sind die Vorteile gegenüber der bereits zugelassenen Prophylaxe mit dem Wirkstoff Truvada in Tablettenform?
Weil Lenacapavir so selten genommen werden muss, schließe das eine Lücke in der Infektionsvorsorge, sagt Max von Kleist. „Man muss nicht darüber nachdenken.“ Ob der Schutz aber effizienter ist im Vergleich zur täglichen Tablette, sei schwer zu beantworten. „Wenn jemand täglich Truvada einnimmt, dann ist der Schutz nahezu komplett, wir reden hier über mehr als 90 Prozent.“ Ob jetzt Lenacapavir zu 99,9 Prozent effizient sei oder zu 95 Prozent, das werde man in einer klinischen Studie nicht herausfinden, sagt der Datenexperte.
Macht Lenacapavir die Forschung nach einem HIV-Impfstoff überflüssig?
Seit mehr als 30 Jahren wird nach einem Impfstoff gegen HIV gesucht, mit der das Immunsystem fit gemacht werden soll, HI-Viren abzuwehren – bisher ohne Erfolg. „Das lang wirksame Lenacapavir ist im Prinzip ein Ersatz der Impfung“, sagt Max von Kleist. „Mit den genannten Nachteilen einer Resistenzproblematik.“
Die Impfstoffforschung für HIV sei dennoch wichtig, weil sie viele Nebenresultate liefere, die für die HIV-Forschung sehr wichtig sind. Dazu gehöre ein immer besseres Verständnis der Interaktion zwischen dem menschlichen Immunsystem und den HI-Viren. „Dieses besser Verständnis könnte einmal in der Zukunft helfen, HIV zu heilen“, sagt von Kleist.
Wann wird Lenacapavir als Prep auf den Markt kommen und was wird eine Dosis kosten?
Man rechne mit einer Zulassung von Lenacapavir für die Prep in der EU im Jahr 2025, heißt es beim Hersteller Gilead. Angaben zum voraussichtlichen Preis will das Unternehmen nicht machen. „Ohne Zulassung kann man noch keinen Preis kalkulieren“, sagt Nicole Stelzner, Mitglied der Geschäftsleitung der Gilead Sciences GmbH auf einer Tagesspiegel-Expertenrunde zur Zukunft der HIV-Versorgung in Deutschland am Donnerstag.
Der Preis werde in den Industriestaaten aber höher liegen, als in Regionen beispielsweise in Afrika oder Asien, wo Gilead mithilfe von Lizenznehmern einen Preis auf dem Niveau von Generika anstrebe. Nach eigenen früheren Angaben habe Gilead mit sechs Firmen freiwillige Lizenzverträge für ein Lizenzgebiet von 120 Ländern vereinbart.
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