
© Deutsche Gesellschaft für ME/CFS/LEA ARING
Ein Leben mit ME/CFS ist ohne Leben: Seit sechs Monaten verlässt meine Tochter ihr Bett kaum noch
Durch die Krankheit ihres 15-jährigen Kindes ist für Familie Ziche aus Friedrichshain nichts mehr so, wie es war. Doch aufgeben ist für ihre Mutter Angela keine Option. Sie berichtet, warum.
Stand:
Am 13. November letzten Jahres legte sich meine 15-jährige Tochter Maya mit einem „Krankheitsgefühl“ ins Bett. Sie hat es fortan kaum noch verlassen. Das Datum habe ich so genau im Kopf, weil mein Vater am 12. November seinen 75. Geburtstag gefeiert hat. Ein großes Fest, ein ganzes Wochenende zusammen mit Opa, Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen und nicht zu vergessen: Hund.
Das letzte Mal mit der Familie zusammen sein, das letzte Mal spazieren gehen. Die letzten Fotos außerhalb der Wohnung. Das Foto von meiner Tochter, den Hund meines Bruders an der Leine, hat sich in mir eingebrannt, der letzte Weg Normalität.
Im Zug von Kassel zurück nach Berlin wollte meine Tochter eigentlich für anstehende Klassenarbeiten lernen, doch kaum setzt sich der Zug in Bewegung, schläft sie ein. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, geht es ihr nicht gut. Sie fühlt sich krank. Ich entschuldige sie für die nächsten Tage. Es bleibt nicht bei einigen Tagen, die Schule hat sie bis heute nicht mehr besucht.
Für ihre Freundinnen geht das Leben weiter, sie schreiben Arbeiten, machen ihren Mittleren Schulabschluss (MSA), verlieben und zerstreiten sich, fahren nach Paris, Italien oder sonst wohin. Maya hat seit einem halben Jahr die Wohnung nicht verlassen. Sie ist an ME/CFS erkrankt. Wahrscheinlich hat das etwas mit zwei Infektionen kurz zuvor zu tun. Anfang 2023 war sie am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt. Sie hatte sich davon gerade erst wieder erholt, als einige Monate später Corona sie erwischte.
Der einzige Weg, den Maya noch zurücklegt, ist der Gang zur Toilette.
Angela Ziche, Mutter
Während sich der Aktionsradius in ihrem Alter normalerweise ausweitet, vom Elternhaus wegbewegt, schränkt sich ihrer zusehends ein. Konnte sie sich zu Beginn ihrer Erkrankung noch stundenweise im Wohnzimmer aufhalten, die Mahlzeiten mit uns zusammen einnehmen, ist sie momentan nicht in der Lage, ihr Zimmer zu verlassen. Sie liegt im Bett. Der einzige Weg, den sie noch zurücklegt, ist der Gang zur Toilette. Glücklicherweise liegt das Badezimmer direkt neben ihrem Zimmer, die Treppe ins Obergeschoss unserer Wohnung würde sie nicht schaffen.

© privat
Doch nicht nur körperlich ist sie erschöpft. Jegliche Form von Reizen – auch geistiger und emotionaler Art – belasten sie. Vor ihrer Erkrankung hat sie Nächte durchgelesen, inzwischen hat sie Probleme, den Inhalt einer Postkarte zu erfassen. Sie leidet an dem sogenannten Brainfog, Gehirnnebel. Wie sich das für sie anfühlt, mag ich mir gar nicht ausmalen. Früher war meine Tochter ein aktives Kind. Sie hatte viele Pläne, wollte mit ihren Freundinnen und Freunden reisen, war kreativ. Kurz vor der Erkrankung hatte sie sich in einen Kurs für Kickboxen eingeschrieben und freute sich schon sehr darauf, auf dem Schulball zu tanzen. Doch das alles ist jetzt nicht möglich.
Ich würde ihr gerne mehr für sie tun, ihr Nähe schenken, ein Buch vorlesen oder einen Film mit ihr zusammen schauen, ihr einen Weg aus der Isolation bieten. Ich finde keinen.
Angela Ziche, Mutter
Soziale Interaktionen sind ihr zu viel. „Menschen strengen an“, sagt sie. Also strengen auch ihr Vater und ich sie an. Es zerreißt mir das Herz, dass unser Kontakt sich auf mehrere, kurze Sequenzen am Tag beschränkt. Meistens bringe ich ihr dann etwas zu Essen und Trinken. Ich würde ihr gerne mehr für sie tun, ihr Nähe schenken, ein Buch vorlesen oder einen Film mit ihr zusammen schauen, ihr einen Weg aus der Isolation bieten. Ich finde keinen.
Wenn sie zu schwach zum Sprechen ist, verständigen wir uns mit Handzeichen oder sie schreibt, das ist einfacher für sie. An manchen Tagen geht es ihr besser und wir unterhalten uns. Dann herrscht für einige Minuten Normalität. Sie erzählt von ihren Freundinnen, zu denen sie – Gott sei Dank! – noch per Whatsapp und Co Kontakt hat oder von der Weltreise, die sie zusammen mit einer Freundin nach der Schule plant. Diese Momente halten mich am Leben, geben mir Hoffnung, dass sie wieder gesund wird.
Eine alltägliche Tätigkeit wie Duschen wird zu einer Risikoabwägung, denn schlechter darf ihr Zustand nicht werden.
Angela Ziche, Mutter
In der Zwischenzeit muss sie aufpassen, dass sie mit ihren wenigen Energien haushaltet und sich nicht zu stark belastet. Die Belastungsintoleranz oder auch PEM ist Bestandteil ihrer Erkrankung. Jede Überlastung birgt die Gefahr einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustands. Und so wird eine alltägliche Tätigkeit wie Duschen zu einer Risikoabwägung, denn schlechter darf ihr Zustand nicht werden. Es ist schon jetzt ein Leben ohne Leben.
Mein Kind ist krank, und wir sind mit dem Schicksal weitgehend alleine gelassen. Es gibt keine Therapie, die Heilung verspricht. Medikamente, die Symptomen entgegenwirken, werden Off-Label verschrieben und müssen in der Regel selbst bezahlt werden. Therapien wie Blutapheresen kosten Tausende Euro und sind keine Garantie für Besserung. ME/CFS wurde jahrelang von Politik und Forschung ignoriert. Erst die vielen Long-Covid-Patienten zwingen zum Handeln.
Ärzte und Therapeuten, die sich auskennen, gibt es kaum. Die, die es gibt, werden überrannt oder behandeln privat. Zunächst bin ich fassungslos über Terminvorschläge, die Monate in der Zukunft liegen und irritiert über Honorare, die von Spezialisten aufgerufen werden, finde es moralisch verwerflich, so viel Geld von verzweifelten Familien zu verlangen. Eine Krankheit, die man sich leisten können muss. Wie kann das sein?
Alles, was Besserung verspricht, sind wir bereit zu bezahlen.
Angela Ziche, Mutter
Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate, und meine Tochter ist immer noch krank. Es geht ihr immer schlechter. Mit der Zeit, die vergeht, verschwimmen zeitliche und finanzielle Relationen. Alles, was Besserung verspricht, sind wir bereit zu bezahlen. 320 Euro für einige Onlinetermine Physiotherapie erscheinen mir geradezu günstig, wochenlanges Warten auf die erste Sitzung nehme ich gerne in Kauf. Wir dürfen uns glücklich schätzen, überhaupt behandelt zu werden.
Wir probieren mehrere Medikamente, alles Off-Label, also auf eigenes Risiko. Mein Kind wird zum medizinischem Studienobjekt, anders geht es nicht. Bisher haben wir noch nichts gefunden, was hilft, aber wir geben nicht auf. Denn Aufgeben ist keine Option.
Manchmal durchzieht meinen Körper eine Welle von Traurigkeit, und ich kann nichts gegen die Tränen machen.
Angela Ziche, Mutter
Manchmal bin ich gelähmt vor Angst. Was ist, wenn es meiner Tochter nie besser gehen wird? Ich lese von jahrelang nicht Genesenen. Schnell verbiete ich mir die Gedanken daran, was das bedeuten würde. Manchmal durchzieht meinen Körper eine Welle von Traurigkeit, und ich kann nichts gegen die Tränen machen, die sich den Weg nach draußen suchen. Erst die Pandemie und jetzt diese unbegreifliche Krankheit, die so viel Leid verursacht und Kraft kostet. Meine Erwartung an die Jugend meiner Tochter war eine andere. Wenn es ginge, ich würde sofort mit ihr tauschen.
Dann kommt die Wut. Wut darüber, dieser Erkrankung so hilflos gegenüberzustehen, Verzweiflung darüber, dass es keine Hilfe gibt und es anscheinend niemanden interessiert. In meiner Vorstellung dresche ich mit dem Baseballschläger auf Autos ein. Das fühlt sich gut an und ich hoffe, dass ich diese Gedanken nicht eines Tages in die Tat umsetzen werde.
Und dann bin ich dankbar. Dankbar für die Ärztin, die wir gefunden haben. Die zwar keine Wunder bewirken kann, die die Erkrankung aber in ihrer Schwere begreift und versucht zu helfen. Dankbar für meine Kolleginnen, die mit mir fühlen und verstehen, dass ich in den kommenden Monaten von der Arbeit freigestellt bin, um meine Tochter zu pflegen. Dankbar dafür, dass wir uns das finanziell leisten können, denn bezahlt ist die Zeit nicht.
Dankbar bin ich auch für Freunde und Familie, Menschen die mir nahestehen und einsehen, dass meine Kraft nicht immer reicht, mich aus eigener Initiative zu melden. Die mich auffangen, meine Trauer akzeptieren, mich erden und mir Hoffnung geben. Dankbar für die Oma, die meiner Tochter morgens Blumengrüße schickt und für den Opa, der einen Schneemann im April für sie baut. Für die Freundinnen, die kleine Geschenke für sie abgeben. Alles was zeigt „Wir denken an euch, ihr seid nicht allein!“ tut so gut.
Unterstützung und Hilfe finde ich im Austausch mit Familien, deren Kinder ebenfalls schwer betroffen sind. Es sind viele, zu viele: Schätzungsweise sind alleine in Deutschland 40.000 Kinder und Jugendliche an ME/CFS erkrankt. Hoffnungen machen mir Eltern, deren Kinder genesen sind und jetzt ihr Abitur nachholen oder die Uni besuchen. Hoffnung auf ein erstes Mal zusammen am Tisch sitzen, ein erstes Mal gemeinsam spazieren gehen, ein erstes Mal Freunde und Familie treffen. Hoffnung auf ein Leben danach.
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