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Grafik einer Frau, die aus einem Labyrinth in die Ferne schaut (Symbolbild)

© Getty Images

Elke Lemke hat beschlossen zu sterben: „Die Krebsdiagnose war fast eine Erleichterung“

Elke Lemke geht selbstbestimmt aus dem Leben. Am Tag zuvor erzählt die Berlinerin, warum sie sich so entschieden hat – und wie sie sich ihren Tod vorstellt.

Von Nils Aguilar

Stand:

Frau Lemke, Sie werden morgen sterben. Wie fühlen Sie sich?
Ich fühle mich psychisch stark. Körperlich natürlich nicht, denn ich habe metastasierten Krebs im Endstadium.

Was ich selbst erstaunlich finde, ist mein Einverstandensein mit allem, mit meinem Leben, meinen Liebsten, selbst mit Leiden und Krankheit und letztlich mit der von mir gewählten Option, über einen Sterbehilfeverein freibestimmt, sicher und human sterben zu dürfen.

Die Palliativmedizin lindert Leiden. Trotzdem wählen Sie den Freitod. Ist die drohende Pflegebedürftigkeit der Grund?
Ganz schmerzfrei geht es auch mit der Palliativmedizin nicht. Und nicht ohne Nebenwirkungen, die mich bereits jetzt belasten. Es liefe darauf hinaus, mit getrübtem Bewusstsein zu warten, dass der Körper aufgibt.

Ich möchte so gern bis zuletzt Sinnvolles tun und diesen Moment, von dem ich weiß, dass er der letzte ist, bei klarem Verstand miterleben.

Niemals käme für mich eine Pflegebedürftigkeit infrage, in der ich komplett abhängig wäre, vor allem wenn Angehörige oder auch noch so liebevolle Pflegekräfte intimste Bereiche meines Körpers berühren müssten.

Gerade das Erleben der zunehmenden Körperschwäche, Atemnot und Erblindung lässt sich mit meiner Vorstellung von Lebensqualität jetzt nicht mehr vereinbaren.

Elke Lemke

Wie erkennen Sie, dass Sie an dem Punkt angekommen sind, wo Sie Ihr Leben wirklich ausgereizt haben?
Ich wäre schon vor drei Wochen bereit gewesen, zu sterben. Gemeinsam mit meinem Palliativarzt ist es ein tägliches Austarieren der Medikamente, um eine Balance zu finden zwischen dem Ziel der Symptomkontrolle und Nebenwirkungen, um mein Restleben erträglich zu halten. Aber gerade das Erleben der zunehmenden Körperschwäche, Atemnot und Erblindung lässt sich mit meiner Vorstellung von Lebensqualität jetzt nicht mehr vereinbaren.

Seit wann beschäftigt Sie das Thema Suizid?
Ich habe bereits mit 14 Jahren über Suizid nachgedacht, weil ich vom Kleinkindalter an zu wenig schlafen konnte und nie tief. Die jahrzehntelange tägliche Erschöpfung zog mir so viel Energie ab, dass ich oftmals nicht wusste, wie ich den Tag bis zum Abend bewältigen sollte. Der Suizidgedanke blieb immer in mir.

Trotzdem waren Sie berufstätig, haben sogar promoviert.
Ich habe früher als Kinderpsychologin gearbeitet und genau ein Jahr durchgehalten. Einen Job zu kündigen, war zu DDR-Zeiten aber unüblich und unerwünscht. Die Promotion war die einzige Möglichkeit, nicht mehr wie andere Menschen frühmorgens aufstehen und funktionieren zu müssen. Deshalb habe ich später nie wieder in Anstellung gearbeitet, sondern immer freiberuflich, unter anderem auch als psychologische Einzelfallhelferin.

Endlich wurde mir die Entscheidung abgenommen, wie lange ich noch durchhalten kann und will.

Elke Lemke über ihre Krebsdiagnose

War Suizid in Ihrer Patientenarbeit ein Thema?
Selbstverständlich. Wenn man mit psychiatrischen Patienten arbeitet und ehrlich, offen und urteilsfrei kommuniziert, sind Suizidgedanken beinahe bei jedem präsent. Selbst mein Bekanntenkreis besteht fast ausschließlich aus Menschen, die das Bedürfnis haben, aufrichtig über jegliche „Tabu“-Themen zu sprechen.

Wie haben Sie auf Ihre eigene tödliche Diagnose reagiert?
Schon bevor die Befunde vorlagen, waren die Schmerzen so stark, dass ich mich und meinen Sohn Erik auf das Schlimmste vorbereitet habe. Die Ergebnisse kamen also nicht als Schock, sondern mitten in einem Akzeptanzprozess, in dem wir uns bereits befanden.

Seit 2012 leide ich zusätzlich an einer chronischen Mastoiditis, einer Entzündung des Schädelknochens hinter dem rechten Ohr. Drei OPs am Kopf haben die Schmerzen, das permanente Dröhnen und den Hörverlust rechts nur noch schlimmer gemacht. So war die Krebsdiagnose fast eine Erleichterung. Endlich wurde mir die Entscheidung abgenommen, wie lange ich noch durchhalten kann und will.

Es hat einfach eine komische Seite, wenn man den Kühlschrank aufmacht und sämtliche Lebensmittel länger haltbar sind als man selbst.

Elke Lemke

Wie geht Ihr Sohn damit um?
Er kam mit dem Tod früh in Berührung, als ein Junge aus seiner Kindergartengruppe bei einem Fenstersturz ums Leben kam. Nächtelang habe ich damals an seinem Bett gesessen.

Auch durch seine eigene Geschichte – er ist jetzt 42 Jahre alt und steht in Barcelona kurz vor einer Organtransplantation – hat er mittlerweile eine bemerkenswerte Gelassenheit entwickelt. Er setzte sich vor vier Wochen sofort in den Flieger zu mir nach Berlin. Ich war dagegen, weil er in keinem guten gesundheitlichen Zustand ist. Er wollte unbedingt noch einmal lange genug mit mir zusammen sein, dass sich eine Art Alltag einstellt.

Und klappt das?
Auf jeden Fall. Es gibt Augenblicke, in denen sich alles wie immer anfühlt, wenn ich zum Beispiel „Germany’s Next Topmodel“ im Fernsehen schaue und er nebenan Klavier spielt. Wie immer lachen wir auch viel. Ich meine, es hat einfach eine komische Seite, wenn man den Kühlschrank aufmacht und sämtliche Lebensmittel länger haltbar sind als man selbst. Wenn ich pedantisch die dunklen Stellen am Apfel rausschneide und was von Apfelkrebs erzähle, fragt er, ob darin das Geheimnis meiner Langlebigkeit liegt. Schon sind wir wieder am Lachen.

Wer wird morgen am Sterbebett sitzen?
Natürlich mein Sohn. Dann die Ärztin und eine Mitarbeiterin des begleitenden Vereins. Mit beiden bin ich seit Wochen in engem Austausch. Und schließlich habe ich noch eine Freundin bei mir. Sie hat ein fürsorgliches Wesen und ist zugleich im Umgang mit dem Tod gelassen genug, um nichts von einer Weiterexistenz jenseits der physischen Welt erzählen zu müssen.

Nichts von einer Weiterexistenz?
Ich verstehe, dass Menschen Vorstellungen entwickeln, die sie mit dem Tod versöhnen. Vielleicht könnte ich mich auch in so etwas hineinsteigern. Aber ich wäre mir gegenüber unaufrichtig und würde Hoffnungen in eine Zukunft projizieren, über die ich nichts weiß.

Ich spüre den Schmerz, aber ich bin nicht der Schmerz.

Elke Lemke

Ihre Familie verabschiedet sich nicht?
Vielen Freunden und der Familie habe ich nichts erzählt. Telefonate, Mails, Verabschiedungen, mich der Trauer und dem Schmerz der anderen zuwenden zu müssen und dabei noch innerlich ruhig und glücklich zu bleiben, würde übermenschliche Kräfte erfordern. Und Ruhe und Glück sind doch das, was ich mir so sehr gewünscht habe.

Was raten Sie sterbenskranken Menschen?
Ich möchte keine Ratschläge erteilen, aber ich kann sagen, was mir hilft. Meine Methode, mit schwerer Krankheit umzugehen, ist Desidentifikation. Das bedeutet, objektiven Schmerz von subjektivem Leiden mental zu trennen. Leiden entsteht durch unsere Anhaftung an den Schmerz – durch Üben, zum Beispiel mithilfe von Meditation, kann ich diese lösen. Oder einfacher formuliert: Ich spüre den Schmerz, aber ich bin nicht der Schmerz.

Aus Ihrer heutigen Sicht: Gibt es etwas im Leben, das wichtiger ist als alles andere?
Das wird Sie nicht überraschen: Ich denke, es ist Liebe – zu sich selbst und zu anderen – und das Verständnis, dass wir alle miteinander verbunden sind. Könnten wir das wirklich verinnerlichen, gäbe es keine Ausgrenzung, keinen Hass und keine Kriege. Dass Sterbende solche Gedanken immer wieder äußern, sollte ernsthaft zu denken geben.

Ich möchte das allmähliche Verschwinden der äußeren Welt in meinem Inneren ganz bewusst wahrnehmen.

Elke Lemke über die Erwartung an ihre letzten Minuten

Haben Sie noch irgendwelche Sorgen oder Ängste?
Meine letzte Sorge ist tatsächlich, dass meine ärztliche Sterbebegleiterin verhindert sein könnte oder etwas anderes dazwischenkommt. Da sehen Sie: So gelassen, wie ich gern wäre, bin ich leider nicht. Entwicklungspotenzial nach oben gibt es selbst jetzt noch.

Wie stellen Sie sich Ihre letzten Minuten morgen vor?
Ich möchte das allmähliche Verschwinden der äußeren Welt in meinem Inneren ganz bewusst wahrnehmen.

Vielen Dank für Ihre Zeit und das offene Gespräch!
Ich danke Ihnen.

Der 17. März 2025 ist der Todestag von Elke Lemke. Ihr Sohn Erik ist an diesem Tag bei ihr und beschreibt die letzten Stunden seiner Mutter (protokolliert von Nils Aguilar):

„Meine Mutter erwacht um 8:25 Uhr und ist überglücklich. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie zwei Wecker überhört – ein Effekt der Benzodiazepine, eines angstlösenden und schlaffördernden Medikaments. Nun endlich darf sie es so nehmen, wie sie es wirklich braucht. Bisher musste sie die Medikamente wegen der hohen Suchtgefahr sehr vorsichtig dosieren.

Sie nimmt sich drei Stunden Zeit im Bad, um sich, wie sie es nennt, ,zum Menschen zu machen’. Ihre Augenbrauen ziehe ich ihr nach, da ihr Sehvermögen inzwischen auch auf dem zweiten Auge schwindet.

Um 13 Uhr treffen die Ärztin, die Mitarbeiterin des Sterbehilfevereins und eine enge Freundin ein.

Meine Mutter und ich ziehen uns ins Wohnzimmer zurück, wo wir einander kurz umarmen. Die eigentliche, tränenreiche Verabschiedung hat am Vortag stattgefunden. Heute soll einzig jener befreiende Moment im Mittelpunkt stehen, den sie sich ihr Leben lang vorgestellt hat.

In der Küche übernimmt sie ein letztes Mal die Rolle der Gastgeberin und macht die Anwesenden miteinander bekannt. Sie trägt einen eleganten schwarzen Hosenanzug, nur ihr leicht gekrümmter Rücken verrät ihre Schwäche.

Die Atmosphäre erinnert eher an ein Treffen unter Freunden als an einen Arztbesuch mit Todesfolge. Es entspinnt sich eine halbstündige Plauderei, niemand drängt zur Eile. Dann wechseln alle ins Schlafzimmer, wo der Tropf bereitsteht.

Aufgrund ihrer Medikamentenvorgeschichte besteht meine Mutter auf eine ungewöhnlich hohe Dosis des Medikaments Thiopental, ein Narkosemittel, das in hoher Dosierung tödlich wirkt. Acht Gramm sollen es sein, sie will sicher sein, dass alles wie gewünscht verläuft. Eine Nachdosierung wäre den Begleitern verboten, denn das wäre eine aktive Sterbehilfe, die in Deutschland verboten ist.

Nach einem Probelauf mittels Kochsalzlösung öffnet sie selbst die Thiopental-Infusion. Wenige Sekunden später schläft sie friedlich ein. Der Tod wird um 14:37 Uhr festgestellt.

Da assistierte Suizide als nicht-natürliche Todesart gelten, muss die Kriminalpolizei hinzugezogen werden. Dank der lückenlosen Dokumentation und der übereinstimmenden Zeugenaussagen verzichten die Beamten auf eine Versiegelung der Wohnung. Den Leichnam beschlagnahmen sie dennoch, bis er von der Staatsanwaltschaft freigegeben werden kann.

Um 17 Uhr verlassen Bestatter, Polizei, die Ärztin und die Mitarbeiterin des Sterbehilfevereins die Wohnung. Noch eben hatte meine Mutter diesen Ort geprägt – nun wirkt er bereits wie das Relikt eines vergangenen Lebens.“

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