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Dr. Magnus Heier

© Stefan Braun

Propheten, Pilger und Psychosen: Warum so viele Menschen dem Jerusalem-Syndrom verfallen

Sie fühlen sich wie Jesus, Maria oder Moses – und glauben fest an sich. Doch eigentlich leiden sie unter einer akuten Psychose. Eine neue Folge der Kolumne „Im Weißen Kittel“.

Eine Kolumne von Dr. Magnus Heier

Auf den Straßen von Jerusalem sieht man Schauspieler, die als König David oder als Moses Geld verdienen. Oder sind sie echt? Wobei „echt“ der falsche Begriff ist: Sind sie dem Jerusalem-Syndrom verfallen? Immer wieder fallen in Jerusalem Menschen auf, die – als Abraham, Jesus oder Maria verkleidet – zu glauben scheinen, dass sie es wirklich sind. In Jerusalem, dem lauten und aggressiven Schmelztiegel dreier Religionen, fallen diese Personen häufiger auf, als sonst auf der Welt. Die erste wissenschaftliche Beschreibung lieferte der Jerusalemer Psychiater Heinz Hermann in den 1930er Jahren. Aber schon im Mittelalter wurden ähnliche Beobachtungen festgehalten.

Die moderne Psychiatrie hat eine Diagnose: eine „akute vorübergehende psychotische Störung“. Die Krankheit beginnt meist nach akuter Belastung. Und das ist in diesem Fall die Stadt Jerusalem selbst: Weil religiöse Menschen in dieser Stadt von einem Übermaß an religiösen Eindrücken geflutet werden. Weil sie dort auf laute Pilger aller Religionen treffen. Und weil schon die Erwartung der „Heiligen Stadt“ ein entsprechender Trigger ist. Über tausend Touristen sollen in den letzten Jahrzehnten mit entsprechenden Symptomen behandelt worden sein – auch in anderen religiösen Pilgerzentren wie Mekka oder Rom, aber eben vor allem in Jerusalem.

Eine akute Psychose besteht aus Wahnvorstellungen („ich bin Jesus“), aber auch aus Halluzinationen („die Stimmen geben mir Befehle“). Für die Betroffenen ist das Geschehen vollkommen real – egal ob Jerusalem-Syndrom oder eine andere Psychose. Ein Patient in der Psychiatrie sah den Teufel neben sich stehen – und war fassungslos, dass wir ihn nicht sehen konnten. Beruhigende Worte halfen ihm nicht, der Teufel war für ihn echt. Und er hielt sich selbst für gesund!

Aber ebenso echt war die Wirkung der Medikamente und der nichtmedikamentösen Therapie: schnell und hochwirksam. Beim Jerusalem-Syndrom reicht schon die Abreise nach Hause – in der gewohnten Umgebung klingen die Symptome oft von allein ab. Aber auch für andere Psychosen gilt: Sie sind gut zu behandeln.

Die bisher erschienen Folgen finden Sie auf der Kolumnenseite des Tagesspiegel.

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