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Nur wenige Menschen in Deutschland besitzen einen Organspendeausweis – gleichzeitig warten Tausende auf ein Spenderorgan.

© dpa/Hendrik Schmidt

Kaum Spender, lange Wartezeiten: Warum Deutschland bei der Organspende hinterherhinkt

Tausende warten in Deutschland auf eine Organtransplantation. Doch nur wenige Deutsche besitzen einen Spenderausweis. Auch Angehörige entscheiden sich oft gegen die Organentnahme.

Von Beatrice Vogel

Besitzen Sie einen Organspendeausweis? Oder eine Patientenverfügung, in der Ihr Wille zur Organspende festgehalten ist? Haben Sie schon einmal mit Angehörigen über das Thema gesprochen? Zumindest die ersten beiden Fragen dürften die meisten in Deutschland lebenden Menschen mit Nein beantworten. Und das, obwohl es für eine Organspende zwingend eine Entscheidung braucht – notfalls die der Angehörigen – und Tausende auf ein Organ warten.

Laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben 44 Prozent der Befragten ihre Entscheidung zur Organspende dokumentiert. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) liefert andere Zahlen. Gemäß ihrem Jahresbericht 2022 hatten nur 14,5 Prozent der als potenzielle Spender gemeldeten Personen ihren Willen schriftlich festgehalten und 18,4 Prozent diesen mündlich mitgeteilt. In fast zwei Dritteln der Fälle mussten die Angehörigen Vermutungen über den Willen des Verstorbenen anstellen oder selbst über die Organspende entscheiden.

8826
Organe werden in Deutschland benötigt.

Die unterschiedlichen Zahlen kommen wohl durch verschiedene Erhebungsmethoden zustande. Möglich ist auch, dass manche Menschen in der Umfrage nicht die Wahrheit gesagt haben – aus einem schlechten Gewissen heraus, oder weil sie noch planen, ihre Entscheidung festzuhalten, es aber noch nicht getan haben. „Vielleicht ist manchmal auch ein Organspendeausweis vorhanden, aber niemand der Angehörigen weiß davon“, sagt Kai-Uwe Eckardt, Direktor der Klinik für Nephrologie und Internistische Intensivmedizin der Charité in Berlin. Seine Erfahrung decke sich eher mit den Zahlen der DSO, sagt er.

In Spanien oder Österreich wartet man weniger als vier Jahre

In Deutschland warten Patienten sehr lange auf ein Spenderorgan. Gemäß dem DSO-Jahresbericht werden insgesamt 8826 Organe benötigt. Besonders lang ist die Warteliste für eine Niere. Die durchschnittliche Wartezeit dafür beträgt acht bis zehn Jahre. „Die Wartezeiten sind leider in Deutschland viel länger als in den meisten anderen europäischen Ländern“, sagt Kai-Uwe Eckardt. „Patienten in unseren Nachbarländern warten vielfach nur halb so lange. In einigen Ländern wie Spanien oder Österreich liegt die Wartezeit deutlich unter vier Jahren.“

Kai-Uwe Eckardt ist Professor an der Charité in Berlin. Er leitet die medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nierenerkrankungen und  internistische Intensivmedizin.
Kai-Uwe Eckardt ist Professor an der Charité in Berlin. Er leitet die medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nierenerkrankungen und internistische Intensivmedizin.

© Simone Baar

Das hat verschiedene Gründe. „Die Zahl der Organspender ist im Verhältnis zur Bevölkerungszahl schlicht sehr klein“, so Eckardt. Sie liege in Deutschland bezogen auf eine Million Einwohner bei 10,3. Zum Vergleich: In Spanien liegt sie bei 46,3. Dort ist aber nicht nur die Einstellung der Bevölkerung, sondern auch die Gesetzeslage eine andere. In Deutschland dürfen nur nach einem Hirntod Organe entnommen werden – die machen aber nur zwei Prozent aller Todesfälle aus. Demgegenüber dürfen in anderen Ländern wie Spanien auch bei einem Tod durch Kreislaufstillstand Organe gespendet werden.

Interessant sind auch folgende Zahlen aus dem DSO-Jahresbericht 2022: Wenn ein schriftlicher Wille festgehalten wurde, fällt dieser zu 76,3 Prozent für eine Organspende aus, bei einer mündlichen Willensäußerung immerhin zu 58,3 Prozent. Geht es aber rein nach dem Willen der Angehörigen, liegt der Zuspruch zur Spende bei nur 21,1 Prozent. Die Zahlen deuten darauf hin, dass die meisten Menschen eigentlich pro Organspende wären. Trotzdem entscheiden sich Angehörige im Zweifelsfall oft dagegen.

Umfragen zeigen immer wieder, dass eine große Mehrheit von über 80 Prozent der Bevölkerung der Organspende positiv gegenübersteht.

Kai-Uwe Eckardt, Intensivmediziner und Nierenspezialist

Der Nephrologe bestätigt das: „Umfragen zeigen immer wieder, dass eine große Mehrheit von über 80 Prozent der Bevölkerung der Organspende positiv gegenübersteht“, so Eckardt. „Was nicht gelingt, ist die Umsetzung dieser positiven Grundeinstellung in die Praxis.“ Einen Organspendeausweis haben die wenigsten. „Die Auseinandersetzung mit der Organspende bedeutet eine Beschäftigung mit dem eigenen Tod, den alle gerne verdrängen. Das ist ein sehr emotionales Thema, das rational nur schwer anzugehen ist.“

Auch der Umgang der Gesellschaft mit dem Thema sei wichtig: „Würde die Zahl der transplantierten Organe plötzlich stark steigen, wäre die Reaktion der Deutschen wohl Skepsis“, meint Eckardt. Anders in Spanien, wo die Solidarität in Sachen Organspende zum Nationalstolz gehört. „Wird dort die Spenderstatistik publiziert, freuen sich die Leute, wenn die Zahl gestiegen ist.“

Entscheidungslösung versus Widerspruchslösung

In Deutschland gilt für die Organspende die sogenannte Entscheidungslösung. Das bedeutet: Die Einwilligung ist unabdingbare Voraussetzung für die Organspende. Idealerweise hat der Verstorbene seinen Willen schriftlich festgehalten, etwa mit einem Organspendeausweis oder in einer Patientenverfügung. Hat der Patient nicht selbst eine Entscheidung getroffen, werden die nächsten Angehörigen gefragt. Die Entscheidungslösung entspricht damit der erweiterten Zustimmungslösung. Neu ist seit 2022, dass die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig neutral und ergebnisoffen über die Organ- und Gewebespende informiert werden sollen, zum Beispiel beim Hausarzt oder beim Bürgeramt.

Ich halte die Widerspruchsregelung für ein sinnvolles Instrument, um die positive Grundeinstellung der Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen und die Belastung der Angehörigen zu reduzieren.

Kai-Uwe Eckardt, Intensivmediziner und Nephrologe

Auch die Krankenkassen sollen Aufklärung betreiben. Sie sind gesetzlich dazu verpflichtet, alle Versicherten über 16. Jahren regelmäßig über das Thema Organspende zu informieren. „Dieser Verpflichtung kommen die Kassen selbstverständlich nach“, heißt es bei der Pressestelle des GKV-Spitzenverbands auf Anfrage. Laut der eingangs zitierten BZgA-Umfrage wünschen sich jedoch 44 Prozent der Befragten mehr Informationen zur Organspende – je jünger die Befragten, umso höher der Bedarf.

In vielen anderen Ländern gilt derweil die sogenannte Widerspruchsregelung: Wer keine Organe spenden will, muss dies ausdrücklich festhalten oder mitteilen. Wer schweigt, wird automatisch zum Spender. Allerdings haben auch die nächsten Angehörigen ein Widerspruchsrecht. „Ich halte die Widerspruchsregelung für ein sinnvolles und probates Instrument, um die grundsätzlich positive Grundeinstellung der Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen und die Belastung der Angehörigen zu reduzieren“, sagt der Nephrologe Kai-Uwe Eckardt. Dabei hätten Menschen weiterhin die Möglichkeit, sich bewusst gegen eine Spende der eigenen Organe zu entscheiden.

Selbstverständlichkeit von Organspende fehlt

Verbesserungspotenzial gibt es jedoch nicht nur in der Politik, sondern auch im Gesundheitswesen selbst. Die Feststellung eines Hirntods ist hochgradig reglementiert aufwendig. Ebenso ist es ein großer Aufwand, Organe zu transplantieren, auch logistisch. Es gibt Ärzte und Kliniken, die diesen Aufwand scheuen oder denen schlicht die Routine fehlt – auch weil ein Hirntod nur selten vorkommt. „Es finden sich sehr leicht Gründe, um die Organspende nicht durchzuführen“, sagt Kai-Uwe Eckardt. „Deshalb liegt es oft am Engagement einzelner Ärzte, wenn eine Transplantation vorgenommen wird.“ Wäre Organspende eine Selbstverständlichkeit, würden mehr Ärzte und Kliniken den Aufwand in Kauf nehmen, ist der Nephrologe überzeugt.

Wer sich für eine Organspende entscheidet, kann unter Umständen gleich mehreren Menschen das Leben retten oder es zumindest verlängern. Und in den meisten Fällen gelingt das, sagt Eckardt: „Nach einem Jahr haben beispielsweise über 95 Prozent, nach fünf Jahren über 85 Prozent der Nierentransplantate eine ausreichende Funktion.“ Akute Abstoßungen nach einer Transplantation seien sehr selten geworden. Der wichtigste Grund, warum ein Organ nach der Transplantation nicht richtig funktioniert, ist ein anderer: „Am meisten Probleme macht uns, dass wir angesichts des Organmangels häufig gezwungen sind, Organe Verstorbener zu akzeptieren, die für eine Transplantation nicht optimal geeignet sind.“

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