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Mehr Fälle von Keuchhusten und Diphtherie: Braucht es eine Impfpflicht für Kinderkrankheiten?
Für Masernimpfungen gibt es schon eine teilweise Verpflichtung. Aber auch andere Infektionskrankheiten sind auf dem Vormarsch. Ist eine Ausweitung der Impfpflicht die richtige Antwort darauf?
- Cornelia Betsch
- Helmut Fickenscher
- Tobias Tenenbaum
Stand:
Längst deutlich zurückgedrängte Kinderkrankheiten kehren zurück. Nach einem Rückgang während der Corona-Jahre gehen zum Beispiel aktuell die Fallzahlen mit Keuchhusten durch die Decke. 2024 steuert die Zahl der Erkrankungen – im medizinischen Fachjargon Pertussis genannt, was so viel heißt wie „starker Husten“ – auf ein Rekordjahr zu: Bis Mitte Oktober registrierte das Robert Koch-Institut rund 19.700 Fälle dieser meldepflichtigen Erkrankung. In den sechs Jahren vor der Corona-Pandemie von 2014 bis einschließlich 2019 lag die Zahl bei durchschnittlich 12.540 jährlich. In den Corona-Jahren bis einschließlich 2023 lagen sie noch einmal deutlich niedriger.
Auch Diphtherie macht Kinderärzten derzeit Sorgen. Zwar auf deutlich niedrigerem Niveau als Keuchhusten – durch die hohen Durchimpfungsraten sind Diphtheriefälle in Deutschland relativ selten – aber dafür durch dramatische Krankheitsverläufe. So musste ein in Berlin erkrankter Zehnjähriger auf einer Intensivstation beatmet werden. In den letzten Jahren registrierte das Robert-Koch-Institut jährlich um die 20 Diphtherie-Fälle. Doch im Jahr 2022 gingen die Fälle plötzlich deutlich nach oben auf 177. Der Hintergrund sei, dass viele Menschen nach Deutschland geflüchtet sind aus Ländern, in denen vergleichsweise wenige gegen die Erkrankung geimpft sind, sagen Experten.
Aber auch Impfskeptiker seien ein zunehmendes Problem, berichten Mediziner. Zeit also für eine Impfpflicht gegen Kinderkrankheiten, wie sie gegen Masern in Gemeinschaftseinrichtungen – für Kinder und ebenso dort Arbeitende – bereits seit 2020 gilt? Wir haben drei Expertinnen und Experten gefragt.
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Hartnäckige Impfverweigerer erreicht man mit der Impfpflicht nicht
Ich sehe aktuell keine Notwendigkeit einer Impfpflicht. Dass wir jetzt mehr Fälle von Diphtherie oder Keuchhusten registrieren, hat verschiedene Ursachen und geht nicht hauptsächlich auf eine vermeintlich wachsende Impfskepsis zurück. Wir haben seit vielen Jahren gerade bei der sogenannten Sechsfachimpfung im Kindes- und Jugendalter, die gegen Diphtherie, Keuchhusten und andere Erreger schützt, schon eine sehr gute Durchimpfungsquote von 90 bis 95 Prozent. Das lässt sich fast nicht mehr steigern. Trotz allen Mühen wird eine hundertprozentige Durchimpfungsrate nicht erreichbar sein.
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Auch mit einer verpflichtenden Impfung würde man die übrigen fünf Prozent nicht mehr erreichen. Denn dabei handelt es sich zum einen um sehr kleine Gruppe von hartnäckigen Impfverweigerern, deren verpflichtende Rekrutierung für die Impfung allein wegen der logistischen Probleme nicht machbar wäre. Zum anderen sind darunter aber auch Menschen, die noch nicht ausreichend informiert sind über die verfügbaren Impfungen. Diese Menschen erreichen wir nicht mit Zwang, sondern einer besseren Aufklärung und Überzeugungsarbeit
Wenn überhaupt, macht eine verpflichtende Impfung nur Sinn in Extremsituationen bei schweren, die Gesellschaft bedrohenden Erkrankungen. Zum Beispiel bei einer neuen, sich pandemisch ausbreitenden Erkrankung, gegen die es in der Bevölkerung noch keine Immunität gibt und schnell eine Grundimmunisierung aufgebaut werden muss.
Das Potenzial von Alternativen zur Impfpflicht ist noch nicht ausgeschöpft
Zwar haben Impfpflichten historisch Impfquoten erhöht, werden aber als Eingriff in die persönliche Freiheit wahrgenommen. Das kann zu Widerstand und Vertrauensverlust führen und die Bereitschaft für andere, freiwillig bleibende Impfungen senken.
In Deutschland ist das Potenzial von weniger eingriffsstarken, effektiven Alternativen noch lange nicht ausgeschöpft. Zum einen sollte die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Ärzt*innen und ihren Patient*innen systematisch unterstützt werden. Weiterbildungen in wissenschaftlich fundierten Gesprächstechniken können Ärzt*innen helfen, Falschinformationen effektiv zu korrigieren. Wichtig ist dabei, die Patient*innen nicht zu überreden, sondern Ängste ernst zu nehmen und sie so aufzuklären, sodass sie auf Basis von korrekten Fakten selbst eine Entscheidung treffen können.
Zum anderen brauchen wir dringend strukturelle Änderungen, wie ein System, das alle Patient:innen an eine Impfung erinnert, oder die Einrichtung niedrigschwelliger Impfangebote zum Beispiel in Apotheken oder am Arbeitsplatz.
Aufklärung ist besser als eine Impfpflicht
Wir verfügen über Impfstoffe, die schwere Infektionskrankheiten verhindern können. So konnten die Pocken eliminiert werden, Polio steht kurz davor und Röteln und Masern wurden stark zurückgedrängt. Der Nutzen der Impfungen wird von der Ständigen Impfkommission (STIKO) kontinuierlich wissenschaftlich bewertet und daraus entstehen die begründeten Impfempfehlungen.
Aufgabe der Ärzte und Ärztinnen ist es, diese Empfehlungen den Patienten/innen und gegebenfalls ihren Erziehungsberechtigten zu erläutern. Impfskepsis ist normal und sinnvoll; auf die Begründung kommt es an. Viele Impfskeptiker:innen können so überzeugt werden, was an sehr hohen Impfquoten in Deutschland deutlich wird, auch bei Keuchhusten und Diphtherie. Die Impfquoten sind auch im Vergleich zu den europäischen Ländern mit zusätzlichen Impfpflichten hoch.
Das Grundgesetz sollte nur nach strengen Kriterien für Impfpflichten eingeschränkt werden, nur bei besonders bedrohlichen, hoch ansteckenden Erkrankungen und bei hochwirksamen Impfstoffen. Aufklärung ist in der Regel besser als eine Impfpflicht. Wenn Eltern Impfungen für Ihre Kinder ablehnen, geht das aber über die eigene Selbstbestimmung hinaus.
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