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Geiseln in Gaza rücken in den Hintergrund: Für Netanjahu ist der Krieg im Iran eine willkommene Ablenkung
Israel hat seine Militäraktion in Gaza zuletzt heruntergefahren. Die Hamas ist geschwächt. Dennoch hält sie immer noch Dutzende israelische Geiseln fest.
Stand:
Die Normalität, die sich trotz des andauernden Krieges im Gazastreifen für die meisten Israelis eingeschlichen hatte, ist seit einer Woche vorbei. Seit dem Beginn der Kämpfe mit dem Iran in der vergangenen Woche ist das öffentliche Leben eingeschränkt.
Tägliche Raketenangriffe der Islamischen Republik zwingen die Israelis immer wieder in die Bunker und Schutzräume. Es werden Wohnhäuser getroffen – am Donnerstagmorgen sogar ein Krankenhaus im Süden des Landes.
Nicht nur die Welt blickt besorgt auf den Konflikt zwischen dem Iran und dem jüdischen Staat. Auch die Israelis vor Ort schauen andauernd auf ihre Handys, um den nächsten Raketenalarm nicht zu verpassen. Der Krieg in Gaza scheint von den Straßen und aus den Schlagzeilen verschwunden zu sein.
Dabei fliegt die Armee nach wie vor Luftangriffe im Gazastreifen. 53 Geiseln sind immer noch in der Gewalt islamistischen Hamas. Von ihnen sollen noch mindestens 20 am Leben sein. Die humanitäre Situation und Versorgung der Menschen in dem Küstenstreifen ist nach wie vor katastrophal.
Die von Israel und den USA eingerichtete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) hat nach eigenen Angaben mittlerweile vier Verteilstellen für Nahrungsmittel eröffnet, die meisten im Süden des Gazastreifens in der Nähe der Stadt Rafah.
Fast täglich gibt es Nachrichten von Todesopfern. Laut dem von Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium wurden bisher zwischen 300 und 400 Menschen im Zusammenhang mit der Verteilung von Lebensmitteln getötet.
Die israelische Armee überprüft mehrere Vorfälle im Gazastreifen
In Medienberichten machen Augenzeugen israelische Truppen für die meisten Vorfälle verantwortlich. Aber auch die Hamas und andere Milizen haben in mehreren Fällen offenbar das Feuer auf Zivilisten eröffnet. Die israelische Armee teilte mit, sie überprüfe mehrere Vorfälle.
Der Militäreinsatz im Gazastreifen sei derzeit nicht mehr so intensiv wie vor dem Krieg gegen den Iran, sagt Shira Efron, Leiterin der Forschungsabteilung des Israel Policy Forum.
Einige Truppen seien abgezogen worden, die Intensität der Kämpfe sei zurückgegangen. „Israel hat die Hamas so weit geschwächt, dass sie nur noch zu Guerilla-Angriffen imstande ist.“

© dpa/Rizek Abdeljawad
Der Stillstand kommt laut Efron daher, dass die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu noch nicht entschieden habe, wie es im Gazastreifen weitergeht.
Extrem rechte Minister im Kabinett fordern eine vollständige Besetzung. Das Problem mit Gaza könne aber nicht militärisch gelöst werden, sagt Efron, sondern nur politisch.
Einige israelische Kommentatoren werfen Netanjahu vor, mit dem Angriff gegen den Iran vom Vorgehen der Armee im Gazastreifen ablenken zu wollen.

© AFP/MENAHEM KAHANA
Dieser Kritik stimme sie zu, sagt Efron. Für den wohlvorbereiteten Schlag gegen das iranische Atomprogramm habe sich mit der Wahl von US-Präsident Donald Trump im vergangenen Jahr ein diplomatisches und operatives Fenster ergeben.
Der Krieg hilft Netanjahu, von der schwindenden Zustimmung in der Bevölkerung gegen den Krieg in Gaza, von seinen sinkenden Beliebtheitswerten und den Gerichtsprozessen gegen ihn abzulenken.
Shira Efron, Leiterin der Forschungsabteilung des Israel Policy Forum
Dieses habe Netanjahu genutzt, mit der Hoffnung auf Unterstützung aus den Vereinigten Staaten. Zugleich habe der Militärschlag gegen den Iran für den Premierminister durchaus positive innenpolitische Auswirkungen.
„Der Krieg hilft Netanjahu, von der schwindenden Zustimmung in der Bevölkerung gegen den Krieg in Gaza, von seinen sinkenden Beliebtheitswerten und den Gerichtsprozessen gegen ihn abzulenken“, sagt Efron.
Unterstützung für den Krieg gegen den Iran
Im Gegensatz zu den anhaltenden Kämpfen in dem Küstenstreifen sei die Unterstützung für den Krieg gegen den Iran in der Bevölkerung groß. Sogar die Opposition stehe dahinter, sagt Efron.
Der voraussichtlich wichtigste Widersacher Netanjahus für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr, Naftali Bennett, hatte Netanjahu wiederholt vorgeworfen, nicht den Mut für einen Schlag gegen Irans Atomprogramm zu haben.
Dieser Vorwurf ist nun entkräftet, und viele Beobachter sehen den Krieg gegen den Iran als Netanjahus potenziell wichtigstes politisches Erbe, sagt Shira Efron. Ist der Premier mit seiner Kampagne erfolgreich, könnte auch das sicherheitspolitische Versagen des 7. Oktober in den Hintergrund rücken.
Wir hatten schon Schwierigkeiten, die Regierung dazu zu bringen, an die Geiseln zu denken, bevor der Krieg mit dem Iran ausbrach.
Daniel Shek, Leiter der diplomatischen Abteilung der Organisation der Geiselfamilien „Hostages and Missing Families Forum“
Für die Familien der Geiseln allerdings ist die Situation seit dem Beginn des Krieges gegen Iran noch unerträglicher geworden. „Wir hatten schon Schwierigkeiten, die Regierung dazu zu bringen, an die Geiseln zu denken, bevor der Krieg mit dem Iran ausbrach“, sagt Daniel Shek.
Der ehemalige israelische Botschafter in Frankreich leitet die diplomatische Abteilung der Organisation der Geiselfamilien „Hostages and Missing Families Forum“. Nun schenke ihnen auch die Öffentlichkeit keine Beachtung mehr.
Die Organisation habe ihre wichtigsten Werkzeuge verloren, sagt Shek. Denn die bisher mindestens wöchentlich stattfindenden Kundgebungen und Proteste sind wegen des Konflikts mit dem Regime in Teheran nicht möglich.
Die Angehörigen der Geiseln versuchen momentan, mit Online-Veranstaltungen die Freilassung ihrer Liebsten und einen Waffenstillstand mit der Hamas zu fordern.
Die Verhandlungen mit der Hamas über einen Waffenstillstand und die Freilassung der restlichen verschleppten Israelis stagnieren wegen der derzeitigen Kämpfe mit dem Iran.
„Um ehrlich zu sein, sieht es gerade nicht gut aus“, sagt Daniel Shek. Denn daran, dass die Zeit für die Geiseln auslaufe, habe sich nichts geändert.
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